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sagte der Vater. So hatte man zu arbeiten. Durch das Fenster fiel Licht auf den Webstuhl. Fasern tanzten in der Luft. Wenn Maria die Kettfäden aufspannte, schlug sie das offene Haar zurück, und man sah ihren langen, feinlinigen Hals. Es war der Hals ihrer Mutter. Beugte Greta Stechard sich am Webstuhl über ihre Arbeit, bemerkte man genau die gleiche Nackenlinie unter den Flauschhärchen, die aus dem Haarknoten gerutscht waren. Die Mutter war vor der Zeit gealtert, war hager und ausgezehrt. Aber Maria war jung, schoss gerade auf, wie die jungen Triebe im Garten. Maria habe auch die Augen ganz wie die Mutter, behauptete die uralte Frau Haberich, die oben in der Dachkammer wohnte.

      »Die Farbe von Haselnüssen haben sie«, wiederholte die Alte dann mehrmals, wenn Maria sie über die Treppe führte. Und Maria nickte, auch wenn ihre Mutter mit Stolz über ihre so wohlgeratene Tochter dem widersprach:

      »Feiner, viel feiner ist die Farbe von Marias Augen. Wie Karamell.« Und dann erzählte sie, wie sie in einer Backstube einmal zusehen durfte, als man Karamellmaße machte; wie in den gebräunten Zucker die Butter und der Rahm flossen und alles zu dieser feinen Masse verschmolz. Solange sich Maria zurückerinnerte, erzählte ihre Mutter diese Geschichte, und für Maria fügte sie dazu:

      »Dann habe ich ein Bonbon essen dürfen, und davon hast du deine karamellfarbenen Augen bekommen.«

      Damals, als kleines Kind im Haus in der Geismarstraße, dort, wo Maria aufwuchs und die glückliche, unwissende Zeit ihres Lebens verbrachte, glaubte sie, ihre Augen hätten die Farbe von den Bonbons erhalten, denn ihre Mutter musste es wissen. Eine Mutter weiß alles. Jedem erzählte Maria, ihre Augen seien Karamellbonbons, und ihr Vater sagte manchmal »Zuckerpüppchen«. Er öffnete das Fenster in der Stube, eine schöne Stube hatten sie damals, die zur Straße hinaus lag, und er drehte die Scheibe, damit sie sich beide darauf spiegelten. Dann deutete er auf ihre Karamellaugen und ihre dicken dunkelblonden Locken, die denen ihres Vaters so sehr glichen. Immer mehr erkannte Maria ihren Vater im eigenen Gesicht: die schmale, längliche Form, die ebenfalls schmale, von der Wurzel bis zur Spitze gleichmäßige Nase und die kräftigen Linien um den zu großen Mund, der beim Lachen das ganze Gesicht beherrschte.

      Der Vater war ein ruhiger Mensch und lachte selten. Früher scherzte er mit ihr oft ausgelassen und sagte oft »meine Hübsche« zu Maria, aber in den letzten Jahren kaum noch. Maria konnte die bewundernden Blicke fremder Leute nicht als Ersatz dafür anerkennen, und sie ahnte, dass die nachlassenden Liebkosungen eine Folge ihres Heranreifens waren. Ihr Unterleib bestätigte es ihr jeden Monat, und die Burschen in der Nachbarschaft neckten sie und riefen ihr Späße nach:

      »Du, bald hol‘ ich mir einen Kuss von dir.“ Oder: »Heut‘ Nacht schau ich dir beim Ausziehen zu.«

      Maria warf den Burschen giftige Blicke zu, und mit etwas Stolz über die geschenkte Aufmerksamkeit hob sie ein wenig ihr Kinn.

      Die Kaßpühle war eine lange Gartenstraße, die sich am Wall entlangzog. Wo sie auf den Albani-Kirchhof traf, stand eine Gruppe von engen, gedrungenen Fachwerkhäuschen, hinter deren kleinen Fenstern sich das Gesicht der Armut notdürftig duckte, damit man es nicht gleich entdeckte. Das Haus, in dem die Stechards seit zwei Jahren lebten, lag dem Portal der Albani-Kirche genau gegenüber und gehörte einem Tuchmacher namens Justus Vobbe. Ein Mann mit eingefallener Brust und faltig gegerbtem Gesicht war er. An der Stirnseite des abgewetzten Tisches, der unten in der Hausdeel stand, wo sich alle zum Essen einfanden, hatte Vobbe seinen Platz. Wenn die warme Suppe seinen dürren Schlund hinunterrann, begann er zu husten. Seine Frau hatte eine schleppende Stimme, und auch ihr Gang war durch das Wasser in den Beinen träge. Es schepperte immer erbärmlich, wenn sie am Herd mit den Töpfen hantierte. Der ganze Raum war stickig, angefüllt mit dem Geruch von Fett und Kernseife.

      Maria saß der alten Haberich gegenüber, die beim Essen die getrübten Augen geschlossen hielt. Öffnete sie die Augen, wollte sie Maria sehen, ihre Frische und Jugend. Sonst gäbe es hier ja nichts Schönes zu sehen. Die Tochter der Vobbes, Betty, stand bereits im Dienst bei einem Kaufmann und wohnte nicht mehr hier im Haus. Maria trauerte ihr nicht nach. Die Zankereien der beiden Mädchen waren zum täglichen Ritus geworden, den nur ihre Väter mit einem Faustschlag auf den Tisch beenden konnten. Als aufsässig wurden sie beide gescholten, auch wenn man sagte, die jungen Mädchen hätten eben ihre Launen. Es läge am hitzigen Alter. Seit Betty fort war, schwieg Maria meist am Tisch.

