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-Grauer- -Adane-. Gunter Preuß
Читать онлайн.Название -Grauer- -Adane-
Год выпуска 0
isbn 9783738009293
Автор произведения Gunter Preuß
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Es dauerte ein Jahr, und Mexikaner hatte aus dem alten Fachwerkhaus den freundlichen Gasthof geschaffen. Wenn Paula einmal in der Woche Henrys Grab auf dem Dorffriedhof besuchte, wo sie ihm und ihren Söhnen einen Stein hatte setzen lassen, erzählte sie ihm vom Gasthof „Zur Sonne“, der Treffpunkt der Dörfler war und im Sommer Feriengäste beherbergte.
„Hast recht behalten, Henry“, sagte sie. „Wir haben's geschafft. Und für unsere Kinder ist's nicht zu spät.“
Neun Enkel und Urenkel hatte Paula, und sie war stolz auf ihre große gesunde Familie. Einmal im Jahr, zu Henrys Geburtstag, trafen sie sich alle im Gasthof „Zur Sonne“. Da erfuhren die Jungen auch von alten Zeiten, die ihnen unwirklich wie finstere Märchen erschienen.
Für die Kleinsten musste die alte Paula immer wieder die Geschichte vom „Grauen“ erzählen, einem Wildkater, der früher in den Felsen und Wäldern gelebt hatte. Von jeher hatte es viele Katzen in Leuta gegeben. Sie waren fleißige Mäusefänger, die das wenige Korn und die Speisekammer vor den Nagern schützten; Henry und Paula liebten auch ihre Wärme, vor allem aber ihren Stolz und ihren Anspruch auf Freiheit. Die Katze war nicht wie der Hund jedes Herren Knecht; sie ließ sich nicht an die Kette legen, und wen sie nicht mochte, dem sprang sie nicht auf den Schoß. So sahen die Leutaer sich selbst, und von Fremden wurde das Dorf das „Katzennest“ genannt.
Heute nun, als der Frühling seine erste Melodie gespielt und die Bunte sich noch nicht aus dem Hof gewagt hatte, jährte sich wieder Henrys Geburtstag. In der Gaststube hatten Mexikaner, seine Frau Hilde und seine Kinder eine lange Tafel festlich gedeckt. Paula saß vor der Zeit auf dem Ehrenplatz in der Nähe des Ofens. Sie freute sich auf ihre Kinder und dachte an Vergangenes. Die Wärme des Ofens und der Sonne, die durchs Fenster schien, hatte sie einschlafen und von ihrer Jugend träumen lassen.
Am späten Nachmittag wurde sie geweckt, als die Schar ihrer Urenkel den Raum eroberte. Die Familien ihrer Kinder waren der spröden Felsenlandschaft treu geblieben. In der Ebene fanden sie zu wenig Himmel, zu viel Geschrei, und die großen Städte nahmen ihnen den Atem. Sie wohnten verstreut in den Dörfern, und wie bei Henry und Paula, spielte der Wald und sein Holz in ihrem Leben eine bestimmende Rolle. Sie arbeiteten als Waldarbeiter, Tischler, Schreiner, und in freien Stunden schnitzten sie Menschengesichter und Tiere des Waldes. Für ihre Kinder entstand manches Schiffchen, das in die Bäche gesetzt und auf Reisen in die Ebene geschickt wurde.
Alle waren sie gekommen, nur einer fehlte wie schon im vorigen Jahr, Mexikaners Sohn Winfried. Auch er liebte den Wald und das Holz; aber er fand dabei nicht Zufriedenheit in der Stille der Dörfer wie die anderen, in ihm brannte ein unruhiges Feuer.
Winfried war der geschickteste Schnitzer in der Familie. Schon in seiner Kindheit hatte er Figuren aus dem Holz gearbeitet, die die Erwachsenen nachdenklich machten. Mexikaner hatte seinen Sohn in der Wirtschaft behalten wollen, er sah gern alle seine Kinder um sich herum. Als Winfried noch ein Junge war, führten ihn seine Ausflüge immer weiter von Leuta weg. Kehrte er zurück, halfen keine Vorwürfe und kein Schimpfen, er schloss sich im Schuppen ein und schnitzte aus dem Holz, was er auf seiner Reise gesehen hatte.
Lehrer Misella hatte von einer zu entwickelnden Begabung Winfrieds gesprochen. Die alte Paula hatte dem ungeduldigen Mexikaner ins Gewissen geredet, seinen Sohn nur ruhig und mit Vertrauen tun zu lassen, was er wollte. Sie spüre eine große Kraft in ihm und einen feinen Nerv, und es sei eine Sünde, sich dagegenzustellen, das würde Winfried nur krank machen. Mexikaner, bei aller Abwehr nicht wenig stolz auf seinen Sohn, hatte schließlich nachgegeben. Winfried war Student geworden an der fernen Hochschule für Malerei und Grafik.
