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hundertmal gerannt und sicher ein Dutzend Mal gestolpert und gestürzt war. »Wildfang« und »Sausewind« nannte sie Tante Dorothea, denn Maria war als hüpfendes und springendes Pferdchen verschrien, das darüber hinaus noch die Energie aufbrachte, Fragen über Fragen zu stellen. Von einem zum anderen war sie gelaufen, schmeichelte sich mit herzigem Kinderlächeln ein und begann zu fragen. Warum werden die Kartoffeln beim Kochen weich? Warum ist die Flamme unten blau? Warum zerbricht die Fensterscheibe? Warum wird der Bauch der Tante Wilgen dick? Warum haben alte Leute keine Zähne mehr? Tante Dorothea begann zu stöhnen, und die Mutter sagte:

      »Sei ruhig, Kind!« Der Vater hatte die längste Geduld, und wenn er keine Antwort mehr fand, sagte er seinem kleinen Mädchen:

      »Das weiß ich nicht, Mariechen. Die Menschen wissen nicht alles auf der Welt.« Und Maria hörte auf zu fragen. Was der Vater nicht wusste, konnte keiner sonst wissen.

      Jetzt waren die Buben der Wilgens kleine fragende Quälgeister geworden, die Maria piesackten, und Tante Dorothea lachte mit tiefen Furchen an den Mundwinkeln, die ihre gelbliche Haut durchschnitten. Sie trug seit Jahren dieselben graubraunen Kleider und war immer noch nicht verheiratet. Sie wäre das »Überbleibsel« ihrer Familie, eine Reliquie, die langsam verstaubte.

      »Da springt kein Mann mehr für mich raus«, sagte sie Maria, schüttelte den Kopf und wies mit der Schulter abschätzig zum Nebenzimmer.

      »Dass die mich bei sich wohnen lassen ...«, womit sie ihren Bruder und dessen Frau meinte, »... ist ein großes Glück für mich. Wo will eine wie ich noch hin?«

      Eine Spindel hielt sie in der Hand, wie so viele in der Stadt, und sie spann Kammgarn für die Manufaktur des reichen Grätzel.

      »Für ein Zubrot kann ich spinnen, bis mir die Finger bluten. Aber der Staub geht mir auf die Lunge.« Und ihre Faust deutete auf die Mitte der Brust. Bedächtig wischte Maria den Buben den Mund ab und zaghaft entschlüpfte ihr die Frage:

      »Warum hast du nicht geheiratet, Tante Dorothea?«

      »Nun, ja.« Dorothea legte ihr Kinn zurück und schob ihre Brust vor. »Das könntest du auch deinen Vater fragen. Der wollte ja deine Mutter! Aber ich sagte dir - es gab Momente, da ist ihm die Entscheidung schwergefallen. Nun gut, man kann nur eine Frau heiraten.« Und Dorothea nickte heftig, denn jetzt sollte sie schweigen vor dem Mädchen, das nicht wissen musste, wie ihre Mutter und Dorothea um Christoph Stechard, den einzigen Gesellen im Haus gebuhlt hatten. Sie buhlten mit allem, was ihnen zur Verfügung stand um den stattlichen Mann. Ihre Hitze versengte ihnen den Verstand, und sie gaben sich ganz preis. Bis er Greta heiratete!

      »Da bin ich eben übrig geblieben, Mariechen. So ist das. Man muss Glück haben beim Heiraten oder etwas besitzen.« Ein huschender Blick Dorotheas, als hätte sie etwas entdeckt, glitt über Maria hinweg.

      »Na ja«, sagte sie schnell. »Du bist ja hübsch. Die Hübschen haben auch eher Glück.«

      Mit gesenktem Kopf gelang Maria ein schiefes Lächeln, und im Hals kitzelte sie ein kleiner Kloß. Wie hübsch musste man sein, damit die gähnende Leere ihrer Aussteuertruhe aufgewogen wurde? Dorothea schien sich ihrer eigenen Worte nicht sicher zu sein, und unter den breiten, dunklen Augenbrauen, die denen der Mutter so ähnlich waren, verschlossen sich die Blicke vor Maria. Da war die Spindel in Dorotheas Hand, der Faden zwischen ihren dünnhäutigen Fingern, unter den Nägeln eine Schicht von Fasern, und es wurde Marias eigene Hand, die alt und faltig geworden die Spindel führte, mechanisch, stetig und behände. Spinnen, bis die Finger bluten ...

      »So, ich geh jetzt!« Maria stand auf, und der Nachdruck ihrer Stimme ließ Dorothea Wilgen aufhorchen. Hier stand eine junge Frau vor ihr, der man nichts mehr verheimlichen konnte.

      Den Buben strich Maria übers Haar, der Tante gab sie die Hand, und schnell zog sie sich die wollenen Socken hoch. Da, schon wieder ein Loch im Strumpf, und es blinzelte über den Rand des Holzschuhs, der auch nicht mehr richtig passte. Ihr lagen noch Betty Vobbes Sticheleien im Ohr, die meinte, wenn die Socken dreimal gestopft seien, käme es nicht mehr darauf an. Bettys Spott konnte bissig sein, und heute war allein der Gedanke daran sauer wie ein Schluck Branntweinessig. Betty hatte gut lachen! Sie arbeitete als Hausgehilfin, bekam zweimal in der Woche Fleisch zu essen, und vom Klappern der Webstühle behielt sie höchstens noch die Erinnerung. Ihr hatte man ein ordentliches Kleid und solide Schuhe gegeben, und die hochgesteckten Haare waren unter einer weißen Haube aus Indienne verborgen. Um ihr ähnlich zu sein, kämmte Maria gerne ihre Haare hoch und bewunderte heimlich die um einige Jahre Ältere.

