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Lustmord an Anna Müller von 1906

      Impressum

      1. Auflage 2016

      Alle Rechte vorbehalten

      © Copyright by Sandra Gatti-Müller

      Vertrieb: epubli, ein Service der neopubli GmbH, Berlin

      E-Book-Programmierung: Dr. Bernd Floßmann, Berlin

      «Solltest du wirklich die Augen öffnen und sehen,

      du würdest dein Ebenbild in allen Bildern erblicken.

      Und solltest du deine Ohren öffnen und hören,

      du würdest deine eigene Stimme in allen Stimmen hören.»

      Khalil Gibran, 1883 – 1931

      Für meine Kinder

      Virginia und Manuel

      Vorwort

      Wir schreiben das Jahr 1906 in Altikon, einer kleinen Landgemeinde am Rande des Zürcher Weinlandes. Im Mai jenes Jahres wurde eine junge Frau auf bestialische Art und Weise getötet. Diese junge Frau war die Schwester meines Urgrossvaters.

      Altikon (dazu gehören auch die Weiler Herten, Feldi, Schneit und zahlreiche Siedlungen) liegt rund zehn Kilometer nördlich von Winterthur und grenzt direkt an den Kanton Thurgau. Es ist der Fleck im Kanton Zürich, wo die Leute «nid» statt «nöd» sagen und deshalb von den Stadtmenschen belächelt werden, wo sich der Löwenzahn «Puggele» nennt, der Wald «Holz» und das Wäldchen «Hölzli» heissen und wo der Nebel auch im Mai noch bis zum Mittag dick und feucht in der Luft kleben kann.

      Die Gegend ist sehr ländlich, Felder, Wälder und Wiesen umgeben die Gemeinde. Nach Süden in Richtung Winterthur ist das Dorf durch einen lang gezogenen Hügel von Rickenbach­ und Dinhard getrennt. Der Blick der Altiker muss zwangsläufig nach Norden schweifen, hinunter zur Thur, welche die Kantons- und Gemeindegrenze bildet, dann zügig weiter westwärts fliesst und bald darauf in den Rhein mündet. Trotz der Nähe zu Winterthur und Frauenfeld war Altikon zu jener Zeit eine kleine Welt für sich, friedlich und beschaulich. Die Uhren ticken hier noch heute etwas gemächlicher.

      Rund vierhundert Menschen lebten damals in Altikon, mehrheitlich waren es Bauersleute und Handwerker. Viele waren Selbstversorger, mithelfen mussten alle, Kinder ebenso wie die Grosseltern, jeder nach seinen Möglichkeiten. Freizeit war ein Fremdwort. Nur der Sonntag wurde, so gut es ging und wenn es das Wetter zuliess, arbeitsfrei gehalten.

      In jener Zeit war die Kindersterblichkeit hoch: Allein im ersten Lebensjahr starben mehr als 15% der Säuglinge. Viele Krankheiten waren bedrohlicher als heute, die Erfindung des Antibiotikums lag ja noch in ferner Zukunft. Die Frauen gebaren viele Kinder und dieses Ereignis war ein grosses Risiko für Mutter und Kind.

      Der Tod war deshalb wohl oder übel ein akzeptierter und respektierter Gast in der Gesellschaft um die Jahrhundertwende, wenn auch nicht dergestalt, wie er den Altikern in jenem Frühling urplötzlich begegnete. Die heile Welt bekam einen Riss.

      Der brutale Mord an der 21-jährigen Anna Müller erschütterte das Dorf und die ganze Region. Danach war nichts mehr wie vorher. Und der Tatort, das Wäldchen, wo dieses schreckliche Verbrechen begangen wurde, heisst auch mehr als hundert Jahre danach noch Mörderhölzli.

      Eine andere junge Frau, sie hiess Emma Bachmann, spielte eine wichtige und dramatische Rolle in dieser ganzen Geschichte. Sie war viele Jahre als Dienstmädchen beim Altiker Pfarrer tätig und mit Anna befreundet. Sie trug – wenn auch gezwungenermassen und unwissentlich – entscheidend zum Mord bei. Geschähe dieses schreckliche Verbrechen heute, die Polizei würde umgehend bei Emma vorsprechen und sie befragen. Damals geschah nichts dergleichen. Niemand verhörte Emma, sie war ja nur eine Dienstmagd. Aber eben, die Polizei kam nicht weiter und der Mörder ungeschoren davon. Der Fall blieb offiziell ungeklärt.

      Auch wenn schon mehr als hundert Jahre vergangen sind: Heute finden wir Antworten auf die Fragen, die damals nicht gestellt wurden. Kommen Sie mit und lernen Sie die arme Anna, die Dienstmagd Emma und das alte Altikon kennen. Begleiten Sie mich auf die Reise ins Jahr 1906 und die spannende Suche nach dem Mörder.

