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Hüttenkoller. Michael Dohr
Читать онлайн.Название Hüttenkoller
Год выпуска 0
isbn 9783738052060
Автор произведения Michael Dohr
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Es vergehen Tage voll Wonne und Müßiggang. Die beiden lassen sich treiben vom glitzernden Wasser, vom säuselnden Wind und von ihren Träumen, die in jenen Tagen von der Hoffnung auf ein anderes, ein erfüllteres Leben geprägt sind. Lediglich die Schmutzwäsche und die einseitige Ernährung, die hauptsächlich aus Dosenmais und Punschglasur besteht (eine abartige Vorliebe von Sandra, die für die Besorgung des Proviants zuständig war), sorgt langsam für erste Spannungen.
Um endlich mehr Abwechslung in den Speiseplan zu bekommen, beginnt Frederike schließlich selbst Fische zu fangen und trocknet diese nach einem alten Familienrezept ihrer Tante Hannelore, die sich in den letzten zwanzig Jahren nur noch von würzigem Trockenfisch ernährt hatte und unglaubliche Blutwerte aufwies. Ihr Hausarzt meinte unlängst, sie habe mehr Omega-3-Fettsäuren im Blut als ein Grizzly zur Lachszeit.
Am Schiff hängen die gefangenen Fische bald an allen Masten und Stangen, die der kleine Kutter zur Verfügung hat und die silbernen Schuppen der Fische glänzen dekorativ in der Sonne, wie abertausende kleine Spiegel, von denen jeder eine Geschichte erzählen könnte, vom Leben, wie es sich unter der Oberfläche zuträgt. Neben der optischen Aufwertung des Bootes machen sich bald die ersten negativen Auswirkungen der fischigen Dekoration bemerkbar. Riesige Schwärme von Möwen, diversen anderen Seevögeln und Fliegen schweben erwartungsvoll, einer dunklen Wolke gleich, über dem Schiff. Anfangs zeigt das Getier noch eine gewisse naturgegebene Scheu und hält Abstand. Es dauert jedoch nicht besonders lange und die ausgehungerte Meute stürzt wie ein schwarzer Felsbrocken auf das Schiff herab. Dunkelheit bricht herein. Schon nach wenigen Minuten verschwindet auch der letzte Fisch – es ist eine Makrele – im Schnabel einer fettleibigen Möwe, die ein hämisches Grinsen im Gesicht zu tragen scheint. Einen Augenblick später wird sie von Frederike mit einem Ruder und den Worten »Drecksau, elendige« erschlagen. Das Grinsen, das die Möwe noch vor Kurzem im Gesicht getragen hat, scheint im Augenblick ihres Todes auf Frederike übergesprungen zu sein. Als wären sie über den Tod hinaus verbunden. Als würde sie in Frederike weiterleben. Als würde die Welt immer wieder aufs Neue in allem und jedem weiterleben. Sandra schlägt vor, die Möwe auf den Grill zu schmeißen und sie anschließend mit Punschglasur zu überziehen. Frederike sagt Ja zum Grill und Nein zur Punschglasur.
Eineinhalb Stunden später sitzen die beiden vollkommen entspannt vor dem unansehnlichen Gerippe des Seevogels, der wohl, wie so manch anderer, zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war und der Sandras Einschätzung nach selbst ohne Punschglasur wahrlich exquisit gemundet habe, wenn er auch etwas voluminöser hätte sein können. Zufrieden und einigermaßen satt gehen die zwei Ex-Schweißerinnen zu Bett. Erneut war es ein Tag voller unvergesslicher Erlebnisse und in jeder Faser ihrer kantigen Schweißerinnenkörper fühlen Sandra und Frederike, dass die Entscheidung, aufs Boot zu gehen, richtig war.
Während der Nachtstunden, ganz still und leise, nahezu unspektakulär, verlässt das Schiff den Rhein und gleitet in die Nordsee. Als Sandra und Frederike am nächsten Morgen an Deck kommen, befinden sie sich bereits auf offener See und inhalieren wie Medizin den Duft des Meeres, den nur die Natur so fein abstimmen konnte in all seinen salzigen Nuancen. Sie sind fasziniert von der scheinbar endlosen Weite der Wasserlandschaft. Auf der Landkarte hat die Nordsee nicht besonders groß ausgesehen. Welchen Eindruck wird erst der gewaltige Ozean hinterlassen? Gar nicht auszumalen.
Irgendwann ist es dann soweit. Der Atlantik breitet sich vor ihnen aus. Ein endloses Blau, das so dunkel und kräftig ist wie nichts, was sie zuvor je gesehen haben. Nicht einmal die Rindssuppe von Frau Honsi, der ehemaligen Hauswirtschaftslehrerin von Sandra, war derart dunkel und Frau Honsi war vielerorts bekannt für ihre kräftige Rindssuppe. So dunkel war sie, dass man den Grund des Tellers nur erahnen konnte. Sobald man den Löffel eintauchte, war dieser auch schon verschwunden und man hatte das Gefühl, als wäre der Stiel des Löffels das einzige, was man in der Hand hielt. Es wird erzählt, drei Bauarbeiter, die den Schulhof neu asphaltieren sollten, waren einst zum Mittagessen in Frau Honsis Klasse zu Gast. Als sie die Suppe vorgesetzt bekamen, weigerten sie sich zunächst, diese zu essen, da sie der Meinung waren, ihr Vorarbeiter hätte sich einen Scherz erlaubt und Teer aus der Asphaltier-Maschine mitkochen lassen. So dunkel könne doch keine Suppe sein, hieß es einstimmig. Erst als die Kinder anfingen zu essen, taten dies auch die Bauarbeiter. Sie waren überwältigt vom vorzüglichen Geschmack. Noch nie hatten sie eine derart gute Suppe gegessen.
