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Uhr 56. Ich habe gerade einen weiteren Strich an die Wand gemalt und Schmidt blättert im Handelsblatt. Jede Abteilung muss die Zeitung durchsehen und dann weiterreichen. Die FAZ und das Handelsblatt gebe ich sofort an Schmidt weiter. Er macht ein Häkchen für unsere Abteilung und bringt die Blätter zu Frau Marion. Das ist der Höhepunkt. Endlich darf er ins Nebenzimmer. Endlich weg vom Computer.

      „Hier, Frau Marion. Das sind die Zeitungen. Also, das hier ist die FAZ. Und dahinter, da haben Sie das Handelsblatt. Soll ich sie Ihnen aufschlagen? In der FAZ steht etwas über unser Tochterunternehmen. Ich hab es mit Bleistift vorsichtig eingekreist. Vielleicht schauen Sie es sich an und entscheiden, ob es die Presseabteilung kopieren soll. Ja, und sonst? Ich hätte noch die Bild da. Wenn Sie mal reinschauen wollen. Haben Sie gestern Abend Pro Sieben gesehen? Hahaha. Nichts für ungut. Bis morgen. Dann bringe ich Ihnen wieder das Handelsblatt und die FAZ. Schönen guten Tag auch. Wollen Sie ficken? Nein? Gut, dann gehe ich wieder nach nebenan. Zu dem Schwulen. Adieu.“

      Schmidt sitzt wieder vor seinem Computer.

      Ich gehe seelenruhig die Post durch. Nur Mist. Kein einziger vernünftiger Brief. Buchstaben, Buchstaben, Buchstaben. Aneinandergereiht ohne Sinn und Verstand. Dienstags habe ich meinen Sozialen und mache die Briefe auf. Sehr geehrte Damen und Herren. Lieber Herr Steinhoff. Hallo Herr Schmidt. Sehr verehrter Herr Abteilungsleiter. Ich gähne, schüttele mich und werfe den ganzen Unsinn in einen bunten Ablagekorb. Das bedruckte Papier soll sich noch ein wenig ausruhen dürfen. Mittwochs stecke ich es direkt in den Aktenvernichter, der es in kurze Stücke raspelt. Seit drei Monaten geht das schon so. Anfangs dachte ich, man könnte mein Tun jeden Moment entdecken und mich vor die Tür setzen. Was für ein Quatsch. Es ist genau anders. Je weniger du tust, je destruktiver und fauler du dasitzt, desto länger kannst du bleiben. Seit ich das eingesehen habe, arbeite ich an der Vernichtung der gesamten Abteilung. Die anderen glauben noch an Schnelligkeit und Effizienz und hasten wie überdrehte Spielfiguren über die mit Evianflecken zugesauten Teppichböden. Ich nicht. Warum sollte ich? Das mit der Hektik wird sich auswachsen. Die Aufsteigergeschichten aus den Garagen hängen bereits allen zum Hals raus. Noch meinen die Schnellen, sie säßen am Hebel. Statt zu den Brüdern und Schwestern im Osten zu reisen, wo man schon am Bahnhof lernen kann, dass Eile nichts, aber auch gar nichts vermag, blättern die Jungmanager lieber in den Biographien der Emporkömmlinge aus der IT-Branche. Ich sehe meine eigentliche Aufgabe darin, diese fürchterliche Unfugfabrik möglichst schnell in den Ruin zu treiben. Bereits am frühen Morgen entsorge ich Brief- und Zeitschriftenstapel in die Altpapiertonne, räume Bleistifte und Kugelschreiber zur Seite und richte unter den Computern ein Massaker an. Ständig ist Herr Matziewski bei uns.

      „Also, hier im fünften Stock ist wirklich der Wurm drin. Was ist es denn diesmal?“

      Jeden Tag schleppt Matziewski mindestens einen Rechner in den Keller, um ihn zu reparieren. Da er im ganzen Haus unterwegs ist, ist der hagere Mann mit dem grauen Bart die Klatschbase des Betriebs. Er weiß, wer wann und wo ein Nickerchen macht, wer sich in der Badewanne die Pulsadern aufgeschnitten hat oder gestern Vormittag von den Männern mit den weißen Kitteln abgeholt werden musste.

      „Der Herr Weiß ist tot. Mausetot. Hat nur einen kurzen Brief zurückgelassen. Auf seinem Schreibtisch lägen die Unterlagen für das Meeting am Dienstag. Es wäre alles fertig vorbereitet. Er könne nicht kommen, denn wenn alles glatt ginge, liege er dann schon im Leichenhaus. Nichts für ungut. Gruß an die Kollegen. Das war es. Mehr hat er nicht geschrieben. Gruß an die Kollegen.“

      Schmidt hat nicht richtig zugehört und brummt: „Danke, zurück.“

      11 Uhr 30. Es wird unruhig. Mittagspause. Ich rücke ein paar leere Papiere zusammen und laufe zum Fax. Mit der Gießkanne schlage ich einmal laut auf das Gerät. Es piept. Frau Marion läuft an mir vorbei.