„Warten wir nicht wieder“, sagte Mexikaner zornig über das Ausbleiben seines Sohnes. „Langt zu und lasst es euch schmecken! Nun sagt schon, wie geht's euch, und was gibt's Neues bei euch zu Hause? Die Welt steht ja vielerorts auf dem Kopf. Da wollen wir nur zusehen, dass wir auf unseren festen Beinen stehenbleiben.“
Es wurde mit Ruhe gegessen und getrunken, bald war ein Gespräch im Gange über den lange ersehnten Sommer, einen Scheunenbrand in Berga, des alten Baumanns Trunksucht, die überstandenen Krankheiten der Kinder, über Arbeit und Lohn, Geburt und Tod, Schmerz und Lust. In jeder Rede kam die Freude zum Ausdruck, „hier droben“ leben zu können, in sauberer Luft, in der Stille und Nähe des Waldes. Aus ihrer Zufriedenheit kam leise Fröhlichkeit, sie tranken auf ihr Wohl, auf die Vernunft des Menschen und einen dauernden Frieden. Sie nahmen die Melodie des Frühlings auf, die sie heute gehört hatten, und sangen seine Lieder. Mexikaner griff zur Gitarre, und Tante Ruth spielte mit ihrer Tochter Gerti auf dem Klavier.
„Das hätte Henry noch erleben sollen“, sagte die alte Paula wie jedes Jahr an diesem Tag. „Es tut so gut, Kinder, euch alle um mich zu haben.“
„Erzähle uns eine Geschichte, Urgroßmutter“, forderte der kleine Ronald, der neben der Bunten auf der Ofenbank lag.
„Ja, eine Geschichte!“ riefen nun alle Urenkel. „Die vom Wildkater! Das ist die schönste!“
Es wurde augenblicklich still in Mexikaners Gaststube, die Erwachsenen lehnten sich in ihren Stühlen zurück, ihre Kinder schmiegten sich an sie.
„Nur wenige Menschen haben den Grauen vor die Augen bekommen“, erzählte die alte Paula, froh, dass ihre Geschichte noch immer gebraucht wurde. „Es ist eine Ewigkeit her, als ich ihn zum ersten Mal sah. Heute ist es mir, als wäre es in einer ganz anderen Welt gewesen.
Es war Nacht. Ich hatte schlecht geträumt und war aufgewacht. Ich ging zum Fenster und sah auf die Bahnhofstraße. Ich wartete auf Henry. Dass endlich der Krieg ein Ende haben sollte. Dass endlich der Mann in sein Haus zurückkehrte. Es war eine Nacht wie heute. Hört nur wie tausend Stimmen aufgeregt wispern. Seht nur wie klar der Himmel ist. Wie hell die Sterne leuchten.
Ich weiß nicht zu sagen, wie lange ich gestanden und gesehen und gelauscht habe. Die Katzen begannen zu schreien wie ungezogene Kinder. Schräg gegenüber, auf Langheinrichs Schuppendach, gerieten sie sich gegenseitig gehörig ins Fell. Liebestoll, wie sie waren. Da sah ich einen Kater, wie ich ihn mein Lebtag noch nie gesehen hatte. Die Zunge soll mir lahm werden, wenn ich lüge. Er war fast doppelt so groß wie das andere Katzenvolk. Er hatte graues langes Fell und weiße Flecken an Kehle und Brust.
Oh, wie er sich auf die Hinterbeine stellte. Und was für einen wilden Gesang er anstimmte. Ja, ein Wilder, ein Räuber war er. Und was für Hiebe er unter seinen Rivalen austeilte. Die schönste Kätzin nahm er sich.
Krügel, des Grafen Jäger, war schon lange hinter dem Grauen her. Er fragte uns Leutaer oft, ob wir den Wildkater gesehen hätten. Der Graf bestünde auf sein Fell. Er sei ein Wilderer. Keiner von uns gab dem Krügel einen Hinweis.
Der Graue war schlau und vorsichtig. Er lebte versteckt in den Felsen. Das ganze Jahr über sah ihn keiner. Nur im Frühjahr suchte er die Kätzinnen. Dann verlor er wie alle Verliebten jegliche Vernunft. Er wollte kämpfen, war eitel, eifersüchtig und unbeherrscht.
Nun, in dieser Nacht, als ich am Fenster stand, da sehe ich den Krügel sich aus dem Wald anschleichen und seine Büchse gegen den Grauen in Anschlag bringen. Ich schreie auf. Der Katzenspuk verschwindet augenblicklich von Langheinrichs Schuppendach. Und der Krügel schimpft über den verpassten Schuss, was das Zeug hält. Er will es mir beim Grafen schon heimzahlen, ruft er, und ich solle mich nur ja in Acht nehmen Und den Grauen wird er eines Tages doch erwischen.
Das Jahr drauf haben wir den Krügel zu Grabe getragen. Er hatte mit dem Grafen getrunken und ist auf dem Heimweg vom Luisenstein gestürzt. Man hat aber sagen hören, es hätte einer nachgeholfen dabei. Der Krügel war auch ein arger Herrenknecht