Auch Sandra und Frederike sind überwältigt. Mit starrem Blick versuchen sie, die Tiefe des Ozeans zu durchdringen, mit dem Ziel, eine Schwachstelle zu finden, die die eigene kümmerliche Existenz rechtfertigen würde, angesichts dieser Perfektion. Als ihre Augen gesättigt sind und stumpf und nichts mehr aufsaugen können, weder Weite, noch Tiefe, noch Blau, wollen die beiden Seefahrerinnen ihren aktuellen Standort bestimmen. Mit Kompass und Seekarte ermitteln sie ihre Position und beginnen, spontan in Richtung Portugal zu manövrieren. Ihr Ziel ist Lissabon. Dort wollen sie Proviant aufnehmen, um den Atlantik zu überqueren und, wie einst die Konquistadoren, im fernen Amerika eine neue Heimat zu finden.
Zwei Stunden später ist alles anders. Das Schiff gerät in einen heftigen Sturm, der scheinbar nicht mehr aufhören will. Ganze drei Wochen lang wird es hin und her geworfen. Mal schwimmt es verkehrt, mal scheint es halb gesunken, dann droht es zu zerbersten. Als der Sturm endlich vorübergezogen ist, hat er die Träume, die Sandra und Frederike beflügelt hatten, einfach mit sich fortgerissen. Ihre Körper fühlen sich kalt und leer an und lediglich der Rumpf ihres Bootes ist vom Unwetter einigermaßen verschont geblieben. Der Rest ist von der aufgepeitschten See weggespült worden. Mit ein paar losen Planken bauen sie sich in den nächsten Tagen einen Unterstand, um der gewebefressenden Sonne auf offener See zu entkommen. Die zahlreichen Maisdosen und den Wasservorrat haben sie zum Glück nicht ans Meer verloren und so ist das Überleben gesichert.
Nach weiteren drei Wochen fangen die Halluzinationen an. Ob es an der einseitigen Ernährung, am ständigen Wellengang oder der erbarmungslosen Strahlungsenergie jenes Himmelskörpers lag, den die beiden irgendwann nur noch als Reaktor bezeichnen, lässt sich im Nachhinein nicht mehr genau beurteilen. Vermutlich ist es von allem ein bisschen. Zunächst bildet sich Frederike ein, sie sei ihr Kater Smörebröd und fordert Sandra auf, ihr alle Zähne mit einer Kneifzange, die sie an Bord gefunden hat, zu ziehen. Nur einer ganz vorne sollte übrig bleiben, genau wie bei ihrem alten Kater. Sandra erscheint das alles recht vernünftig und nur zwei Stunden später hat sie sich aus Frederikes Zähnen und einem Faden ihres zerrissenen T-Shirts eine Halskette geknüpft, die an das Leben und den Tod gleichermaßen erinnert. In den folgenden Wochen verstümmeln sich die zwei Frauen gegenseitig, spielen erfolgreiche spanische Seifenopern nach und fragen sich, wo zum Teufel nur die große Hoffnung geblieben ist, die die Reise angeblich mit ihnen angetreten haben soll.
Dann geraten sie erneut in einen Sturm. Er ist noch heftiger als der letzte und treibt das Schiff vor sich her wie trockenes Laub, das jeglichen Halt in der Welt verloren hat. Auf und ab, drunter und drüber. Mitten in der tiefsten, finstersten Nacht – sie ist annähernd so finster, wie die klare Suppe von Frau Honsi – passiert es dann. Eine riesige Welle bringt das Boot unwiderruflich zum Kentern und Sandra und Frederike werden einfach davongespült. Hinaus in die Dunkelheit, hinaus in die Welt.
Frederike ist die erste, die am nächsten Morgen wieder langsam zu sich kommt. Die beiden Frauen liegen wie auf den Rücken gefallene Junikäfer am hellen Sandstrand einer kleinen, mit Muscheln und Einsamkeit übersäten Bucht. Bewegungsunfähig wie umgestoßene Statuen, wie Sandburgen, die der Witterung kaum etwas entgegenzusetzen hätten. Weiter hinten stehen vereinzelt Palmen, die sich langsam mit anderen Bäumen mischen und in einen dichten dschungelartigen Wald übergehen. Es ist warm. Dicker Nebel, der in seinem Erscheinungsbild an Rauchschwaden erinnert, zieht vom Wald her Richtung Strand. Vollkommen desorientiert und mit kaum zu ertragenden Schmerzen im Mundraum beginnt Frederike sich langsam aufzurichten.