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       Nicht nur die Gnus, die Zugvögel oder die australischen Krabben - auch ganze Völker wandern. Würde man die Menschheitsgeschichte aus der Weltraumperspektive im Zeitraffer abdrehen, so sähe man ein permanentes Kommen und Gehen. Die Germanen zogen nach Süden bis nach Nordafrika, die sibirischen Jäger überquerten die Beringstraße und ihre Nachkommen gelangten bis nach Feuerland. Die Bantus bevölkerten von Kamerun aus ganz Zentral- und Südafrika, und die Polynesier durchquerten tausend Jahre lang die Weiten des Pazifiks.

       Wie aber verhielt es sich mit den Thais? Woher kamen sie und wie war es ihnen gelungen, sich in „Thailand“ niederzulassen?

       Die erste Frage hat die Forschung inzwischen beantwortet. Die Thais stammen als eine sino-tibetische Ethnie aus dem Süden des heutigen China. Im achten Jahrhundert lebten sie in im Reich von Nan-Chao in der heutigen chinesischen Provinz Yünnan. Chinesische Quellen beschreiben das Reich von Nan Chao als ein relativ hochentwickeltes Gemeinwesen, möglicherweise auch deswegen, weil Staatsaufbau und Kultur fast vollständig von den Chinesen übernommen wurden.

       Merkwürdig, dass sie dann weiter nach Süden gezogen sind, denn Yünnan ist von allen chinesischen Provinzen eine der schönsten. Warm, aber nicht zu heiß, fruchtbar und in der Umgebung des Mekong von berückender landschaftlichen Schönheit. Warum wollten sie weg? War es ihnen zu langweilig und lockte sie das Abenteuer in fernen Ländern? Oder waren sie einfach zu zahlreich geworden, so dass sich ein Teil von ihnen wie die griechischen Kolonisten gezwungen sah, die zu Heimat verlassen?

       Was immer auch die Gründe gewesen sein mochten, ab dem späten achten Jahrhundert kamen die Thais nach Indochina, blieben hier, raubten dort und zogen weiter, immer weiter nach Süden, der leicht abschüssigen Landschaft des nördlichen Indochina folgend, bis sie den Chao Phraya Fluss im heutigen Thailand und den Salween im heutigen Myanmar erreichten.

       Dieser Route wollte ich folgen. Von Chiang Mai aus wollte ich nach Sukothai und Ayutthaya fahren, den beiden ersten Hauptstädten Siams bis nach Bangkok, der gegenwärtigen Metropole des Landes.

       Aber das war leichter gesagt, als getan, denn die thailändische Eisenbahn streikte, und die Bahnverbindung zwischen Chiang Mai und Bangkok war blockiert. Lange Menschenschlagen standen an diesem Morgen vor den Ticketschaltern am Busbahnhof von Chiang Mai. Die gute Nachricht war, dass ich ein Ticket nach Phitsanulok erhielt. Die schlechte Nachricht war, dass der Bus über keine Klimaanlage verfügte, so dass es im Bus bald nach allen möglichen Gewürzen, nach abgepacktem Fleisch und verfaulten Bananen roch. Dann und wann zog auch ein Hauch von Kleinkinderschiss durch die Reihen, wobei mir auffiel, dass die Babys ihre Würstchen offenbar in aller Stille abdrückten und ihrer Umgebung gegenüber ein unschuldiges Gesicht zur Schau stellten. Ihre thailändischen Eltern waren derweil guter Dinge, schnatterten untereinander in einem fort und zeigten sich die eine oder andere Sehenswürdigkeit, die vom Busfenster aus zu sehen war. Ich notierte: der Thai ist eine extravertierte Person, meistens heiter und freundlich, weniger distanziert als der Chinese und größer gewachsen als der Khmer, aber immer hungrig, denn wir waren noch keine Stunde unterwegs, da wurde schon zum ersten Mal an einer Garküche gehalten, damit sich jedermann mit Essen versorgen konnte.

       Waren die Thais auch schon so hungrig gewesen, als sie in Indochina einwanderten? Möglich, aber auf jeden Fall wurden es immer mehr, so dass die Wissenschaft heute zwei Gruppen von Einwanderern unterscheidet. Die erste Gruppe waren die sogenannten „großen Thai“, die sich nach Myanmar wandten und sich am Salween Fluss niederließen, wo sie zu den Vorfahren der heutigen Shan wurden. Ihnen sollte ich später am Inle-See in Burma begegnen. Die zweite Gruppe erhielt von den Forschern das Etikett der „kleinen“ Thai“, was insofern irritiert, weil sie es waren, die im Laufe der folgenden Jahrhunderte das eigentliche Thailand gründen sollten. Soweit die Reiseführer und Geschichtswerke, angereichert mit zahllosen Details und Komplikationen, die man einfach entschlossen ausblenden muss, wenn man einen merkbaren Überblick über die geschichtlichen Abläufe erhalten will.

