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Aber hätte er sich jetzt auf eine fachliche Diskussion mit von Braun eingelassen, hätte er seinen Termin mit seinem Meister vergessen können, und das Abendessen mit Melina sowieso. Er entschied sich daher sein Treffen mit seinem Verbindungsmann auf nächste Woche zu verschieben und am nächsten Tag nochmal ins Labor zu kommen. Sein neues Projekt würde auch ein paar Tage später starten können.

      Das Allerheiligste war die unterste Ebene der Zentrale. Der ganze Bau lag etwa 15 Meter unter der Erde und reichte mit seinen elf Stockwerken fast 60 Meter zusätzlich in die Tiefe. Auf der Ebene des Allerheiligsten hatten die 13 Meister, die im Rat saßen, ihre Räume. Die offizielle Bezeichnung der Sektion in der Wolks Meister sich aufhielt war UG 10-C. Den Namen „Allerheiligstes“ hatte die Abteilung wegen des Tresorraums in UG 10-A. In Anlehnung an den Tempel Salomons wurden dort besonders wertvolle, gefährliche und seltene Artefakte aufbewahrt. Das Artefakten-Archiv in UG 10-B war voller weniger gefährlicher Gegenstände, die häufiger von den Meistern benötigt wurden. Da es sich bei den Meistern in der Regel um alte Männer und Frauen handelte, zogen sie beim Bau der Zentrale mit den Artefakten in die unteren Räume. Auf diese Weise wurden sie ebenso gut wie die Artefakte von äußeren Einflüssen abgeschirmt und waren darüber hinaus in der Lage die Artefakte, die sie gerade brauchten, schnell zu bekommen.

      Der Zutritt zum Allerheiligsten war nur auf ausdrückliche Einladung eines Meisters gestattet, und selbst jemand wie Wolk, der ein so enges Verhältnis zu seinem Meister hatte, wie kein anderer, musste sich das Procedere der Sicherheitsüberprüfung beim Eingang antun.

      Er verließ den Aufzug, durchschritt den kurzen Tunnel und stellte sich auf die kreisförmige Markierung in der Sicherheitsschleuse, die daraufhin zu glühen begann. Der Wächter, der die Prozedur überwachte rührte keinen Finger, blinzelte nicht einmal, während Wolk in der Sicherheitsschleuse überprüft wurde. Wolk hasste diese Überprüfung. Nicht weil er der Ansicht war, sie sei überflüssig, auch nicht, weil die Sicherheitsschleuse klein genug war um Klaustrophobie in ihm auszulösen, sondern weil er dieses Engegefühl in der Brust erst wieder loswurde, wenn er die Ebene verließ. Ein Summen beendete die Überprüfung und der Wächter griff in ein Regal, an dem sich ein kleines Fach geöffnet hatte. Den daraus hervorgeholten silbernen Armreif reichte er wortlos Wolk, der diesen sofort umlegte. Da war sie wieder. Diese Enge. Wolk verließ den Kreis und ging zwischen den beiden steinernen Riesen durch, die die Tür zum Allerheiligsten bewachten.

      In der Mitte des Allerheiligsten war ein kleiner Garten angelegt worden. Eine Oase der Ruhe an einem der stillsten Orte der Welt. Das Plätschern des künstlichen Wasserfalls unterstrich die Szene, hallte aber trotz der 9 Meter hohen Decke nicht nach. Beleuchtet wurde die gesamte Etage von der kleinen Glaskugel, die an dem künstlichen Himmel die Sonne darstellte. Um den Garten führte der Portikus, ein Säulengang, im Kreis an allen Türen der Etage vorbei. Vladimir ging bis zur Tür mit einem – in eine Marmorplatte eingelassenem – Gamma aus Bronze davor. Er klopfte und wartete das sich die schwere Eichentür öffnete.

      Meister Claudius saß hinter seinem Schreibtisch. An den Wänden hatte sich im Laufe der Jahre eine gewaltige Sammlung von Büchern der unterschiedlichsten Fachgebiete angesammelt. Dort standen Bücher über Anatomie, neben Büchern über Alchemie, Neurochemie neben Numerologie, Astrophysik neben Astrologie. Das erste Mal in diesem Raum hatte sich Vladimir noch gefragt ob Meister Claudius diese Bücher alle gelesen hatte. Seiner Schätzung nach würde die gesamte Lebenszeit eines Menschen nicht reichen, all diese Bücher zu lesen, abgesehen davon, dass der Stoff teilweise in Bereiche eindrang, für die man zunächst mehrere Jahre hätte studieren müssen. Mittlerweile wusste er, dass es möglich war und dass Claudius wirklich den Inhalt aller Bücher kannte, verstanden hatte und bei Bedarf aus dem Gedächtnis abrufen konnte. Und für den seltenen Fall, dass er etwas nicht mit Sicherheit wusste kannte er den genauen Standort des Buches um es nachschlagen zu können. Ein bemerkenswertes Talent, aber für den Einsatz im Feld, wie Ihn Vladimir bevorzugte, nur bedingt geeignet.

