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Das Erbe. Helmut H. Schulz
Читать онлайн.Название Das Erbe
Год выпуска 0
isbn 9783847660040
Автор произведения Helmut H. Schulz
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Mann, nimm doch nicht alles so schwer. Ich fühle mich rundherum wohl, sag ich dir. Wir sind noch jung, das Leben liegt vor uns. Wenn du fertig bist, gehst du in ein Institut, es wird sich schon was finden. Ich? Für mich ist auch gesorgt.
Sie heiraten.
Die Familien befreunden sich, die Väter besorgen eine Neubauwohnung und lassen die Kinder wählen, einen Trabant oder …; da gibt es kein Oder. Kisko macht Diplom, geht aber an kein Institut, sondern zum Kraftwerkbau. Er will etwas leisten.
Koblenz: Schön, etwas leisten, ich nehme mit Kußhand, wer etwas leisten will. Lieber ist mir einer, der etwas leisten kann. Ich mache dir nichts vor, wir haben ein heikles Projekt übernommen, im RGW-Rahmen, das sind natürlich tastende erste Schritte. Es gibt überall traditionell bestimmte Methoden, ich rechne sogar mit einer freundschaftlichen Rivalität. Da kommen also die Polen, gute Schornstein- und Kühlturmbauer, da ist Moskabel mit seinen Hochleistungskabeln, die Turbinen kommen aus Leningrad, aus Ungarn die Elektrofilter. Alles zusammen ergibt ein paar Dutzend Leiter mit ihren Stäben, mit genauen, national geprägten Vorstellungen. Wir sind Teilauftragnehmer vom Kraftwerkbau, bis jetzt kenn nicht mal ich mich in diesem Leitungswirrwarr aus. Es wäre mir lieber, du würdest hier im Stammbetrieb bleiben. Ich spreche aus Erfahrung.
Kisko will etwas leisten.
Mach es dir nicht zu schwer. Spätestens nach einem Vierteljahr rasseln wir zusammen, mit der Gewißheit, wie sich zwei Magneten anziehen, wie rotierende Kreissägen, die aufeinander zufahren. Mir nutzen deine vielen Empfehlungsschreiben nichts, und dir nutzen sie noch weniger. Jeder gewiefte Maurer steckt dich in den Sack. Arbeiterklasse aus der Nähe betrachtet ist anders, als du denkst. Wenn du das Gefühl hast, du müßtest dir die Sporen verdienen, gut, aber nicht hier, nicht auf dieser Baustelle.
Ich möchte es versuchen, Genosse Doktor Koblenz. Jedenfalls werde ich mein Bestes geben.
Junger Mann, Bilderbuchkarrieren sind gut für die Zeitung, Geschrei, keine Wolle. - Du hast noch keine Biografie, das ist es.
Drittes Kapitel
1
Hochsommer, beinahe schon Sommerausklang und ein Datum für den alten Herrn, eines seiner Berufsjubiläen. Die häufen sich in seinen Jahren. Architekt Schelsky hat ihn abgeholt zu einer Fahrt nach Mahlsdorf. Dort erwarten ihn der Enkel und dessen neue Freundin. Elfie, die mit sollte, hat abgelehnt. Einen Anzug mit Weste trägt der alte Herr und eine bunte Schleife, aber keine Kopfbedeckung. Viel Post ist nicht gekommen, Glückwunschschreiben und Telegramme; sogar ein Architektenbund erinnerte sich seiner, das meiste kam aus dem Ausland.
Der alte Herr Pilgramer sitzt neben dem Architekten Schelsky, sieht durch die Frontscheibe, beobachtet den flutenden Verkehr in der Karl-Marx-Allee, fingert hin und wieder nach dem Zigarrenetui, sich vergewissernd, daß es noch da ist.
Er vergißt jetzt so leicht, vergißt solche Kleinigkeiten, dafür stehen ihm überdeutlich die Bilder seiner Vergangenheit vor Augen. Mitunter übertreibt er seine Vergeßlichkeit. Jetzt zum Beispiel versucht er zu berechnen, wie oft er diese Straße hinauf- und hinuntergefahren ist; wie oft bot die große Allee ein anderes Bild.
Schelskys Wagen rollt über die Kreuzung Frankfurter Tor; auf der linken Seite, alleenah, standen die Häuser, die Pilgramer vor grauen Zeiten erbaute. Damals war er als Bauunternehmer pleite, als Bauleiter bekam er Gehalt. Er wohnte, bevor die Häuser fertiggestellt waren, mit Luise in Alt-Stralau, einer fast ländlichen Gegend zu jener Zeit, und die Zentrale lag noch in der Oranienburger, was heißt Zentrale, man wickelte alles Geschäftliche so nebenher ab. Und stolz war er auf seine Organisationsgabe, das Telefon auf der Baustelle, eine Neuerung, die Bürohilfe auf der Baustelle, auch eine Neuerung. Er glaubte an den technischen Fortschritt, glaubte überhaupt noch an Wunder.
«Hat sich viel verändert», sagt Schelsky, die Kreuzung Möllendorfstraße passierend.
