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wir unsere Sorgen mit Mendelssohn vertreiben?“ Sie machte sein Problem zum Allgemeingut, das gefiel Martin. Er nickte, und Lisa hüpfte schnell zum Flügel, klappte den Deckel auf, strich mit kindlicher Leichtigkeit über die Tasten, so dass Margarete ein wenig erschrak: „Seid leise,“ mahnte sie immer wieder, „der Müller ist noch im Huas, der darf euch nicht hören.“ Sie bat sie die Kinder in das Esszimmer und servierte die Mahlzeit. Schweigend saßen alle zusammen und lauschten auf das Geschrei von nebenan. Erst als Ernst Müller das Haus verließ, verhallte der schmerzhafte Lärm langsam im Treppenhaus. Martin wollte jetzt nicht mehr an seine drohende Einberufung denken, lieber die Mutter beruhigen, der es anscheinend mit dieser Nachricht, dass er in wenigen Wochen an die Front nach Russland sollte, nicht gut ging. Sie strich sich immer wieder über den Bauch, wie ein Kind, das sich Süßes erbettelt. Martin neckte Lisa, umarmte sie und küsste seine Mutter auf die Wange: „Wird wohl alles nur halb so schlimm, in wenigen Monaten ist der Spuk hoffentlich vorbei.“ Ein Wagen fuhr lärmend vor das Haus. Schnell liefen sie zum Fenster um nachzuschauen, blieben aber schützend hinter der Gardine stehen. Draußen hielt ein Mannschaftswagen, von dem eine Rotte uniformierter Männer sprang, dann in das Haus stürmte, wie eine Flut, die sich nicht aufhalten lässt. Es folgten Poltern und Türenschlagen, bis im ersten Stock an der Tür von Sterns mit Gewehrkolben gehämmert wurde. Margarete ahnte, was jetzt geschehen würde. Sie umschlang schützend Lisa und drückte das zitternde Kind an sich. Das Mädchen blieb stumm, gab keinen Laut von sich. Lisa fragte nicht, hielt sich die Ohren zu, während sie in den üppigen Falten des langen Rockes von Margarete Groothe Schutz suchte. Margaretes Gedanken überschlugen sich, was sollte sie mit dem Kind, es einfach behalten? Sie kannte das Mädchen seit ihrer Geburt, war ihr immer gut. Verstecken, schoss es ihr durch den Kopf. Aber, was wäre, wenn man auch an ihrer Tür rütteln würde, und schreiend die Herausgabe des Kindes fordert? Sie beherbergte ein jüdisches Mädchen. Ihr war bewusst, dass sie mit in einem sinkenden Boot saß. Martin stand farblos und angespannt lauschend neben seiner Mutter und Lisa. Alle drei hörten das Schlagen der oberen Tür, litten Höllenqualen, als Sterns an ihrer Tür vorbeigetrieben wurden. Margarete lief zum Fenster. Sah, wie ihre Nachbarn zu anderen Juden auf den Wagen verladen wurden. Lisa erwachte bei diesem Anblick aus ihrer Starre, riss sich aus Margaretes schützenden Falten, lief zur Tür und erreichte gerade noch den Wagen. Martin und Margarete hörten durch das geschlossene Fenster das hämische Gelächter der Schergen: „Na, was haben wir da für ein Prachtstück, wäre schade gewesen, es zu übersehen.“ Dann warfen sie Lisa achtlos auf den Wagen. Margarete und Martin wagten es nicht, sich am Fenster zu zeigen, um Sterns nachzuwinken.

      Beide blieben versteinert hinter der Tüllgardine stehen, nur einen Hauch von der brutalen Wirklichkeit getrennt. Lisa hatte sie geschützt, lief erst weg, als Groothes nicht mehr in Gefahr waren. Sie verdankten einem elfjährigen Mädchen ihr Leben. Als der Wagen sich entfernte, hob Martin kraftlos einen Arm, als wolle er ihnen winken: „Adieu, kleine Lisa,“ sagte er. Dann weinte er hemmungslos. Seit diesem Tag trug er ihr Bild in seiner Brusttasche, auch in russischen Schützengräben, bis ihn im März 1945 eine Granate wehruntauglich verletzte. Er konnte es kaum glauben, als der Stabsarzt ihm diesen Rat gab: „Groothe, sehen Sie es als Heimatschuss, einen Arm zu verlieren ist besser, als das ganze Leben. Machen Sie, dass sie nach Hause kommen, wir kommen hier alle nicht mehr lebend raus.“ Martin brach von Minsk auf, durch die vereiste Landschaft, vorbei an erstarrten Leichen, brennenden Gehöften und brüllendem Vieh, das von keiner Menschenseele mehr versorgt wurde. Manchmal hatte jemand stummes Erbarmen mit ihm und ließ ihn eine kurze Strecke auf einem Leiterwagen aufsitzen. Als Mitläufer in Flüchtlingstrecks, auf Pferdewagen und Panzern schlug er sich bis zum Haff durch. Er war etwa vier Wochen unterwegs, bis er endlich in Greifswald bei seinen aus Stettin geflohenen Eltern ankam.

