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      Wenn man einem Kind Moral predigt,

      lernt es Moral predigen,

      wenn man es warnt,

      lernt es warnen,

      wenn man mit ihm schimpft,

      lernt es schimpfen,

      wenn man es auslacht,

      lernt es auslachen,

      wenn man es demütigt,

      lernt es demütigen,

      wenn man seine Seele tötet,

      lernt es töten.

      Es hat dann nur die Wahl,

      ob sich selbst,

      oder die anderen

      oder beides.

      Alice Miller

      Vor vielen Jahren

      1

      „Ich kann Ihnen keine Hoffnungen mehr machen“, hatte der Hausarzt gesagt. „Die kleine Agathe hat eine Lungenentzündung. Bei ihrer schwächlichen Konstitution bin ich mit meiner Kunst am Ende. Jetzt kann nur noch beten helfen.“

      Seither waren drei Tage vergangen. Die Kleine hustete immer stärker. Das Fieber stieg und stieg.

      Die Mutter versuchte alles, aber nichts half, weder Wadenwickel, noch Essigstrümpfe, kein Lindenblütentee, auch nicht die kalten Waschungen und schon gar nicht das Aspirin vom Hausarzt. Immer ging das Fieber nur für kurze Zeit zurück, um dann schnell wieder anzusteigen.

      Fast ständig saßen die Eltern an Agathes Bettchen. Sie konnten keinen Schlaf mehr finden und waren völlig erschöpft. Da wurde die Kleine noch einmal von einem besonders heftigen Hustenanfall geschüttelt – dann war sie plötzlich still.

      Einen Moment saßen die Eltern wie gelähmt. Dann sprang die Mutter auf: Das Kind lag reglos da, Arme und Beine weit von sich gestreckt, die Augen krampfhaft aufgerissen.

      In drei Wochen wäre Agathe ein Jahr alt geworden.

      Die Mutter nahm den leblosen Körper behutsam auf und drückte ihn weinend an ihre Brust. Der Vater verharrte mit fahlem, ausdruckslosem Gesicht auf seinem Stuhl. Er schien noch nicht erfasst zu haben, was eben geschehen war.

      Mit einem Mal stand Agathes Bruder im Zimmer. Auch er war krank, aber nicht so schlimm.

      „Was ist mit Agathe? Warum hustet sie nicht mehr?“

      „Ach, sie ist … sie ist jetzt endlich eingeschlafen“, antwortete die Mutter, die es noch nicht fertigbrachte, ihm die Wahrheit zu sagen. „Geh wieder auf dein Zimmer.“

      Als der Junge fort war, stand der Vater mit einem Ruck auf und verließ das Haus, ohne noch ein Wort zu sagen.

      Die Mutter sah ihm voller Angst nach, denn sie wusste, wie schnell er in schwierigen Situationen die Nerven verlor und dann unberechenbar sein konnte. Im Krieg hatte er eine schwere Kopfverletzung erlitten. Zwei Granatsplitter hatte man nicht entfernen können.

      Sie legte sich ins Bett, barg die kleine Agathe in ihrem Arm und sang ihr ganz leise alle Schlaflieder vor, die sie kannte. Irgendwann kam Agathes Bruder wieder. Er war zwar erst sechs Jahre alt, hatte aber längst begriffen, was geschehen war. Er schmiegte sich an die Mutter und half ihr beim Singen.

      Stunden später kam der Vater zurück. Laut schlug er die Wohnungstür zu und konnte sich nur schwer auf den Beinen halten. Er hatte getrunken, viel zu viel getrunken.

      Als er ins Schlafzimmer kam und den Jungen sah, brüllte er los: „Du bist schuld! Du hast sie angesteckt! Du hast meine Kleine umgebracht!“

      Er riss ihn aus dem Bett und gab ihm sofort einige Ohrfeigen, zog dann seinen Gürtel aus der Hose und schlug damit wild auf ihn ein.

      „Du bringst ihn noch um!“, schrie die Mutter in panischer Angst. Da ließ er von dem Jungen ab, stierte sie hasserfüllt an, um dann so lange wie besessen auf sie einzuschlagen, bis er erschöpft auf das Bett fiel und sofort einschlief.

      Die kleine Agathe war auf den Boden gefallen. Sie lag vor dem Nachttisch auf dem Bauch und sah aus wie eine weggeworfene Puppe.

