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Russen ihr Kochgeschirr darauf abgestellt hatten, damals in der zweiten Hälfte des Jahres 1945, während Soldaten bei Hermann und Margarete Groothe in Greifswald einquartiert waren. Und Emma putzte geradezu beschwörend, immer in der Hoffnung, dass der Lehrer doch noch etwas aus ihrem Sohn machen würde.

      Emma

      Erst als Irmi sich langsam über die Dorfstrasse entfernt hatte, dämmerte es Emma, dass sie mit dem Umzug in die Stadt, auch die Nähe zu Groothe verlieren würde und Hansi seinen geliebten Lehrer.

      Sie mochte Groothes Nähe. Er schien so anders als Willi, der oft übellaunig und grob zu ihr und dem Kind war. Der zu laut lachte, als ob er darauf bestehen würde, gehört zu werden. Groothe dagegen wurde nie laut, vielleicht fürchtete er sich, als Krüppel von den Menschen nicht ernst genommen zu werden? Der Schmerz, den Emma bei diesem Gedanken empfand, war ungewohnt und fremd für sie. Etwas zog an ihr, dass sie nicht einordnen konnte und das sie unsicher machte. Um sich abzulenken, lief sie zum Schulhaus, um in Groothes Privaträumen zu putzen. Jedes Kleidungsstück von ihm nahm sie in ihre Hände, roch daran, wie etwas, dessen Spur man aufnehmen und nicht mehr verlieren möchte. Bis zu diesem Moment war ihr nicht bewusst gewesen, wie sehr sie ihn mochte. Durch dieses Begreifen verging ihr augenblicklich die Freude über den Umzug in die Stadt, und sie fragte sich, würde ich nicht weiterhin jeden Morgen um vier Uhr meinen Mann wecken und seine Brote bereiten wollen, um ihn dann mit einer flüchtigen Umarmung in den Morgen hinauszuschicken? Nun erst wurde ihr klar, dass sie schon lange nicht mehr auf ihn wartete. Irgendwann war Willi am Abend wieder da, wenn sein Fahrrad auf dem Hof stand, und er laut sein Essen einforderte. Oder er kam erst in der Nacht. Auf Emmas Nachfragen antwortete er, wenn überhaupt, dann übellaunig, das es eine Doppelschicht gab. Jetzt fühlte sich Emma hilflos und überfordert. Was sollte sie mit dieser Genehmigung anfangen? Willi hatte den Antrag gestellt, und Emma konnte das Stück Papier nicht spurlos verschwinden lassen. Aber es gab einen Lichtblick. Diese Bewilligung bedeutete nicht, dass sie sofort Wohnraum in der Stadt bekämen, nur weil ihr Name auf der Warteliste stand. Jeder wusste, das konnte dauern, ein bis zwei Jahre, so hoffte sie. Emma fühlte sich bei diesem Gedanken erleichtert. Wer weiß, was dann sein würde. Obwohl sie erst letzte Woche Groothes Bettwäsche gewechselt hatte, tat sie es heute erneut.

      Dabei hielt sie dieses Bild, das auf Groothes Nachttisch stand, in ihren Händen. Es zeigte ein kleines Mädchen, das schüchtern, mit im Schoss verschränkten Händen, vor einem blühenden Strauch stand. Noch während sie das Glas abwischte, schien das Mädchen zu lächeln. Emma hatte es noch nicht gewagt, Groothe zu fragen, ob das Kind vielleicht seine Tochter ist. Instinktiv spürte sie, dass dieses Mädchen eine wichtige Rolle in seinem Leben einnahm, sonst hätte er das Bild nicht so nah bei sich.

      Leben in Stettin

      Martin Groothe war ein spät geborenes Kind. Er meldete sich an, als seine Mutter, Margarete, mitten im Klimakterium, die Hoffnung auf ein eigenes Kind bereits aufgegeben hatte. Margaretes Äußeres war zierlich und unauffällig. Da sie in letzter Zeit oft kränkelte, erschien sie an manchen Tagen geradezu gebrechlich zu sein. Martin kümmerte sich, liebte sie, immer mit der Angst m Herzen, seine Mutter bald zu verlieren. Margarete empfand diese späte Liebe, die ihr durch den Sohn zuteilwurde, dankbar als Geschenk. Martins Vater Hermann Groothe, hatte ohne Leidenschaft, bereits vor dem Ersten Weltkrieg, eine Uniformschneiderei in Stettins bester Geschäftslage, in der Breiten Straße, übernommen.

      Sein Wohlstand erlaubte es, eine komfortable Wohnung für seine Familie zu mieten, was er bei passender Gelegenheit gern erwähnte. Wenn man ihm zuhörte, entstand der Eindruck, dass er sich selbst vergessen hatte, in einer längst vergangenen Kaiserzeit. Er war ein Gestriger, dem das Laute des Nationalsozialismus zu denken gab. Groothes bewohnten die linke Wohnung einer mit floralem Gips-Muster verzierten Jugendstilvilla im Erdgeschoss. Deren Eingangstür schmückten bunte Glasfenster. Ihnen gegenüber Blockwart Ernst Müller, der seine braune Uniform nicht einmal am Sonntag ablegte, und täglich „Heil Hitler“ durch das Treppenhaus brüllte. Über Groothes wohnte die jüdische Familie Stern, ihnen gegenüber ein verbeamteter Junggeselle, Herr Hansen, der seine besten Jahre bereits hinter sich hatte.