      Groothes hörten nie wieder etwas von Sterns. Es hieß, sie seien nach Auschwitz transportiert und ermordet worden. Nur Lisas Bild überdauerte auf Martin Groothes Nachttisch die Zeit.

      Emmas Erlösung

      Eines Tages kehrte Willi Schielke nach einer Schicht nicht mehr in das Dorf zu Frau und Kind zurück. Emma rang dankbar die Hände zum Himmel, für sie hatte sich mit seinem Fernbleiben der Umzug in die Stadt erledigt. Sollte Willi doch glücklich werden! Wie ein Lauffeuer sprach sich diese Neuigkeit herum. Irmi handelte, und genehmigte Emma eine kleine Wohnung im ehemaligen Gutshaus. Diese Nachricht glich einem Festtag. Endlich raus aus der baufälligen Baracke. Auch bekam sie die Poststelle im Herrenhaus als Arbeitsplatz, nah bei Irmi. Ein verschollenes Gefühl der Zufriedenheit befiel Emma. Trotzdem putzte sie weiter in der Schule und Groothes Zimmer. Nach einem Jahr fragte sich nicht nur Irmi, warum Emma nicht endlich den Lehrer heiratete. Im Dorf wurde schon lange getuschelt, erst recht, als man ihn immer öfter mit Hansi an der Hand spazieren gehen sah. Trotz seiner Kriegsversehrtheit war Groothe ein gut aussehender Mann. Wohl etwas schmächtig, was er von seiner Mutter geerbt hatte. Aber bei dem Männermangel, den der Krieg verursachte, hatte er durchaus die Wahl.

      Das wiederentdeckte Klavier

      Seit diesem Tag, an dem Martin Groothe einen Klavierstimmer aus dem Nachbarort bestellt hatte, begann er den Unterricht jeden Morgen mit einer kleinen, einhändig gespielten Melodie.

      Jahrelang hatte er das Instrument nicht geöffnet, als fürchtete er, eine Berührung könnte etwas Schreckliches in ihm auslösen. Bis zu diesem Tag, als Hansi versuchte, dem Flügel Töne zu entlocken. Groothe machte einen Satz auf das Kind zu, wollte ihn am Kragen packen und fortziehen. Dabei entdeckte er in Hansis Gesicht etwas Entrücktes, etwas, was ihn schmerzhaft an Lisa erinnerte.

      Er handelte instinktiv, setzte sich zu seinem Schüler, sprach beruhigend auf ihn ein, und begann ihn zu unterrichten. Hansi erwies sich schnell als fleißig, blühte geradezu auf, und spielte nach einem Jahr kleine Sonaten. Er schien ein Besessener zu sein, was selbst Groothe in Erstaunen versetzte. Denn Hansi erfuhr Beachtung, die er in dieser Form in seinem jungen Dasein noch nie erfahren hatte, auch nicht von seiner Mutter. Emma hatte versucht, ihn vor den Übergriffen seines Vaters zu schützen, aber nicht wirklich an ihn geglaubt. Ihre Seufzer, was wohl einmal aus ihm werden solle, hatten sich tief in sein Herz gefressen. Das Klavier war seine Rettung. Er lockte die Töne, er spielte mit ihnen, er jagte seine kleinen Finger über die Tasten, als ob er endlich das Glück fangen wollte, das ihm bisher von den Menschen verwehrt geblieben war. Auch Groothes Gemütslage veränderte sich. Durch das Musizieren mit dem Kind schien er ein neues Leben zu führen. Die Schwermut, die ihn jahrelang bedrückt hatte, wich der Begeisterung über die Begabung seines Schützlings, gleichzeitig wurde er aufmerksamer zu Emma. Es gab Momente, wenn sie nachts neben ihm lag, da glaubte sie, jetzt wäre er endlich so weit, ihr einen Antrag zu machen. Dann aber löste er sich aus der Umarmung, lächelte, als ob er sie noch um Zeit bitten würde. In Emmas Leben hatte es nicht viele gute Momente gegeben, deshalb wartete sie geduldig.

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