«Wissen Sie, Schelsky», der alte Herr deutet mit der knochigen Hand aus dem Fenster, «ich denke oft, wir sind alle einem ungeheuren Irrtum aufgesessen. Fortschritt in Technik, in Wissenschaft, in Medizin, in Politik, schön, aber wir verknüpfen mit jeder Erfindung oder Entdeckung sofort die Vorstellung von einer besseren Welt gegenüber der Vergangenheit. Ich sage Ihnen, das ist der reinste Unsinn. Diesem Fortschritt steht ein rapider moralischer Abbau gegenüber. Sittlich ist die Menschheit keinen Schritt vorangekommen. Und die bekannte Formel, die Lenin aufgestellt hat, wonach technische Entwicklung und Sozialismus zusammen die neue schöne Welt ergeben sollen, wird euch noch manche Nuß zu knacken geben. Wir haben ja gesehen, wohin technischer Fortschritt führen kann. Sagen Sie jetzt nicht; da hat auch der Sozialismus gefehlt.» Nach einer Pause: «Wir hoch entwickelten Säuger arbeiten weiter rasend an unserem Untergang, glauben Sie mir.»
Schelsky schweigt.
Der will jetzt nicht zugeben, sagt sich der alte Herr, daß er auch seinem Traum von ganz neuen, ungeahnten Möglichkeiten nachhängt, vielleicht der schwebenden Stadt. - Während der Bauzeit, entsinnt sich der alte Herr, kam Straßburger heraus und entwarf die technische Zukunft, binnen eines Jahrzehnts fahre man mit der Elektrischen kreuz und quer durch Berlin. Das Auto entwickele sich schnell, brauche große breite Bahnen. - Immer ging etwas Schläfriges von Straßburger aus, aber er, Pilgramer, kannte ihn ganz gut. Hinter der Schläfrigkeit steckte eine kaltblütige Logik, steckte der unerbittliche Rechner.
Pilgramer umschrieb damals seine Angst und seinen Vorwurf mit einer Floskel, wenn irgendwas passiere, dann sei er geliefert. Er sagte nicht, was er dachte, nie sagte er, was er dachte. Damals dachte er, der hat mich bis aufs Hemd ausgeplündert. Straßburger meinte wohl, er solle sich keine Gedanken machen, vor vierzig Jahren habe Berlin eine halbe Million Einwohner gehabt, jetzt zwei Millionen, die müßten wohnen. Der junge Baumeister Pilgramer werde ihm, Straßburger, noch einmal danken.
Danken wofür? Der Bauleiter stand früh um vier auf, um sechs war er auf der Baustelle, um siebzehn, manchmal um achtzehn Uhr verließ er sie wieder, er kontrollierte, unterschrieb Rechnungen, machte Stichproben, alle Augenblicke geschah etwas Neues.
In Alt-Stralau besaßen sie ein kleines Haus, nicht sehr gut, nicht schön, nicht wohnlich, und der kleine Fred war gerade geboren. Sie lebten ganz für sich, ohne Hilfe durch Freunde, kämpften verzweifelt ums Überleben. Rasch war die Mitgift verbraucht.
Hier wohne er also, hatte Straßburger gesagt und verlangt, mit der jungen Frau Pilgramer, Luise, bekannt gemacht zu werden.
Pilgramer, jetzt neben Schelsky, denkt, Luise war nichts zum Vorzeigen, ein schüchternes Provinzding, das etwas kochen konnte, etwas nähen, etwas Klavier spielen, das ein paar Bücher gelesen hatte und gelernt, sich unterzuordnen. Ohne Mitgift wäre Luise einfach sitzen geblieben.
«Ihre Baustellen sahen jedenfalls anders aus», bemerkt Schelsky.
«Es wimmelte von Menschen», bestätigt der alte Herr. «Heute genügen drei, vier Mann.» Er beugt sich hinüber zu Schelsky: «Aber sehen Sie, Sie bauen teurer, und Sie bauen nicht schneller: Nicht einmal schöner bauen Sie, wenn man das Zeitgefühl mit in Betracht zieht. Unsere Zeitgenossen staunten damals so, wie Ihre Zeitgenossen heute staunen.» Pilgramer fühlt sich nicht verpflichtet, alle seine Gedanken preiszugeben, Wohnmaschine bleibt Wohnmaschine. «Hätten Sie noch eine industrielle Reserve, brauchten Sie keine so hohen Investitionen. Ich weiß, industrielle Reserve bedeutet Elend, auch nur ein relativer Begriff. Um zu leben, brauchen wir nicht viel.»
Pilgramer könnte noch hinzufügen, er habe schließlich um das nackte Leben gekämpft, aber was wissen die heute davon? Straßburger riet, halten Sie durch, junger Baumeister, halten Sie auf eine anständige Art und Weise durch. Straßburger hatte es geschafft, der saß in seiner Villa in Friedrichshagen, ungefähr dort, wo die alte Spree in den Müggelsee mündet. Dort wohnte Straßburger jetzt, mit Frau und Sohn, einer Rachel oder Rahel, Sohn, Privatdozent für alte Sprachen, aufgeschossen, mit krummem Studierrücken. Und doch, fällt dem alten Herrn ein, war es ein Anfang. Straßburger spielte ihm Aufträge zu, Fassaden. Kolossale Jungfern trugen