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JUSTITIAS BRUDER. Dietmar Kottisch
Читать онлайн.Название JUSTITIAS BRUDER
Год выпуска 0
isbn 9783847671985
Автор произведения Dietmar Kottisch
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
„Haben Sie was gesehen?“ fragte sie und rührte mit ihrem Löffel in der Kaffeetasse, aber Oliver schüttelte den Kopf. „Nichts, außer einen hellen Mercedes, der an mir vorbei raste, kein Nummernschild, der hatte eine ziemliche Geschwindigkeit drauf…“
„Aber der alte Mann…“
„Gut, dass der alte Mann was gesehen hat. Die werden schon rauskriegen, wer das war. Es wird zur Anklage kommen, und Sie werden als Zeuge vernommen. Haben Sie ihn gesehen, wenn auch nur für ein paar Augenblicke?“
„Nein. Meine ganze Aufmerksamkeit war auf das Kind gerichtet, das vor meinem Wagen stehen blieb. Ich hab noch gedacht, Gott sei dank ist nichts passiert.“ Ihr kamen wieder die Tränen, und sie holte ein Taschentuch heraus.
„Wenn Sie wollen, bin auch ich im Gerichtssaal.“ Sie schaute ihn aus nassen Augen an. „Oh Gott, wie sie da stand. Das Kind, das Mädchen…. Dieses elende Schwein ..ist einfach abgehauen.“
Und dann war es wieder da, das Bild, dieses Fragment einer Sekunde, der Schrei ihres kleinen Bruders, das Geräusch seines aufklatschenden Körpers auf den Asphalt, als der Motorradfahrer ihn durch die Luft geschleudert hatte…das Entsetzen, das wie glühende Kohlen durch ihren Körper ging, sie sah ihn auf der Strasse liegen und er blickte sie an; die Schwester war das Letzte, was der Kleine in seinem Leben gesehen hat.
Ihr Bruder starb zwei Tage später im Krankenhaus.
Das Mädchen Annabell starb ein paar Stunden später im Krankenhaus.
Der Polizeibeamte gab in eine Datenbank die Informationen ein, die der Obdachlose ihnen gegeben hatte und wartete, bis der Computer einen Abgleich machen konnte: Kennzeichen aus Bad Homburg mit den Endziffern …95, ein weißer Mercedes.
Und schon spukte er das Ergebnis aus.
Als der Beamte den Namen des Besitzers am Monitor sah, hielt er abrupt inne. Dann vergewisserte er sich, dass er sich nicht vertippt hatte, gab noch einmal die Daten ein, und starrte lange auf den Bildschirm. Der Halter des Wagens war Heiner Praun, der Hessische Justizminister. Er leitete dies sofort an seinen Vorgesetzten, den Polizeipräsidenten weiter.
Daraufhin wurde der alte Mann im zerschlissenen Anzug noch einmal auf das Polizeipräsidium gebeten und befragt, ob er sich vielleicht nicht getäuscht habe; aber er blieb bei seiner Aussage. Als er den Raum verließ und die Türe noch nicht geschlossen hatte, hörte er noch, wie ein Beamter zu seinem Kollegen sagte, es sei ein "dicker Hund", dass der Hessische Justizminister ein Kind totfährt und Fahrerflucht begeht. Er blieb erschrocken stehen und schüttelte seinen Kopf, und seine Gedanken waren ihm anzusehen.
Der Journalist Manfred Troistorf, der sporadisch im Polizeipräsidium herumlungerte und auf Schlagzeilen aus war; stand zufällig im Flur hinter der Türe und hörte auch die Bemerkung des Beamten, sah dann den alten Mann aus dem Zimmer kommen und den Kopf schütteln.
Er lief mit dem alten Mann auf die Strasse. Dort hielt er ihn an, und der alte Mann, der Ludwig Very hieß und im Obdachlosenheim „Franziskustreff“ in Frankfurt wohnte, bestätigte die Kombination von Troistorf.
