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Wesen des massenhaften Individualtourismus verkennen, sähe man darin den ernsthaften Versuch, sich die Grundzüge fremder Kulturen wirklich anzueignen. Abgesehen von einigen Ausnahmen durchreisen die Jünger von Tony Wheeler und Paul Theroux Rajastan, Bali oder Myanmar als stiegen sie in große Bilderbücher, in denen sie die asiatischen Riesenstädte, die prachtvollen Tempel, Palmen und Strände mit einer lustvollen Mischung aus Fremde und Geborgenheit erleben können – wobei sich der Genuss dieser Unmittelbarkeit nicht zuletzt aus der Gewissheit speist, dieses Fotoalbum jederzeit und sicher wieder verlassen zu können. Vom kolonialistischen Erbe der westlichen Welt will man nichts mehr wissen und reist doch in der komfortablen Membrane günstiger Wechselkursrelationen unbekümmert und preisbewusst durch den großen asiatischen Garten. Diese Art des Reisens, die die Vielfalt der Welt als Resonanzboden der eigenen Subjektivität benutzt, hat etwas von der Weltexplorierung neugieriger Kleinkinder, die die Mutter gleichwohl nie aus den Augen verlieren. Und so erstaunt es nicht, dass entlang der klassischen Fernreiserouten in Goa, Hikkaduwa, Kathamdu, Yogjakarta, Candi Dasa und neuerdings auch in Saigon und Phnom Penh jene Enklaven der Heimatlichkeit entstanden sind, deren größte und älteste die Khao San Road in Bangkok ist.

       Sogar die Versorgung mit einheimischem Lesestoff wird in der Khao San Road organisiert: gegen einen kleinen Aufpreis tauschen die Traveller ihre ausgelesenen Schmöker gegen neues Lesefutter ein und hinterlassen so – ohne es zu wollen – in den Bücherregalen einen literarischen Fingerabdruck ihrer selbst. Mustert man die Bestände der Book-Shops auf der Khao San Road in dieser Hinsicht, wird man feststellen müssen, dass die weiten Reisen den literarischen Geschmack nicht wesentlich verfeinern, denn es dominieren die Saft- und Kraftschinken im Strickmuster der Clavell-, Ludlum und Robbins-Romane, aber immerhin – vielleicht als Bodensatz aus älteren Zeiten – existiert auch eine kleine Hesse Ecke in deutscher Sprache, in der der eine oder andere einfach mal aus alter Anhänglichkeit ein wenig blättert. „Auf allen Gesichtern lag eine traurige Öde und Gedämpftheit, jener Ausdruck von Welke und milder Apathie, die man nur bei Menschen trifft, die sehr viel auf Reisen sind, vereinigt mit der Mattigkeit und nervösen Unfrische, die den Weißen in den Tropen anhaftet“, notierte Hesse als eine Impression seiner großen Asienreise im Jahre 1911, und bei der Fixierung seines ersten Eindrucks von Palembang auf Java nahm er kein Blatt vor den Mund: “Zur Zeit der Ebbe aber ist diese Stadt eine schwarze Gosse, die kleinen Hausboote liegen schräg im toten Sumpf, braune Menschen baden harmlos in einem Brei von Wasser, Schlamm, Marktabfällen und Mist, das Ganze schaut blind und farblos in den unbarmherzig heißen Himmel und stinkt unsäglich.“

      Wie sehr sich die Zeiten und die Umstände des Reisens geändert haben, belehrt ein abendlicher Gang durch die Khao San Road. In den Gesichtern der zechenden jungen Gäste ist von Öde und Apathie nichts zu erkennen. Eng beieinander sitzend wie in der klassischen Schülerpinte nehmen sie ihr Abendessen unter der obligatorischen Musik- und Filmberieselung zu sich und fühlen sich rundum wohl. Terminator, Dirty Harry oder Darkman feuern ihre Salven gegen eine imaginäre Welt von Feinden, und draußen fährt ein asiatischer Langnese-Mann auf einem beleuchteten Fahrrad mit einer Drehorgel vorüber. Morgen oder übermorgen geht die Reise weiter, zum nächsten Bild im großen Garten der Welt, denn das asiatische Fotoalbum scheint unendlich, und die Heimat ist nicht weit.

Bild

       River Rafting während des Chiang Mai Trekkings

      

      

       Lächeln nur gegen Bares

      

       Endlich die Wahrheit

       über die berühmte Trekking-Tour

       von Chiang Mai

      

       Im „Rama Guesthouse" in Chiang Mai lief die Wirtin Chrissi zur Hochform auf. Stolz reichte sie Dankesschreiben und Grußadressen in den verschiedensten Sprachen von Tisch zu Tisch. Auf Schnappschüssen erkannte ich wackere Wanderer vor grünen Horizonten, ich sah Reisfelder, Opiumblüten, Elefanten, Flöße, Eingeborenendörfer. Wer konnte da widerstehen? Kurz entschlossen blätterte ich 1300 Baht (etwa 35 Euro) auf den Tisch des Hauses und wurde das achte Mitglied einer Gruppe, die noch heute zu einer dreitägigen Trekking-Tour in das thailändisch burmesische Grenzgebiete aufbrechen sollte. „Good Decision!“ sagte Chrissi und klopfte mir auf die Schulter.

