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halt zumindest mal einen Anhaltspunkt haben.»

      So einfach, so klar. Ich begann zu fragen und zu forschen. Und wer sucht, der findet.

      Also stattete ich dem Staatsarchiv meinen ersten Besuch ab. An einem trüben Samstagmorgen füllte ich am Empfang eine Registerkarte aus. Beim Forschungsthema schrieb ich: «Verbrechen im Kanton Zürich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts». Die junge Mitarbeiterin am Empfang instruierte mich gewissenhaft: «Sie lassen bitte alle Sachen wie Tasche und so weiter hier in der Garderobe. Die Akten dürfen fotografiert werden, aber ohne Blitz. Es hat Stromanschlüsse für Ihren Laptop. Bei Fragen wenden Sie sich bitte an die Aufsichtsperson, ansonsten herrscht im Lesesaal Ruhe.»

      Für meine hinterlegte Identitätskarte bekam ich einen Badge – den Schlüssel zur Wahrheit. Begleitet von elektronischem Piepsen gelangte ich dann durch zwei schwere Türen in den Lesesaal, wo zwei ältere Herren mit noch viel älteren Büchern beschäftigt waren. Gespannt setzte ich mich an einen freien Platz in der Nähe des Fensters und wartete.

      «Ich möchte Sie warnen», hatte mir die zuständige Archivarin im Vorfeld geschrieben, «der Fall ist ziemlich heftig. Bringen Sie starke Nerven mit.»

      Da durchschnitt wieder das Piepsen die Stille. Eine Tür im hinteren Teil des Raumes öffnete sich und ein Angestellter schob einen Wagen geräuschlos vor sich her. Das ernste Gesicht des Mitarbeiters und seine gemessenen Schritte erinnerten mich an den Transport einer Leiche. Die «Bahre» war an der Stirnseite mit «Gatti» beschriftet. Auf dem obersten Tablar befanden sich zwei grosse graue Archivschachteln.

      Nachdem sich der «Totengräber» zurückgezogen hatte, hob ich vorsichtig die erste Schachtel vom Wagen. Behutsam legte ich sie auf den Tisch und öffnete sie. Der Geruch von altem Papier, Staub und Geschichte umwogte mich.

      Statt durch die erhofften Fotos kämpfte ich mich erst einmal stapelweise durch Papier. Viele Dokumente waren in einer alten, schwer leserlichen Handschrift abgefasst. Dazwischen fanden sich auch sauber mit der Maschine getippte Aktenstücke. Zeitungsartikel erweckten meine Aufmerksamkeit, die Berichte von Polizei und Bezirksanwaltschaft und eine Menge Haftakten. Waren die etwa alle von Verdächtigen? Ich blätterte aufgeregt weiter. Da! Der Bericht des Arztes über die «Section». Der Amtsarzt hatte von den Verletzungen am Hals des Opfers eine Zeichnung angefertigt. Etwas weiter unten stiess ich auf das einzige Foto in den gesamten Akten.

      Die grausame Tat lag jäh als düsteres, leicht vergilbtes Foto vor mir.

      Im halbdunklen Hintergrund stehen zwei Männer mit Arztkitteln. Beherrscht wird das Bild von einer jungen Frau. Sie liegt auf einem Bett. Vermutlich ist es ein Doppelbett, denn daneben ist ein voluminöses Kopfkissen zu erkennen. Die Tote ist nackt, ihr Kopf ruht auf einem runden Stück Holz. Der eine Arm zeigt angewinkelt nach oben, als ob sie es sich am Strand bequem gemacht hätte. Ihr Gesichtsausdruck erscheint neutral, aber ihre Augen, im Tod erloschen, sind weit aufgerissen. Vom Brustbein bis zu ihrem Schambereich führt ein langer tiefer Schnitt. Die Därme quellen aus dem Dunkel des Bauches heraus und hängen auf ihrer rechten Seite bis fast auf das weisse Laken.

      Ich zwang meinen Blick weg vom Bild. Die Aufsichtsperson vorne im Saal war mit einer Schreibarbeit am Computer beschäftigt, liess ihren Kontrollblick aber in regelmässigen Abständen durch den Saal schweifen. Rechts oben von der Ecke aus beobachtete mich eine Kamera, das rote Licht blinkte aufmerksam. Der Staat beschützt seine Akten gut.

      Meine Gedanken schweiften ab zum Haus unterhalb der Kreuzstrasse in Altikon, wo ich die ersten Jahre meines Lebens verbrachte und wo auch Anna und ihre Familie gelebt hatten. Ich stand der Familie damals sehr nahe. Und jetzt stand ich wieder vor ihrer Geschichte und ihrem Schicksal. Niemand vor mir hatte das schreckliche Verbrechen an Anna Müller gesühnt. Ich spürte eine offene Wunde, die nie verheilt war. Immer tiefer tauchte ich in die Geschichte ein und langsam erwachten Anna und ihr Umfeld wieder zum Leben.

      3. Das Böse

      Emma spürte etwas Bedrohliches, Böses. Es war da, hier zwischen den Bäumen in den Dämmerstunden dieses Wintertages. «Es ist der Tod», ging es Emma durch den Kopf, und sie nahm diese Gewissheit mit Demut hin, so, als ob es sie nicht weiter kümmern müsste.