Es war gegen 15 Uhr, als der Polizeipräsident höchst persönlich mit einem Beamten in die Wohnung von Praun fuhr. Seine Frau sagte, er sei im Ministerium. Sie wollte wissen, was los ist, aber der Polizeipräsident verschwieg den Verdacht unter Berufung des Amtsgeheimnisses. Anschließend fuhren sie nach Wiesbaden ins Ministerium und fanden den Minister in seinem Büro vor.
Schon am nächsten Tag stand Heiner Praun in den Schlagzeilen der beiden größten Tageszeitungen von Frankfurt und am übernächsten in fast allen Blättern von Deutschland.
Überfuhr der Hessische Justizminister Heiner Praun ein Kind und beging Fahrerflucht?
Ein Obdachloser ist Zeuge.
Im Hessischen Landtag liefen die Drähte heiß, als das bekannt wurde. Im Büro von Praun saßen seine beiden engsten Mitarbeiter und ehemaligen Schulfreunde, Thorsten Glauburg und Reinhard Kammer. Glauburg war sein Privatsekretär und Kammer sein Justizstaatssekretär. Zu ihnen hatte Praun vollstes Vertrauen.
„Es ist unglaublich. Ein versoffener Penner meldet der Polizei, dass er ein paar Buchstaben und Zahlen gesehen habe … und schon verdächtigen die mich,“ schrie Praun erregt und setzte sich mit Wucht in seinen Sessel.“
„Was ist mit deinem Dienstwagen?“ fragte Glauburg.
„Der Dienstwagen ist in der Werkstatt, ich fahre zurzeit mit meinem.“ Er öffnete die unterste Schublade an seinem Schreibtisch und holte ein Glas und eine Flasche Cognac heraus.
Er beugte sich vor und flüsterte: „Mensch, Thorsten und Reinhard. Ich war bei meiner Lady…verdammt noch mal. Das kann ich doch nicht zugeben.“
„Bei was für einer?“ fragte Kammer grinsend.
„Lass das….“
„Das heißt also, dass du gegen zwölf Uhr vierzig bei deiner Freundin im Bett warst?“
„Genau.“ Er goss das Glas voll und trank einen großen Schluck, dann lehnte er sich zurück.
Glauburg und Kammer grinsten, Praun machte eine böse Miene.
„Und anschließend bin ich sofort hier her gefahren.“
Die beiden nickten.
„Ich brauch euch wohl nicht extra zu sagen, dass ihr meine Anwesenheit hier vor der Polizei bestätigt! Christine kann ich doch nicht mit hineinziehen, ist doch klar!“
Praun war ihr Steigbügelhalter auf der Karriereleiter nach oben. Beide schlugen nach dem Studium die Beamtenlaufbahn ein. Es dauerte nicht lange, bis Heiner Praun sie ins Ministerium holte.
„Wenn du uns die Adresse der Lady gibst, können wir ja mal drüber reden…“ feixte Kammer. Aber Praun fand das gar nicht lustig.
„Übrigens, dieser Penner, wo lebt der?“
„Kann ich rauskriegen,“ sagte Glauburg.
„Tu das, und biete ihm ein paar Euro, wenn er zugibt, sich getäuscht zu haben. Es wäre besser, wenn er erst gar nicht als Zeuge auftreten muss. Sicher ist sicher. Ihr wisst ja, wie schnell ein Gerücht zum Rufmord werden kann.“ Praun war aufs Äußerste erregt. Er trank das Glas aus und füllte es neu.
„Wo Rauch ist, ist auch Feuer, meinst du?“ sagte Kammer.
„Natürlich.“
„Wie viel?“
Praun winkte ab. „Der ist doch froh, wenn er Tausend kriegt. Aber der kann uns auch gefährlich werden. Erhöhe notfalls auf Dreitausend.“
Kammer und Glauburg registrierten die Bemerkung …kann uns…mit einem starken Unwohlgefühl.
„Wie soll ich das Geld verbuchen lassen?“
„Als Spende fürs Obdachlosenasyl…was denn sonst?“ Der Minister lachte, aber es war ein verstecktes Verzweiflungslachen.
Glauburg sagte später zu seinem Kollegen, als sie alleine waren: „ Ich hab ein Scheißgefühl