      Sandra Gatti-Müller

      1. Das Leben in der Schweiz um 1900

      Um die Jahrhundertwende lebten in der Schweiz rund drei Millionen Menschen. In Mitteleuropa herrschte seit etwa dreissig Jahren Friede und das Wort «Weltkrieg» gab es noch nicht. Der technische Fortschritt war in vollem Gange: Elektrisches Licht war erfunden, Dieselmotoren wurden gebaut, Fahrzeuge und Maschinen ersetzten nach und nach die Muskelkraft. Im Jahr 1899 vermeldete das Patentamt in New York, dass jetzt «alles Erfindbare» erfunden sei.

      Der Luxus der Stromversorgung war erst in einigen grösseren Städten verfügbar. In den ländlichen Gebieten der Schweiz lebten die Menschen nach wie vor ohne elektrisches Licht; man hatte Petrol- oder Gaslampen und Kerzen. Auch Kühlschränke gab es zum Beispiel noch nicht. Die Milch hielt sich im kühlen Keller höchstens zwei bis drei Tage. Geheizt und gekocht wurde mit Holz.

      Tagwach war auf dem Land mit der Morgendämmerung, Feierabend zwangsläufig bei Einbruch der Dunkelheit. Die Kirchenglocken halfen bei der Zeiteinteilung. Die Menschen arbeiteten körperlich und waren viel auf den Beinen. Sport war deshalb schlicht unnötig. Die meisten Distanzen wurden zu Fuss zurückgelegt, denn auch Velos waren bei der einfachen Bevölkerung nicht sehr verbreitet. Dafür besassen die Bauern Ochsen, manchmal auch Pferde, die Fuhrwerke zogen und bei der strengen Arbeit auf dem Feld halfen.

      Bei der Arbeiterschaft in der Stadt verschlang die Ernährung den grössten Teil des Einkommens. Der Stundenlohn betrug je nach Branche und Geschlecht des Arbeitnehmers um die 30 Rappen, ein Wochenlohn bewegte sich bei rund 20 Franken. Die Hälfte ihres Einkommens mussten die Menschen damals für Nahrungsmittel ausgeben. Heute sind es hierzulande weniger als 10%. In nur einer halben Stunde haben wir unser tägliches Brot bereits verdient.

      Das war um 1900 ganz anders: Ein Liter Milch kostete etwa 22 Rappen, ein Kilogramm Kartoffeln 9 Rappen, ein Kilogramm Rindfleisch 1 Franken 57 Rappen und ein Kilo Bohnenkaffee sogar 1 Franken 80 Rappen. Und wenn ein neues Paar Schuhe wirklich dringend nötig wurde, so bezahlte man dafür rund 10 Franken. Es ist deshalb nachvollziehbar, dass auf dem Land die Kinder den Grossteil des Jahres barfuss gingen.

      2. Die Akten

      Der Frühling des Jahres 2012 war mehr nass als wonnig, als ich dem Verbrechen im Mörderhölzli überraschend auf die Spur kam. Die offiziellen Ermittlungsakten zum «Lustmord an Anna Müller» aus dem Jahr 1906 existierten immer noch!

      Meine Grossmutter aus Altikon blieb Ende der Siebzigerjahre, auf den schrecklichen Namen dieses Wäldchens angesprochen, vage: Vor sehr, sehr langer Zeit sei da ein Mädchen ermordet worden. Punkt. Ein Schauder lief mir über den kindlichen Rücken und ich wartete gespannt auf die Fortsetzung der Geschichte. Meine Grossmutter wandte sich wieder ihrem Kreuzworträtsel zu. Und dann, fast nebenbei, bemerkte sie, beim Opfer könnte es sich eventuell um eine entfernte Verwandte von uns gehandelt haben. Damit war die Fragestunde definitiv beendet. Ich spürte, dass sie glaubte, bereits zu viel erzählt zu haben. So blieb ich allein mit meinen Fantasien und mit meiner Neugier. Irgendwann geriet die Geschichte wieder in Vergessenheit.

      Mehr als dreissig Jahre später führte mich eine Reise nach Wien zwangsläufig auch in die Kaiserzeit von Sissi und Franz Josef und weckte in mir überraschend glühendes Interesse für die Zeit um 1900.

      Ein paar Tage später sass ich wieder mit meinen Kindern am Esstisch und schwärmte von meinen Erlebnissen. Nach den obligaten «Was wäre wenn?»-Fragen meiner Tochter landeten wir wieder einmal beim Geheimnis um das Mörderhölzli.­ «Ich weiss nicht einmal, wann dieser Mord passiert ist», klagte ich. Alle

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