      Aber dann bekam das Böse eine Gestalt. Ein grosser Vogel schwebte auffallend langsam und nur wenig über dem Boden durchs Unterholz herbei, die Flügel fast unmerklich bewegend. Ein Rabe? Sein Blick schien in weite Ferne gerichtet und Emma wusste, dass er sie nicht wahrnahm. Aber seine Botschaft war unmissverständlich.

      Verzweifelt raffte Emma ihre Röcke zusammen und lief weg, immer tiefer in den Wald hinein. Hinter sich «hörte» sie förmlich die unheimliche Stille, denn die Singvögel und Insekten des Waldes waren verstummt. Kein Schrei, kein Flügelschlag. Sogar der Eichelhäher hielt sich geduckt. Sie spürte nur den sanften Luftzug, der von den Schwingen des Raben herrührte. Emma wagte nicht, nochmals hinzuschauen. Sie drehte sich ab, begann zu laufen, zu rennen, hinein in eine Dunkelheit, die sie immer schwärzer umfing – bis sich ihr rechter Fuss im Unterholz verhedderte. Sie stolperte und fiel hin.

      Einen Moment lang blieb sie fast erlöst liegen. Ihr Atem ging stossweise und ihr Herz pochte. Als sie sich wieder aufrichtete, lauerte ihr der Vogel noch immer auf. Unter dem Astwerk des Haselgesträuchs, in das sie gefallen war, fühlte sie sich für einen Augenblick fast ein bisschen geborgen. Aber nicht lange. Mit schwarz glänzendem Gefieder und spitzem Schnabel fixierte er sie mit seinen glühenden Knopfaugen. Emma sprang auf, wollte schreien, mit blinder Hoffnung auf Hilfe. Aber sosehr sie sich auch anstrengte, aus ihrer Kehle kam nur ein atemloses Stöhnen …

      Mitte Februar 1906

      4. Im Pfarrhaus in Altikon

      Emma erwachte schweissgebadet und bemerkte erstaunt, dass sie leise vor sich hin wimmerte. Es dauerte eine Weile, bis sie sich zurechtfand. Durch das Fenster schimmerte der Schnee im Mondlicht und machte sie glauben, es dämmere schon. Mit heftig klopfendem Herzen tastete sie nach den Streichhölzern und zündete die Öllampe auf ihrem Nachttisch an. Ein flackernder Lichtschein breitete sich in ihrer Kammer aus und beleuchtete das Zifferblatt ihrer Taschenuhr: Es war halb fünf.

      Emma sank ins Kissen zurück. Ihr Atem bildete Wölkchen im kalten Raum. Sie geisterten wie kleine Nebelschwaden durch das Licht und lösten sich dann auf. Nach und nach verloren sich auch die schrecklichen Bilder des Alptraumes. Trotzdem war an Schlaf nicht mehr zu denken.

      Emma Bachmann hatte kürzlich ihren dreiundzwanzigsten Geburtstag gefeiert. Seit fünf Jahren war sie beim Altiker Pfarrer als Dienstmagd angestellt, als Mädchen, wie es im Volksmund hiess. Über ihre Arbeit und ihre Lebensumstände wollte sie nicht klagen. Sie schlief in einer eigenen Kammer, in einem Bett mit einer richtigen Matratze. Reinster Luxus, wenn man bedachte, dass sie sich mit ihren Geschwistern Stroh- und Laubsäcke hatte teilen müssen. Ihre wenigen Kleider und Habseligkeiten waren in einer alten Kommode verstaut, darauf standen eine Waschschüssel und ein Krug aus Porzellan, die Ränder mit rosa Blümchen verziert. Das Wasser darin war an diesem frühen Wintermorgen vermutlich wieder angefroren. Und neben dem Fenster, an dem sich Eisblumen gebildet hatten, stand ein einfacher Schreibtisch mit einem zu kurzen Bein. Emma hatte das Manko mit gefaltetem, inzwischen vergilbtem Zeitungspapier ausgeglichen.

      Hatte sie es hier nicht wirklich gut? Besser gesagt, gut gehabt. Bis der Pfarrer diese Spitzmaus geheiratet hatte. Emma schüttelte sich angewidert, sodass ihre Nachthaube verrutschte. Dann begannen die Kirchenglocken zu dröhnen, und Emmas Herz verkrampfte sich wieder. Hier im Pfarrhaus konnte man das Glockengeläut wirklich nicht verschlafen.

      Emma schlug tapfer die Decke zurück und stand auf. Sie fror bitterlich in ihrem leinenen Nachthemd. Eilig schlüpfte sie in ihre Pantoffeln und ging zur Kommode, um sich zu waschen. Sie durchbrach die dünne Eisschicht im Krug und goss Wasser ins Becken. Es stach ihr wie Nadeln ins Gesicht und vertrieb die letzte Trägheit aus ihren Gliedern. Hastig zog sie ihre wollenen Strümpfe hoch und befestigte sie am Strumpfgurt. Das Nachthemd liess sie gleich an, darüber zog sie ein weisses Hemd und schlüpfte dann in ihr dunkelblaues Alltagskleid. Zuletzt band sie sich noch eine frische weisse Schürze um und zog ihre schwarzen Schnürschuhe

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