      Mit der Hoffnung, Maria dürfte sich auch bald mit dem bescheidenen Titel einer Hausgehilfin, oder sei es nur einer Küchenmamsell schmücken, hatte ihre Mutter Anfang des Jahres bei Wilgens vorgesprochen. Ob sie nicht öfters kommen dürfe? Maria könne doch mehr arbeiten. Sie habe nun das Alter dazu, und sie sei geschickt und nicht auf den Kopf gefallen! Den Lobreden der Mutter stimmten die Wilgens bei, aber er verkroch sich gleich in seiner Werkstatt und überließ seiner Frau das Reden.

      »Nein, wir können uns keine Hausgehilfin leisten«, und sie knetete ihre Verlegenheit in einen Brotteig hinein.

      Seitdem war es Maria in diesem Haus nicht mehr traulich zumute, und der letzte Rest familiärer Aura schwand dahin. Fremd wurde es, wie auch die Leute hier fremd waren. Ein neuer Geselle wohnte nun hier, und aus ihrer alten Stube schauten Unbekannte. Eine Frau mit ihrer fast dreißigjährigen, verwachsenen Tochter, die auch beide Garn spannen.

      Diese Tochter hatte ganz gleichmäßige, ja schöne Gesichtszüge, und wenn man sie aus einem bestimmten Blickwinkel beobachtete, bemerkte man den Höcker auf ihrem Rücken nicht. Es war doch ein seltsames Gebilde, und es gab immer wieder kleine Kinder, die in übermütiger Einfalt einen solchen Buckel einfach begrapschten. Maria fühlte bereits, wie garstig solch ein Übergriff war. Es gab auch Schmerzen in der Seele, und doch war Maria manchmal der Versuchung nahe, die junge Frau zu bitten, ihr die Beschaffenheit eines solchen Buckels zu erklären. Sie schämte sich ein wenig dafür, ging vorbei und verließ das Haus, in dem sie nicht mehr zu Hause war.

       2. Kapitel

      Die Stadt hatte ihre Ordnung. Der Wall umschloss sie, war Schutz und Käfig zugleich, und die vier Tore waren die Ausgänge. Keiner, der kam oder ging, blieb unbeobachtet, und auch in sich zeigte die Stadt ihre Gesetzmäßigkeit. Im Zentrum lebten am Markt und in den Hauptstraßen die Reichen, die Gebildeten zur Mehrzahl. Maria hatte sich darauf ihren Reim gemacht. So wird es sein, denn wenn man einen Teller mit Getreide schüttelte, blieben auch die guten Kerne in der Mitte, und die Spreu verteilte sich am Rand. Ging man von der Geismarstraße nach Hause in die Kaßpühle vor der Albani-Kirche, war man Spreu. Man lebte am Rand. Die Bäume im Kirchhof legten einen Kranz aus frisch ausgeschlagenem Grün um die alte Kirche. Dazwischen spielte die gleißende, neckende Aprilsonne über die Dachschindeln. Die Sonne täuschte nur Wärme vor, der Wind verwehte ihr die Haare, und Maria zog sich ihr Tuch fester um die Schultern. Unter den Bäumen im Kirchhof lag ein frischer Erdhügel, um den die kleine Tochter des Totengräbers herumhüpfte. Der Totengräber Keyser selbst war in der ausgehobenen Grube nicht mehr zu sehen, schaufelte schweigend die feuchte Erde nach oben. Winkend rief das Mädchen Maria zu sich, sie solle mitspielen. Beim Totengräber Keyser hatten die Stechards auch schon eine Weile gelebt, und Maria kannte die Kleine gut, die nun in ihrer für Maria beneidenswerten, glücklichen Unwissenheit auf die alten, dunklen Knochen wies, die ihr Vater ausgehoben und ordentlich nebeneinander gelegt hatte. Schließlich folgte ein Schädel, und das kleine Mädchen ergriff ihn in den tiefen Augenhöhlen. Maria, nach einem ersten Unbehagen ebenso neugierig, lachte auf, als die Kleine auf den Schädel deutete und aufzuzählen begann:

      »Die Augen - die Nase - die Zähne.«

      Zu guter Letzt rannte sie mit dem Schädel unter dem Arm lachend über ein Treppchen hinunter zum Ziegenmarkt. Ein schönes Spiel war es, und vor Marias Rufen wegzurennen, gehörte dazu. Dass Maria über die aufgeworfene Graberde gestolpert war, sah sie nicht mehr. Benommen rieb sich Maria die lehmverschmierten Knie und rief nach Keyser.

      »Sie rennt zur Straße! Schnell!« Aber nichts ging schnell! Der Schmerz zuckte in Marias Knien, und lange, so entsetzlich lange brauchte Keyser, bis er aus seiner Grube kletterte. Längst überquerte

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