      „Na, Herr Steinhoff. Machen Sie Mittagspause?“

      „Ja.“

      „Schön. Dann guten Appetit.“

      „Danke. Ihnen auch.“

      Frau Marion läuft rüber in die Finanzbuchhaltung, wo sie sich mit einem ehemaligen Praktikanten trifft. Sex. Der Begriff steht im Raum, ohne dass ihn irgendjemand ausspricht. Sex. Es geht um Sex. Den ganzen Tag. In jeder Minute, jeder Sekunde denken alle nur an das Eine. Um sich abzulenken, geht man seiner Arbeit nach, isst Baguettes und Stullen, spielt danach wieder beschäftigt und simuliert Arbeit. Viele schließen sich in der Mittagspause im Klo ein, um einen kräftigen Schluck aus der Pulle zu nehmen. Die knapp Dreißigjährigen torkeln wie betagte Mütterchen über den Flur und fassen sich alle fünf Minuten an den Hintern, weil sie es an der Bandscheibe haben.

      Ich bleibe im Büro und werde mal ordentlich durchlüften. Die sinnvollste Tätigkeit des ganzen Tages. Schmidt kommt an mir vorbei. Es kommt zu einer kurzen Rangelei. Unsere Hände wollen unbedingt in das Gesicht des anderen. Wollen an den Ohren, der Nase, der schlaffen Haut ziehen oder ins Auge hauen. Ich gebe Schmidt eine mittelstarke Backpfeife. Er versucht, mich anzuspucken. Nach zehn Sekunden ist die Situation entschärft. Schmidt geht durch die Tür und schleppt sich vor den Aufzug. Er grunzt wie ein Schwein. Ich schaue ihm auf den Hintern. Er sieht aus wie ein Wasserbüffel. Tschüss Wasserbüffel. Geh fressen, verschluck dich und komm nicht wieder.

      Um 11 Uhr 43 bin ich allein auf der Etage. Ich gehe durch die Zimmer und tippe wild auf den Tastaturen der Computer herum. Dann suche ich nach kleinen Geschenken und etwas Geld. Bei Herrn Koch finde ich zwei bessere Kugelschreiber. Ich lasse sie liegen. Schmidt gieße ich seine 1-Liter-Fantaflasche aus. Ich mache Netscape auf und versuche, dem Kollegen ein paar Kinderpornos auf den Bildschirm zu holen. Nichts passiert. Die halbe Welt hat im Moment offensichtlich ähnliches im Sinn.

      B

       Grase, mein Schäfchen, grase. (Tinto Brass, Paprika)

      11 Uhr 50 stehe ich auf der Straße. Habe Lust auf Teenager. Zwei Mädchen laufen an mir vorbei. Ich sehe ihnen auf ihre Hintern und verfolge sie. Beide sind höchstens 18, lachen ungezwungen und haben enge Jeans an. Ja, die Jugend. Sie macht einen verrückt. Ich möchte sie küssen und lecken. Sofort.

      Überhaupt scheint es immer mehr hübsche Mädchen und Frauen zu geben. Von den Männern kann man das leider nicht behaupten. Im Gegenteil. Die Jagd nach Knete, Karriere und Eigenheim lässt sie immer hässlicher aussehen. Ein Spaziergang durch die Stadt am Samstagvormittag genügt, um zu begreifen, warum Frauen am Liebsten abends oder nachts auf Partnersuche gehen.

      An der Straßenecke kommt mir eine brünette Schülerin mit großen Brüsten entgegen. Wir lächeln uns an. Ich will ihr an alles Mögliche. Nur, wo sollen wir hin? Schnell auf eine Toilette oder in irgendeinen Keller? Die Büsche sind bevölkert mit an Brötchen knabbernden Angestellten, Chefs und Aushilfen. Wie Schimpansen im Zoo hocken sie auf Mauervorsprüngen, Steintrögen und Blumenkübeln. Statt sich an ihren rosa Hinterteilen zu kratzen, sortieren sie ihre Sakkoenden. Oh, lieber Gott, könntest du nicht alle auslöschen, die in diesem Moment etwas essen? Oh, lieber Gott, warum radierst du sie nicht einfach aus? Die Welt wäre gerettet.

      Auf der anderen Straßenseite steht Herr Doktor Dombrowsky. Er nuckelt an seiner Kakaoflasche, winkt und schreit ein grässliches „Schönen guten Tag“ über die Straße. Ich schreie zurück.

      „Sie stören gerade. Ich suche etwas zum bumsen.“

      „Ihnen auch. Danke.“

      Das Mädchen ist weg. Wohin jetzt? Die Bäckerei ist fest in Firmenhand. Für die umliegenden Restaurants und Stehimbisse gilt dasselbe. Ich stürze auf die Straße, um ein vorbeifahrendes Taxi anzuhalten und lasse mich ans andere Ende der Stadt bringen. Der Mercedes saust über die sonnigen Straßen. Überall suchen Menschen nach Ciabatta und Brötchen, Sushi und Pizza. Überall zwängen sie sich hinein, ohne willkommen zu sein. Das einzige, was willkommen ist, ist ihr Geld. Sie selber will niemand länger als nötig bei sich haben. Kein Wunder. Die Jungs und Mädchen aus den Agenturen, Redaktionsbüros und Firmen stinken nach Langeweile, Sexlosigkeit und Kleinmut. Sie können höchstens 40 Minuten bleiben und wollen dann schnell zahlen. Denn sie müssen zurück vor ihre Computer. Zurück, um Angebote und

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