       „Gallia est divisa in partes tres“ hatte unser Lateinlehrer erzählt. Nun erkenne ich, dass auch Thailand dreigeteilt ist – in Bangkok, wo man auf den Putz hauen kann, in den Süden, wo die Touristen unter Palmen in der Sonne schmoren und in den Norden, wo gewandert, nein: wo getrekkt wird. Und nirgendwo wird mehr getrekkt als in der Umgebung von Chiang Mai. Gestern Abend war ich mit dem Nachtzug in Chiang Mai, der zweitgrößten Stadt Thailands, eingetroffen, und es hatte mir auf Anhieb gefallen. Hier gab es weniger Stress, Smog und Prostituierte als in Bangkok, die Temperaturen und die Preise waren niedriger, und sogar die Malaria soll in den letzten Jahren ausgerottet worden sein. Eine Gegend, in der ich mich von den Verlockungen Bangkoks erholen und mich asketisch trekkend revitalisieren wollte.

       Ich war zum ersten Mal in Thailand und besaß von dem bevorstehenden Ausflug in den Dschungel nur ungenaue Vorstellungen. Ich wusste nur so viel: In Nepal benötigt der Trekker vor allem festes Schuhwerk, um durchzukommen, am Amazonas einen gesunden Magen, um die unvermeidliche Maniok-Suppe zu verdauen und im Hoggar Gebirge ist vor allem anderen das Wasser wichtig. Was aber brauchte ein Trekker, der sich von Chiang Mai aus in die Wildnis begab?

       Einige Stunden später wartete unsere Gruppe vor dem Rama Guesthouse auf den Minibus, der uns in die Berge bringen sollte. Unser Führer Ray erschien, ein thailändischer Twen mit einer asketischen Mönchsfigur, der jedem zuerst die Hand schüttelte und uns dann so bedeutungsvoll in die Augen schaute, also prüfe er, ob wir den Belastungen dieser Trekking-Tour auch gewachsen wären. Ein älterer Japaner war mit festen Hochgebirgsschuhen zum Treffpunkt erschienen. Auf seinem Rücken trug er einen mittelgroßen Rucksack, in dem sich alles befand, was für das Überleben im Dschungel von Nutzen sein könnte: Schwimmweste, Taschenmesser, Wasserflasche und Fernglas ebenso wie Mikropur, Kompass und Tropenhelm. Sein jüngerer Gefährte gab sich erheblich unbekümmerter. Seine Ausrüstung bestand im Wesentlichen aus einer fabrikneuen, noch verpackten Billig-Kamera, die er sofort vor unseren Augen auspackte, um damit den stoisch dreinblickenden Ray zu fotografieren. Ihre Namen konnte sich kein Mensch merken, weswegen sie in den folgenden Tagen immer nur „Jap1“ und „Jap2“ gerufen wurden. Auch zwei Holländer waren mit von der Partie. Sie hießen Marten und Wim und waren große, freundliche Brummbären in den späten Zwanzigern, die mit Sonnenhut und kurzen Hosen auf Tour gingen. Sie sollten in den nächsten drei Tagen jedermann freundlich zunicken, wenig sprechen und meistens über ihre Ohrsticks Rockmusik hören. Waren die Japaner und Holländer recht schweigsam, konnte man das von Elli, Jackie und Sue nicht behaupten. Elli, Jackie und Sue brabbelten in einem fort, wobei ihr Englisch kaum zu verstehen war, kicherten an jeder nur denkbaren Stelle, waren aber anstellig, belastbar und nur mit einem einzigen Rucksack unterwegs, den sie abwechselnd trugen. Wie zu erfahren war, hatten sie die Schule gerade erst abgeschlossen und von ihren Eltern so viel Geld erhalten, dass ein halbes Jahr Südostasien bereisen konnten. An ihnen war noch jede Menge Babyspeck, doch die Hitze Indochinas und die reishaltige Ernährung würde schon dafür sorgen, dass er am Ende der Reise verschwunden sein würde.

       Eng zusammengepfercht fuhren wir in einem offenen Pickup in nordwestlicher Richtung der burmesischen Grenze entgegen, Ray mit zwei Begleitern vorne, wir acht im Fond des Wagens. Bald war Chiang Mai verlassen, und der Wagen raste über staubige Buckelpisten, die serpentinenartig in die Berge führten. Dass wir noch vor Beginn der Trekkingtour auf den unebenen Straßen kräftig durchgeschüttelt wurden, war in Ordnung, denn immerhin verließen wir die Zivilisation, und da musste man Unbequemlichkeiten in Kauf nehmen. Wim wechselte gerade die Batterien seines Walkmans, als wir in einem kleinen Dorf von einer Horde Kinder jubeln begrüßt wurden. Wer hätte gedacht, dass die einheimische Bevölkerung uns so freundlich

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