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Moment weiß ich, dass es der gewalttätige Erzeuger meines Sohnes ist, denn ich spüre seinen Atem hinter mir, auch wenn ich ihn gerade nicht sehen kann weiß ich, dass es Aidan ist. Aber jetzt höre ich sein schweres Atmen hinter mir. Und ich weiß, er hat wieder einmal das Messer in der Hand. Ich will rennen, möchte weg fliegen, aber komme nicht vorwärts. Inzwischen ist es stockdunkel geworden und mein Weg endet an einer ewig hohen Mauer. Ich kann nicht weiter, drehe mich um, um mich mit den Händen zu schützen. Und ich höre seinen Atem, der pervers lustvoll klingt, sehe ihn aber in der Dunkelheit nicht richtig, und spüre dann das erste Mal den Schmerz des Messers, das er mir in die Hände sticht. Ich halte die Hände vor mein Gesicht und in dem Moment, in dem er das Messer in meinen Unterleib und meine Genitalien rammt, wache ich entweder auf oder werde mir bewusst, dass ich träume. Wenn ich mir dessen bewusst bin, dann schüttle ich mich im Traum, versuche, das Kopfschütteln auf die Realität zu übertragen und es gelingt mir manchmal, dadurch aufzuwachen. Und ich wache auf und merke, wie ich immer noch den Kopf schüttle, voller Panik und meine Hände schützend auf meinen Unterleib gelegt habe...

       Auch jetzt, wo ich es das erste Mal ausführlich beschrieben habe, höre ich ihn, spüre ich die Dunkelheit. Es ist im Traum alles sehr real, es gibt nichts, was wirklich widersinnig oder unmöglich wäre. Das ist das Schlimme daran. Im Traum bin ich ICH und beobachte mich gleichzeitig. Ich sehe das Messer in meinem Leib und spüre gleichzeitig den Schmerz.

       Ab und zu verändert sich der Traum ein wenig, das Messer trifft meine Brüste, oder ich kann eine Weile schnell rennen um dann wieder vor der Mauer zu enden. Manchmal irre ich auch sehr lange auf der noch hellen Straße umher. Aber im Endeffekt ist es immer der gleiche Traum und er endet immer mit für mich realem Schmerz, im Traum spürbar. Ich habe eine wahnsinnige Angst vor diesem Messer.

      Am folgenden Morgen erinnert Luna sich an ihren Traum. Obwohl sie es nicht möchte. Sie schwitzt, hat einen schalen Geschmack im Mund. Rastlos dreht sie sich von einer Seite auf die andere. Eigentlich hat sie noch eine Stunde Zeit, bis sie aufstehen muss. Aber sie erträgt den in ihr nachhallenden Traum nicht mehr, steht auf und ihr Leben geht den gewohnten Gang. Früher als sonst ist sie bei der Arbeit, verbringt die erste Stunde damit, auf ihren Monitor zu starren in banger Erwartung eines wie auch immer gearteten Wunders, das ihr all diese Last abnehmen soll. Heute möchte sie gerne etwas an ihrem Leben ändern. Aber mit der Frage nach dem „Was“ ist sie schon völlig überfordert, sie kann nur weinen, kann nur hoffen, dass man ihr wieder diese Verantwortung abnimmt.

       Giorgio sagt:

       Meine liebe Luna,

       Du bist ein lieber Mensch, bitte vergiss das nicht! Du bist frei geflogen als Kind und wurdest dann grausam in einen Käfig gesperrt!

      Luna saugt diese Worte von Giorgio in sich auf. Sie geben ihr einen kurzen Halt, einen momentanen Trost. Sie tun gut, und wenn es auch nur Sekunden währt. Und sie versucht, sich zu erinnern, was damals geschehen ist. Wie sah ihr Käfig aus? Ja, sie konnte frei fliegen, hatte vieles, großes vor. Ihr sicherer Platz, ihre Höhle, ihr Rückzugsort verwandelte sich dann mit einem Mal in einen Käfig. Sie war erst neun Jahre alt. Und sie wollte ihre Liebe weitergeben, sie zurückgeben. Wollte tun, was man von ihr erwartet. Auch wenn es seltsame, unbestimmte Gefühle in ihr auslöste. Auch wenn sie trotz ihrer kindlichen Unschuld fühlte, dass es falsch war. Sie tat es trotzdem und sieht heute noch immer ihre Schuld darin. Kein Wort zu jemandem, sich nichts anmerken lassen. Luna tat, was sie tun musste, so wie sie es sich schon immer auferlegt hatte, genauso wie sie es auch schon immer im Guten wollte. Sie konnte es nicht vom Bösen trennen, dafür war sie zu sehr Kind, zu vertrauensvoll...

      Sie sitzt ratlos zu Hause an ihrem Schreibtisch.. Versucht, sich diese ersten Bilder in Erinnerung zu rufen. Draußen ist es dunkel und windig. Es wird bald regnen. Seltsamerweise weiß sie, dass der erste Missbrauch an einem sonnigen und kühlen Herbsttag stattfand. Sie sucht, geht tief in sich.