      Sonntag, 28. Dezember 2014

      2

      Wie ein Leichentuch hatte sich der Schnee über das kleine Dorf Waldesruh1 gebreitet und jedes Geräusch erstickt. Nebelschwaden verwischten die Konturen der Häuser. Das Licht des Tages hatte sich noch nicht gegen die Morgendämmerung durchsetzen können, obwohl es schon bald zehn Uhr war.

      Vom Schnee gedämpft erklang die kleinste der Glocken vom Turm der für das Dorf viel zu großen Kirche, denn drinnen wurde gerade das Vaterunser gebetet. Als die Glocke langsam ausschwang, drang ein wenig von dem strahlenden Orgelklang nach draußen, der die Gemeinde bei dem alten Weihnachtslied „O du fröhliche“ begleitete an diesem nachweihnachtlichen Sonntag.

      Vom hinteren Teil des Dorfes, wo das Steinachtal ziemlich schmal wurde, kam mit schleppendem Gang eine merkwürdig anmutende menschliche Gestalt die Straße herunter, groß, hager, in einen dicken dunklen Wintermantel gehüllt, die langen grau gelockten Haare trotz einer Pelzmütze vom Nordostwind zerzaust, unter dem linken Arm ein großes, flaches Paket. Man hätte meinen können, hier käme ein Bote aus einem unbekannten, fernen Land.

      Er schien auf die „Jägerstube“ zuzusteuern, dem einzigen Lokal im Dorf, das gegenüber der Kirche lag. Dort würde gleich nach dem Gottesdienst der traditionelle Sonntagsstammtisch beginnen. Hier trafen sich jede Woche die Männer, die sich für wichtig genug hielten, die Geschicke des Ortes zu lenken. Dass sich an diesem Stammtisch nur die Männer trafen, war schon seit Urzeiten so und keine Frau im Dorf wäre je – zumindest nicht öffentlich – auf die Idee gekommen, das in Frage zu stellen. So war das eben in Waldesruh. Die Zeiten schienen über das Dorf hinweggegangen zu sein.

      Der Gastraum der „Jägerstube“ war mit dunklem Holz getäfelt. Die Wände zierten mannigfaltige Geweihe, vom kleinen Rehbock bis zum mächtigen Sechzehnender. An den Scheiben der niedrigen Fenster hatten sich bizarre Eisblumen gebildet, die mit den weinroten Gardinen in eine Art Dialog zu treten schienen. Tannenzweige, in kleine Blumentöpfe gesteckt, verstellten den freien Blick nach draußen auf die tiefverschneite Dorfstraße. Auf den Tischen brannten Kerzen in zierlichen dreiarmigen Leuchtern, und aus zwei kleinen Lautsprechern über der Theke tönten dezent von einem Kinderchor gesungene Weihnachtslieder.

      Die wenigen Pensionsgäste hatten längst ihr Frühstück beendet. Die Wirtsfrau, Brigitte Gerster, räumte das Geschirr von den Tischen und baute dann das Buffet ab. Sie war schlank, trug einen enganliegenden blauen Jeansanzug und eine weiße Bluse mit einem roten, weiß gepunkteten Halstuch und wirkte mit ihren langen blondgelockten Haaren auf den ersten Blick jugendlich attraktiv. Doch ihr vollkommen verhärmtes, von Falten durchzogenes Gesicht schien eher einer alten Frau zu gehören, die schon zu viel Unglück erlebt hatte, um sich noch über irgendetwas freuen zu können.

      Da wurde der schwere Vorhang am Windfang zur Seite geschoben und die Gestalt mit dem flachen Paket unter dem Arm trat in den Gastraum. Es war der Kunstmaler Pietro Mostacci. Er hatte sich vor mehr als dreißig Jahren das letzte Haus vor dem hinteren Ortsausgang gekauft und später ein riesiges gläsernes Atelier anbauen lassen, in dem er fast ständig arbeitete. In aller Ruhe klopfte er sich den Schnee aus der Kleidung, zog den Mantel aus, hängte ihn an die Garderobe und schob Wollschal und Pelzmütze in einen der Ärmel. Das Paket lehnte er an die Wand und versuchte vergeblich, mit seinen großen knochigen Händen Ordnung in seine strähnigen Haare zu bringen.

      Als er Brigitte Gerster sah, hellte sich sein müde wirkendes Gesicht schlagartig auf. „Hallo Gittelein, bin ich mal

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