      Der Meister kritzelte auf einem Blatt auf seinem Schreibtisch herum, murmelte was er aufschrieb und winkte Vladimir mit der freien Hand zu sich heran, gab ihm aber gleich darauf mit Handzeichen zu verstehen, dass er warten solle. Vladimir nahm an einem Tisch in der Ecke neben der Tür Platz.

      Meister Claudius war ein alter, glatzköpfiger Mann mit Hakennase. Vladimir stellte ihn sich manchmal, wenn er über seine Papiere gebeugt dasaß, mit Pelzkragen vor und dass er dann einem Geier zum Verwechseln ähnlichsah. Als sich sein Meister erhob und auf ihn zukam hatte sich Vladimir schon wieder so sehr an dieses Geierbild gewöhnt, dass ihn die gerade Körperhaltung kurz in seinen Gedanken zum Stocken brachte.

      „Also“, setzte der Meister an und ließ sich auf den freien Platz am Tisch fallen, „was gibt es.“

      Vladimir wollte gerade beginnen zu erzählen, als er merkte wie sich sein Hals zuzog. Er räusperte sich, setzte neu an, doch bekam kein Wort heraus. Noch einmal räusperte er sich, doch das Gefühl, dass ihm jemand den Hals zudrückte um ihn vom Reden abzuhalten wurde stärker.

      „Oh, entschuldige.“ Meister Claudius ging zu einem Tisch an der Wand und legte einen armlangen Stock in eine mit Vlies ausgelegte Schachtel. Sobald er die Schachtel schloss, lies das Kratzen in Vladimirs Hals nach.

      „Gehen wir ein Stück, ich muss den hier noch zurückbringen“, sagte Claudius und klemmte sich den Kasten unter den Arm.

      Sie hatten den Kasten in das Archiv zurückgebracht und umkreisten den Portikus zum zweiten Mal. Vladimir hatte seinem Meister alles über seinen zurückliegenden Fall erzählt und das dieser von seinem Vorgesetzten geschlossen wurde. In der Struktur der Organisation war es vorgesehen, dass jeder Mitarbeiter 2 Leuten unterstand, seinem Vorgesetzten, der ihm in Bezug auf seine Aufgaben Anweisungen geben durfte, und seinem Meister, der für Ihn Lehrer und Ansprechpartner bei allen Arten von ethischen und moralischen Dilemmata war. Deswegen hatte sich Vladimir für die vor ihm liegende Aufgabe mit seinem Meister absprechen wollen.

      „Und du bist sicher, dass dieser junge Mann dazu bereit ist?“, wollte Meister Claudius wissen.

      „Wahrscheinlich nicht. Aber wer ist das schon?“ Vladimir dachte an seine eigene Vergangenheit und daran, wie schwer die Wahrheit für ihn war, als er sie erfuhr.

      Er war in einem Waisenhaus in Moskau aufgewachsen. Eine seiner frühesten Erinnerung war ein Nachmittag als er 11 Jahre alt war. Vladimir war damals ein Einzelgänger, schmächtig und ohne Freunde. Ein typischer Außenseiter. Ein paar ältere Jungen lauerten ihm nach der Schule auf. Sie hatten ihn schon lange spüren lassen, dass er anders war, doch hatten keine Ahnung wie recht sie damit haben sollten.

      Ihre Namen hatte er in der Zwischenzeit vergessen, aber er erinnerte sich noch gut, wie sie ihn zu dritt am Boden festhielten, während der vierte und größte auf ihn einschlug. Es war das erste Mal, dass die Wut in ihm die Kontrolle übernahm.

      Später würden die Jungen erzählen, dass Vladimir völlig grundlos ausgerastet und auf sie losgegangen sei. Er sei ein wahnsinniger und gefährlich. Sie würden erzählen, dass er ihnen heimtückisch aufgelauert und mit herumliegenden Pflastersteinen auf sie eingeschlagen hätte. Er hätte ein Messer gezogen und ihnen damit tiefe Schnittwunden zugefügt. Die Wahrheit, dass ein schmächtiger Elfjähriger, allein und ohne Hilfsmittel, vier ältere Jungen krankenhausreif geschlagen hatte, würden sie nie erzählen. Weniger aus gekränktem Stolz, sondern aus Angst.

      6

      Anna war am Verzweifeln. Es mochte ein Klischee sein, aber sie zog bereits seit einer halben Stunde Outfit um Outfit aus ihrem Kleiderschrank und betrachtete sich selbst damit im Spiegel. Ihre Zwillingsschwester Lena saß auf dem Bett zwischen dem „Nee“-Haufen und dem „Vielleicht“-Stapel.

      „Wie ist das hier?“, fragte Anna und hielt sich ein rotes Kleid vor den Körper.

      „Etwas gewagt,“ erwiderte Lena, die gerade einen Pullover aus dem „Nee“-Haufen fischte.

      „Also nicht gut?“

      „Du bist doch sonst nicht so nervös vor einem Date.“

      „Es ist ja auch kein

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