      Luna sieht die Matratze auf dem Boden, die ihr Bruder und sie vom Bett genommen haben. Sie sieht sich nackt darauf liegen. Es ist ein Kriminalspiel, das sie spielen wollen! Sie weiß, dass sie gut spielen kann. Sich in andere hineinversetzen. Jetzt muss sie gerade nicht viel tun, denn sie spielt eine Leiche. Eine nackte Leiche. Sie darf sich nicht bewegen, muss alles mit sich geschehen lassen, denn sie ist ja tot! Die Hände ihres Bruders erkunden ihren Körper an Stellen, die sie selber noch nicht kennt. Nicht kennen möchte. Sie kann nicht unterscheiden, ob es sich gut oder bedrückend anfühlt. Beide Gefühle wechseln sich ständig ab. Sie hat nur eine Idee davon, wie falsch es ist, was sie hier geschehen lässt. Die Hände erforschen ihre Arme, ihre Beine, ihre Brüste und ihre Genitalien. Was geschieht mit ihr? Sie weiß, dass es in dem Film, den sie neulich zusammen gesehen haben, nicht so war. Und sie weiß auch, dass der tote Körper dort sicherlich nicht diese zwiespältigen Gefühle hatte! Sie denkt sich weit weg. Sucht ihre unsichtbaren Freunde, findet sie und gesellt sich zu ihnen. Jetzt! Jetzt muss sie wieder spielen, ein kurzes Intermezzo: Sie ist der Assistent des Kommissars. Aber es währt nicht lange. Und schon ist sie wieder eine Leiche. Eine nackte Leiche. Sie wird hochgehoben, hinweg getragen und verscharrt.

       Meine liebe Luna,

       lasse uns bitte daran arbeiten, dass Du das nicht mehr in Dir verscharren musst, sondern dass Du Deinen Kopf wieder frei nach oben recken kannst, Deine Flügel ausbreiten und Du im unbeschwerten Flug über den Abgrund gleiten kannst. Lasse Dich zurückführen zu Dir selbst, besinne Dich auf Dich, werde wieder Du!

       Ich werde Dich gerne dabei begleiten, mit Dir fliegen und Dich dabei auffangen, wenn Deine Flügel einmal lahmen sollten und ich werde Dich erden, falls Du den Boden unter den Füßen verlieren solltest …

       Dein Giorgio

      2 Mama

      „Ich sah die Sitten meiner Zeit und schrieb diese Briefe.“

      Jean Jacques Rousseau Noch Januar 2008

       Lunas Tagebuch – Sonntag, 13. Januar 2008

      „Um zehn Uhr bin ich aufgewacht. Nachdem ich drei Nächte sturzbetrunken war, habe ich mir vorgenommen, diesen Sonntag einfach das zu machen, was ich früher immer gemacht habe. Ganz normale Sachen. Habe dann doch noch zwei Stunden im Bett gelegen, um immer wieder das Gesicht meiner Therapeutin auftauchen zu sehen und meine Mutlosigkeit zu spüren: was nur soll ich ihr am Dienstag sagen...wieder nur Frust geschoben? Wieder alles für den Arsch? Zeit, für diese Verfehlung mit dem Skalpell eine „Markierung“ auf den Arm zu setzen. Pflaster und Verband geben mir ein gutes Gefühl, lassen mich etwas Besonderes sein. Giorgios Mails schwirren mir ständig im Kopf herum. Wieso bin ich so getroffen, so frustriert, wieso Magenschmerzen und Extrasystolen? Im Moment kann ich nicht weiter darüber nachdenken... es macht mich völlig konfus.

       Eben habe ich gedacht, ob ich es heute eventuell mal schaffe, keinen Alkohol zu trinken. Während ich darüber nachgedacht habe, griff ich automatisch zur Cognacflasche... Und es ist verdammt schwer, das alles vor meinem Lebensgefährten geheim zu halten...

       Vor dem Essen: der Griff zum Skalpell, geht nicht anders, hatte beim Joggen eben einen Riesendruck auf der Brust, hyperventiliert, Extrasystolen... So eine Scheiße.

       Wollte einen normalen Tag probieren zu leben...und jetzt stelle ich eigentlich nur fest, dass ich total emotionslos bin, den ganzen Tag war! Bin über Sonnenstrahlen gelaufen und habe sie nicht registriert, bin abgedriftet in eine Disso, einige Zeit fehlt in meinem Gehirn! Alles ist eigentlich nur dunkel. So, Du blödes Tagebuch, hab länger nichts geschrieben, und das war kein ehrbarer Anfang...“

       Giorgios Mail:

      „Nun, kleines Luna Mädel,

       Dein blödes Tagebuch antwortet Dir jetzt.

       Wenn Dir Giorgios Mails im Kopf herumschwirren, dann stelle ihm Fragen dazu! Ist doch die einfachste Lösung.

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