ТОП просматриваемых книг сайта:
Das Multikat. Urs Rauscher
Читать онлайн.Название Das Multikat
Год выпуска 0
isbn 9783847614852
Автор произведения Urs Rauscher
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Er nennt die Raucherboxen Gaskammern. Man will sich vielleicht selbst vergiften, will aber auf keinen Fall von anderen vergiftet werden. Der Rauch der anderen ist toxisch. Passivrauchen ist der schnellste Weg ins Grab.
Gaskammer passt außerdem hierher, findet er. So könnte man die ganze nördliche saudi-arabische Halbinsel nennen. Die Gaskammer Eurasiens. Bei aller Abneigung hält er dieser Region zugute, dass hier viel Erdgas gefördert wird. Zu Gas hat er ein besonderes Verhältnis. Zuhause hat er eine Gas- und keine Ölheizung. Eine Zeitlang war er viel in Heißluftballons unterwegs, vor allem über Wüsten. Auf seinen Reisen hat er außerdem oft Gaskocher verwendet. Viele Gassorten kann er am Geruch voneinander unterscheiden.
Früher wäre er über die amerikanische Ostküste nach Hawaii gereist. Aber die Einreisebedingungen in die USA haben sich erschwert, und so reist er über Japan ein. Die Japaner und Hawaii verbindet einiges. Vor allem Flugzeuge. Mit so einem Gefährt wird er dort eintreffen. Auf Hawaii sind die Einreisebestimmungen nicht so streng. Das amerikanische Festland meidet er, seit der Doppelphallus gefallen ist. Seitdem ist alles so viel umständlicher geworden.
Hawaii ist in östlicher wie in westlicher Richtung etwa gleich weit von Europa entfernt. Also fliegt er nicht über New York und Los Angeles, sondern über Ali-Baba-Town, wie er es nennt, Singapur und Tokio. Es braucht eine Menge Sitzfleisch um diesen Marathon durchzustehen. Und jede Menge nagelneuer Filme. Eine Frau braucht er dazu nicht unbedingt. Küssen ist in der Kabine sowieso nicht gerne gesehen. Und Frauen brauchen ewig auf der Toilette.
Nicht nur am Flughafen. Auch im Flugzeug. Weswegen sich ständig Schlangen bilden. Die Idee, die Toiletten in Flugzeugen als Unisex zu deklarieren, ist die eines Schwachsinnigen. So steht er im Gang herum wie ein Depp und zieht die Blicke der Menschen auf sich, die von so viel Unbeholfenheit abgelenkt werden von ihrer öden Mattscheibe. Und man steht den Stewardessen im Weg. Die sind unendlich freundlich, können aber nicht verbergen, dass sie einen hassen. Sie hassen alle, weil sie in der Toilette so ewig brauchen. Unisex macht die Männer zu Geiseln weiblicher Gründlichkeit. Geteilter Hass ist halber Hass.
Kerstin ist zum ersten Mal dabei. Meistens ist er alleine gereist, in Ausnahmefällen mit Freunden. In keinem der beiden Fälle lässt sich die Zeit an einem Airhubs vernünftig überbrücken. Seit einem Schwätzanfall nach dem Start in Frankfurt sind die Gespräche mit ihr abgeebbt. Gerade kommt sie aus der Toilette.
„Warst du auf der Toilette?“, fragt er.
„Warst du rauchen?“, fragt sie.
„Nein.“
„Ich, ja.“
„Rauchen?“
„Nein, auf der Toilette.“
Die Sinnlosigkeit von Konversation ist hier so offenbar wie die von Existenz. An einem Emirateflughafen kann man einfach nicht existieren. Hier kann man nur transitieren. Das WLAN geht auf seinem Smartphone nicht, weil es gebührenpflichtig ist. Die gratis Internetterminals werden von Jugendlichen belagert. An den Zeitschriftenständen findet er viel auf Arabisch, viel auf Englisch. Das Englische ist alles Schrott. Auch die Literatur. Dann gibt es noch russische Zeitungen. Seit Putin in Russland an der Macht ist, reisen die Russen. Sie haben viel Geld. Allein in Moskau, so hat er gelesen, gibt es eine Million Millionäre. Nicht Rubel- sondern Dollarmillionäre!
In einem dieser Kioske mit Knabberzeug, Zeitschriften und Ramsch hat er eine Matroschka gesehen. Dieses russische Bauersweib aus Holz, in dem sich ein weiteres und noch ein weiteres befindet, eines kleiner als das andere. In einem Feuilletonartikel seiner Tageszeitung stand, dass Zar Nikolaus, der letzte der Zaren, sich von einem Matroschkamanufakteur persönlich eine Matroschka in Lebensgröße bauen ließ. Nicht mal die Zarenfamilie wusste davon! Die Matroschka war so gebaut, dass sich das kleinste Innenstück bei Herausnahme von alleine aufblies, so dass es schließlich größer war als das Außenstück. Erst nach der Hinrichtung der Zarenfamilie durch die Rote Armee fand man die seltsame Matroschka in einem Geheimraum des Palastes. Der Manufakteur, der viel Geld für sein Werk eingestrichen hatte und dessen Signatur man an der Unterseite fand, wurde zu dreißig Jahren Gulag verurteilt.