      Ein Übriggebliebener, wie seine Mutter stets betonte, wenn sie ihn besuchen kam, um nach dem Rechten zu sehen. Das hieß für sie, auf Spurensuche zu gehen, ob sich eine Frau in seiner Wohnung aufgehalten hatte. Sie scheute auch nicht davor zurück, sein Bett zu kontrollieren, um anschließend bei Margarete nachzufragen, ob ihr Sohn Damenbesuch empfangen hatte. Mit Missmut stellte sie fest, dass er sich nicht einmal mehr die Mühe machte, die ausgetrunkenen Weinflaschen vor ihr zu verstecken. Enttäuscht verließ sie jedes Mal das Haus. Nach diesen Besuchen befiel Margarete ein wenig die Angst, dass Martin eines Tages auch allein bleiben könnte, weil sie ihn zu stark an sich gebunden hatte. Samuel Stern unterrichtete bis 1935 als Musiklehrer am König- Wilhelm- Gymnasium. Das Entfernen aus dem Schuldienst und das Tragen des Judensterns brandmarkten ihn täglich. Seit dieser Zeit fragten sich Groothes oft, wovon die Sterns jetzt wohl leben. Man sah die jüdische Familie kaum noch. Nur manchmal hörten Groothes, dass jemand durch das Haus huschte. So leise, als sei es eine falsche Wahrnehmung. Für Stern war es in dieser Zeit ein Segen, dass Margaretes Tun von Warmherzigkeit bestimmt wurde. Vorsichtig versuchte sie manchmal, deren Not zu lindern. Da ihr das Geräusch der knarrenden Bretter über ihr vertraut war, wusste sie, gleich würden Sterns an ihrer Tür vorbeigehen. Leise, sorgsam darauf achtend, dass Ernst Müller nicht im Haus war, öffnete sie dann die Tür einen Spalt breit, zog die fast Unsichtbaren in die Wohnstube und gab ihnen zu essen. Deren Tochter Lisa, war 1941 erst elf Jahre alt, hatte aber längst die Regeln des sich Versteckens als überlebenswichtig verinnerlicht.

      Da ihre Leidenschaft das Klavierspiel war, hatte der Großvater seiner Enkelin den Familienflügel, ein kostbares Instrument der Firma Blüthner, aus dem Jahre 1912, geschenkt. Aber seit Sterns aus der Gesellschaft gefallen waren, traute Lisa sich kaum noch zu üben. Oft genug geschah es, dass Ernst Müller an ihre Tür schlug und schrie: „Ruhe, ihr Judenpack.“ Nachdem Samuel Stern das Instrument Groothes als Geschenk angeboten hatte, kaufte Hermann Groothe den Flügel für Martin. Stern war es wichtig, das Erbstück in guten Händen zu wissen: „Wer weiß, was mit uns geschehen wird“, seufzte er. Hermann Groothe hätte dieses wertvolle Instrument nicht geschenkt annehmen können. Es widerstrebte ihm, in der Schuld eines anderen zu stehen. Er ging an den kunstvoll verzierten Herrensekretär, öffnete ein Geheimfach, nahm ein Bündel Geld heraus und gab es Samuel Stern: „Sie werden es gut gebrauchen können. Nun, da Sie nicht mehr arbeiten dürfen. Vielleicht reicht es für eine Auswanderung.“ Samuel Stern hob nur kurz seine Schultern, ließ sie kraftlos sinken: „Wer weiß das schon“. War seine Antwort. Hermann Groothe schwieg betroffen. Er ahnte längst, dass Juden in diesem Land keine Chance mehr hatten. Das Mädchen Lisa spielte gelegentlich mit Martin vierhändig. Es war eine der wenigen Freuden, die sie in ihrem abgeschiedenen Leben wahrnehmen konnte. Martin war 1941 achtzehn Jahre alt, und Lisa vergötterte ihn mit kindlicher Schwärmerei. Manchmal bat sie ihn, dass er auf sie warten solle, bis sie erwachsen sei. Nach Lisas Vorstellung würden beide heiraten, viele Kinder bekommen und gemeinsam Konzerte geben. Immer setzte sie sein Einverständnis voraus, schließlich übte er Klavier mit ihr. Mehr Beweise brauchte das Mädchen in ihrem kindlichen Sein nicht. Es kam der Tag der alles verändern sollte. Gewittrige Luft machte Margaretes Kreislauf seit den Morgenstunden zu schaffen, sie fühlte sich mal wieder zum Sterben zu elend. Ernst Müller hatte nebenan eine lautstarke Auseinandersetzung mit seiner Frau, während Lisa wie ein Schatten durch das Haus huschte, und den Streit der Müllers nutzte, um zaghaft bei Groothes zu klopfen. Als Margarete die Tür öffnete, wischte sie sich verschämt mit einem kostbar umhäkelten Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Es genierte sie, dass jemand Zeuge ihrer Schwäche wurde.

      Auch Martin schien einen schlechten Tag zu haben. Er kam bedrückt aus der Schule. Heute hatte er erfahren, dass die Schüler die Reife- Prüfung vorziehen müssen. Ein Notabitur, damit die Jungs schneller an die Front geschickt werden konnten.

      Für Martin aber barg, trotz des väterlichen Uniformgeschäftes, jede Form von Krieg etwas Verachtendes, Vernichtendes für Mensch und Kultur, in sich. Zuhause angekommen, warf er die Schultasche zu laut auf den Stuhl, wie Magarete fand.

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