       Inzwischen hatte der Bus den Norden verlassen. Fast unmerklich führte die Straße in tiefer gelegenes Gelände, es wurde wärmer, und die Landschaft links und rechts der Straße prangte in üppigem Lebensgrün. Wasserbüffel standen merkwürdig teilnahmslos im Schlick, Kinder rannten über Bewässerungsdeiche und ließen Drachen steigen, und hier und da ragten die Spitzen kleiner Tempelbauten über die Palmenkronen. Kein Wunder, dass es den frühen Thais in Zentralthailand auf Anhieb gefallen hatte. Im Unterscheid zum schönen, aber recht gebirgigen Yünnan musste ihnen dieses Land zwischen Chiang Mai und Phitsanulok wie eine riesige Reisschüssel erschienen sein, so dass sie sich niederließen und sesshaft wurden.

       Aber was war das für eine Welt, in der die Thais heimisch werden wollten? Indochina zur Jahrtausendwende war keineswegs ein leeres Land sondern eine bereits hochentwickelte Agrarregion, deren Bewohner mit Hilfe raffinierter Bewässerungstechniken beachtliche Überschüsse erzeugten. Die Mon im Süden Burmas, die Cham in Zentralvietnam, die Vietnamesen im Delta des Roten Flusses hatten bereits ihre ersten Staaten gegründet. Das bedeutendste und größte dieser Reiche war das Imperium der Khmer von Angkor, das zeitweise Laos, Kambodscha, den Süden Vietnams und den größten Teil Thailands bis an die burmesische Grenze beherrschte. Für die Gottkönige des Khmer-Reiches waren die Thais zunächst nicht mehr als Söldner, die man in den Dienst nahm, wenn man sie brauchte, oder herumstreifende Clans, die man aus dem Land jagte. Auf dem Tempelwänden von Angkor Wat tauchen die Thais als kriegerischer Haufen auf, der sich in Aussehen und Gehabe deutlich von den disziplinierten Khmer-Truppen unterscheidet.

       Als der Bus nach einer gut vierstündigen Fahrt in der Stadt Phitsanulok stoppte, war von dieser Vergangenheit nichts mehr zu entdecken. Phitsanulok war eine lebhafte Provinzstadt auf halber Strecke in zwischen Chiang Mia und Bangkok, ein lauter und hektischer Verkehrsknotenpunkt, der allerdings mit einigen Attraktionen aufweisen konnte: dem Kloster des Goldenen Buddha, einem der stimmungsvollsten Nachtmärkte Thailands und eben der Nachbarschaft der Ruinenfelder von Sukothai.

       Da es schon dämmerte, beschloss ich, in Phitsanulok zu übernachten, um mir den Goldenen Buddha anzusehen. Der Goldene Buddha von Phitsanulok, eine der berühmtesten Buddha Statuen des Landes, befand sich im Kloster Phra Ratana Mahatat am Ufer des Nan Rivers im Norden der Stadt. Es handelte sich um einen überlebensgroßen, sitzenden Buddha in der Haltung der Erleuchtung (Bhumispasa-mudra) , was bedeutete, dass er im Schneidersitz auf einer Empore saß und dass seine rechten Hand beiläufig gen Boden wies Die Statue, ein Meisterwerk der thailändischen Plastik, entstammte dem 15. Jahrhundert und war über und über mit feinen Goldplättchen bedeckt. Positioniert war der Goldene Buddha in einem nicht sonderlich großen, von Säulen begrenzten Raum mit einem Marmorboden, der so spiegelblank war, als würde er jeden Tag gewienert. Da es im Tempel angenehm kühl war, setzte ich mich in eine Ecke des Raumes und beobachtete die Besucher. Die Atmosphäre war entspannt bis an die Grenze zur Heiterkeit, als würde der Anblick des Goldenen Buddha die Stimmung heben. Zugleich war diese Hochgestimmtheit durch zurückhaltende Devotion gedämpft, wenn sich die Besucher der Skulptur zuwandten und ihre Gaben zu Füßen des Buddha niederlegten. Gebetet oder meditiert wurde kaum, eher glichen die Besuche Stippvisiten bei einem freundlichen Hausgeist, den man in bestimmten Abständen einfach besuchen muss. Der Gegensatz zwischen der anspruchsvollen und durchgeistigten Lehre des Buddha und der freundlichen Beiläufigkeit seiner Verehrung verwunderte mich.

       Warum der Buddhismus in seinen verschiedenen Varianten zur großen Weltreligion Asiens wurde, ist allerdings durch seine Lehre allein ohnehin nicht zu verstehen. In Wahrheit verdankt der Buddhismus seine Verbreitung seiner enormen spirituellen Elastizität, die ihm die Überwölbung und Assimilierung der unterschiedlichsten Traditionen gestattete. Unterhalb der buddhistischen Lehre von der Nichtigkeit der materiellen Welt gleicht der Buddhismus einer Leinwand, auf der die Völker über die Jahrhunderte hinweg ihre religiösen Träume ausmalten und mühelos den ganzen Kanon ihrer eigenen Götter, Geister und Ahnen miteinbeziehen können. Von Indien aus gelangte der Buddhismus zuerst nach Sri Lanka, dann über Bengalen nach Indochina. Über den Himalaya und die Seidenstraße erreichte er Tibet und Zentralasien, schließlich China, Korea und Japan, um überall lokale Traditionen so intensiv in sich aufzunehmen, dass er eigentlich von Land zu Land ein anderer ist. Als die Thais Indochina erreichten, war der Buddhismus also bereits da, die Gottkönige von Angkor hatten

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