      Der Kopf des alten Haberich wiegte ununterbrochen hin und her. Vom Löffel kleckerte es oft herab, aber er aß geduldig, und seiner heiseren Kehle entwich ein gedehntes »ja - ja«. Einer wischte dann die Tropfen von seinem Kinn, und wenn Maria es tat, wisperte er durch seine Zahnlücken:

      »Pass auf, Mädchen, lass dich nicht ins Armenhaus sperren!« Immer wieder durchzuckte es Maria ein wenig. Auch wenn der Alte oft irre redete, so lag doch hierin ein Funken Wahrheit. Arme Kinder wurden oft in das Werkhaus gesteckt, und dort sollten sie arbeiten und arbeiten, von früh bis spät für andere arbeiten. Der Vater, der am Tisch neben ihr saß, tätschelte ihr dann die Hand, und wenn sie ihre Wange an seinen Arm schmiegte, hatte sie keine Angst mehr. Dann lauschte sie auf das, was die anderen erzählten, vom Leben und Arbeiten, vom Geld, das knapp war, von heute und morgen, vom Wetter und von der Ernte. Weiter als über ein paar Monate hinaus rechnete keiner, denn wer wusste schon, wann die nächste Hungersnot käme. Dann zählte sowieso nur der nächste Tag. Maria hatte nur Stimmen und Worte gehört - als Kind. Nun war alles deutlicher, trat näher an sie heran. Wie schön wäre es doch, immer Kind zu sein, nichts zu verstehen. Die Vobbe meinte, dass das Großwerden nicht leicht sei, und trotzdem überstehe es jeder, so Gott will, wenn man gesund bliebe. Keiner könne sein Schicksal bestimmen, sagte jemand. Man würde sehen, welche Bahnen es nehme. Und hier nickte der Vater, während eine Gänsehaut Marias Rücken überzog.

      Träume plagten sie in dieser Zeit, von Bettlern, die kein Zuhause haben, von Frauen, die sich verkaufen oder ihre unehelichen Kinder umbringen. Bei Tage schüttelte sie den Kopf über diese Träume, und wenn sie die Leintücher faltete und zu Ballen legte, an denen noch die Wärme aus der Hand des Vaters zu fühlen war, glättete sich das Unbehagen. Aber totschlagen ließ es sich nicht. Maria hatte zuviel nachgedacht.

      Solange es ging, wurde an Kerzen gespart. Erst wenn man im Zimmer kaum mehr etwas sah, schloss Greta Stechard den Fensterladen und entzündete die Kerze auf dem Tisch.

      Nur oben in ihrer Kammer waren die Stechards unter sich, waren sie eine Familie. Eine Kammer bewohnten sie - nicht mehr als ein Platz zum Schlafen. Die Kalkweiße an den Wänden war porös und über dem Kohlenbecken schwarz überzogen. Aber geschürt wurde nur bei strenger Kälte, und jetzt im Frühjahr kaufte der Vater keine Kohlen mehr. Der große Bettkasten für die ganze Familie stand an der Mitte der Wand. Darauf lagen drei dunkle Wolldecken. Eine Kleiderkiste und die Leinwebergeschirre, das war alles, was ihnen hier gehörte. Dazwischen Flachs- und Hanfballen, Hede und Wolle. Der modrig süßliche Duft der Fasern saß sogar im Bettzeug, überdeckte den Strohgeruch der Füllung.

      Dieser Geruch war es, der Maria überallhin begleitete, war das, was ihr blieb, was ihr ein Zuhause vorgaukelte. Diesen Geruch lernte sie in dem Haus kennen, in dem sie geboren wurde. Er hatte sicher bereits an ihrer Wiege gehangen, denn auch dort in der Geismarstraße standen die Spulen und Spindeln im Zimmer, diesem hellen Zimmer, das zur Straße hinaus lag, das ihr auf den kurzen Kinderbeinen unermesslich weit erschien.

      Einen Wald von Stuhl- und Tischbeinen gab es dort, voll von Verstecken und Geheimnissen hinter den Schränken. Und immer waren die Röcke der Mutter zur Rettung parat. Dort war ihr Zuhause, in dem Haus des Onkels, des Leinwebers Wilgen. Der war der Bruder der Mutter, und von der Schwester der Mutter erhielt Maria ihren zweiten Vornamen Dorothea. Maria Dorothea hieß sie, und sie glaubte, dort zur Familie zu gehören und Tante Dorothea würde es nicht zulassen, ihre kleine Maria gehen zu lassen. Doch es gab für die Stechards keine Rechte in diesem Haus, denn es war dem Onkel überschrieben, und der heiratete. Es wurde eng, als dann Wilgens Kinder zur Welt kamen, und Christoph Stechard vertrug sich mit seinem Schwager nicht mehr. Er wollte nicht als dessen Geselle gelten, sondern für sich selbst auf eigene Rechnung arbeiten und frei bleiben. Das vor Missgunst knisternde Schweigen zwischen den Männern wurde unerträglich. »Sturschädel« nannte ihn Greta Stechard deshalb, aber ihr Mann verzog dazu keine Miene.

      Dieses Haus lag keine fünf Minuten

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