Mark Stallmeister hingegen wurde von seiner Freundin zu einem Surfkurs verurteilt. In all den Jahren an all den Stränden der Welt hat er sich immer dagegen gesträubt, wie diese durchtrainierten ewigen Adoleszenten auf einem Brett über das Wasser geschleudert zu werden. In diesem Urlaub jedoch ist Surfen unausweichlich. Es ist ein Surfurlaub.
Natürlich hat sie einen Trick angewandt. Sie hat ihm nicht etwa einen Gutschein oder ein Kursticket geschenkt, sondern sich von ihm einen Kurs zum Geburtstag gewünscht. Geschenke kann man noch ausschlagen, Geschenkwünsche jedoch nicht. Schweren Herzens hat er sich nach einem günstigen Kurs umgesehen. Auf all seinen Reisen hat ihn die Surfwut auf Hawaii am meisten beeindruckt. Sie war dort größer als in Kalifornien oder Australien. Hawaii schien der Ursprungsort des Surfens zu sein, die Geburtsstätte dieser dummen Sportart. Kerstin hat darauf bestanden, dass er bei dem Kurs mitmacht. Also hat er zwei Tickets erworben, im Internet. Gerne hätte er die Tickets vor Ort gekauft, weil sie dort, wie er glaubt, billiger sind, da es nicht so viele Provisionsjäger zwischen ihm und der Surfschule gibt. Aber da es ein Geschenk zu Weihnachten war, musste er natürlich schon vorher liefern. Er hat das Ticket fein säuberlich ausgedruckt und unter den Weihnachtsbaum gelegt.
Obwohl man ihn sicher nicht als unsportlich bezeichnen kann und er nie dick war, hat er nie viel Sport betrieben. Es hat ihn einfach nicht gereizt, sich viel zu bewegen. Oder besser: Sich viel schnell zu bewegen. Denn Wanderungen, Bergbesteigungen oder längere Fahrradtouren hat er unzählige Male hinter sich gebracht. Nur zu jeglicher Hektik fehlt ihm das Gemüt. Das heißt, Fußball, Wasserball, Cricket, Baseball und Kayakfahren kommen für ihn nicht in Frage. Diese Sportarten aber sind es, die Traveller gewöhnlich betreiben, abhängig von dem Land, in welchem sie reisen. Sie passen sich in allem dem Land an: Dem Essen, dem Wohnen und auch dem Sport. Traveller sind sportlich. Er selbst ist kein Traveller mehr, aber auch damals, als das viele Reisen ihn dazu ermächtigte, sich so zu nennen, entbehrte er diese Eigenschaft. Er gab einen unvollkommenen Traveller ab.
Er war sich dessen immer bewusst und hat diesen Makel nicht verhehlt. Diese Unlust ist auf viel Unverständnis gestoßen. Denn beim Traveln macht man eben genau das nicht, was man macht, wenn man zuhause ist: Vor einem Computer sitzen. Viele junge Menschen sehen im Sport die einzige Alternative zum Aufenthalt vor dem Monitor. Da solche Geräte in vielen armen Ländern nicht oder nur eingeschränkt zur Verfügung stehen und auch Fernseher mit den neuesten Filmen nicht überall zur Hand sind, vergnügen sich die Backpacker und Traveller eben mit dem, was dem Menschen zur Verfügung steht, wenn er sich außerhalb der Zivilisation befindet: Sein Körper. In gewisser Weise gleicht eine Reise in ein Land der Dritten Welt einer Zeitreise in die Steinzeit.
Für ihn war es immer eine Zeitreise in die frühe Neuzeit. Denn statt Sport oder Internet hat er sich dem zugewandt, was in der Entwicklungsgeschichte der Menschen irgendwo dazwischen anzusiedeln ist: Dem Buch. Er hat immer viel gelesen, aber auf Reisen wurde es stets noch mehr als sonst. Andere Reisende seiner Generation lasen auch viel, und so konnte er munter Bücher tauschen, wenn er mit seinen fertig war. Oder klauen.
Was ihm nun bevorsteht, ist jedoch tiefste Prähistorie. Er wird auf einem einfachen Brett aufs Meer hinauspaddeln und dabei die Götter anflehen, dass er nicht von den Fluten verschluckt wird. Er sieht sich schon den Lendenschurz anziehen und seinen Einbaum ins Wasser schieben. Einteilige Boote, wie sie Surfbretter darstellen, sind entwicklungstechnisch älter als die Steinaxt. Die besteht immerhin schon aus zwei Teilen. Landtiere treiben nach einem Sturm auf ihrem Eiland notgedrungen auf Baumstämmen über den Ozean. Wie in aller Welt sind Menschen unserer Zeit darauf gekommen, es ihnen nachzutun? Hatte man die Eingeborenen, die noch in ausgehöhlten Baumstämmen unterwegs waren, nicht rechtzeitig ausgerottet, bevor ihr Beispiel einen auf dumme Ideen brachte?
„Es geht weiter“, sagt Kerstin und gibt ihm einen Klaps auf den Arm. Sie stehen im Sicherheitscheck vor dem Weiterflug und er hat den Anschluss an die Warteschlange verpasst, weil er einer zwanzigjährigen Frau hinterher geguckt hat, die äußerst attraktiv war. Er hofft, dass seine Freundin es nicht bemerkt hat.
Diese