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sollte ausgerechnet Fortinbras gefangen sein?“

      Auch Mathilde meldete sich nun zu Wort, obwohl es ihr unzweifelhaft schwerfiel.

      „Das verstehe ich nicht également, mon chèr, bon soir, Vera, bon soir!“

      Vera begrüßte ihre Großeltern Mathilde und Vladimir ebenfalls mit Küsschen und verschwand im Badezimmer, wo sie sich so leise wie möglich ins Klo übergab. Mathilde lag mit leidender Miene, ihren Kopf in den Schoß ihres neuen Lebensgefährten Vladimir gebettet, einen feuchten Lappen auf der Stirn, auf dem Sofa, Veras Schlafplatz in der Küche. Sie wurde häufig von Migräneanfällen heimgesucht und auch wenn die Anfälle deutlich weniger und schwächer geworden waren, seit sie und Vladimir sich gefunden hatten, war sie doch nicht ganz von ihnen befreit. An diesem Abend also hatte die Migräne sie wieder erwischt.

      „Vladimir! Mein Kopfweh wird nicht besser, wenn ich verstehe nichts! Fortinbras hat doch gesiegt.“

      Vera kam mit gewaschenem Gesicht und noch immer zitternden Händen in die Küche zurück. Sie knabberte an einer verkümmerten Möhre aus der Kiste in der Vorratskammer. Die Kiste war wieder einmal fast leer, die kostbaren Möhren und Kartoffeln schwammen im Topf auf dem Herd. Sie wechselte einen Blick mit dem Kind.

      „Eben“, schaltete sich Ernèst wieder ein. „Er hat den Krieg gewonnen und das Land erobert.“

      „Aber genau darum geht es doch in diesem Gedicht“, argumentierte Vladimir. Er liebte solche Diskussionen und provozierte sie, wann immer er konnte. Seine Familie diskutierte allerdings nicht aus bloßer Gefälligkeit, sondern aus Interesse und dem Mangel an vergleichbaren intellektuellen Herausforderungen ebenfalls nicht ohne Vergnügen über Vladimirs Einwürfe und Vorträge. Der setzte nun zur Tiefenanalyse an:

      „Er hat gewonnen, aber ist lebenslänglich verurteilt, der Mächtige zu sein. Er weiß selbst zu genau, dass er nichts ist, Staub, ein Bäuerchen der Geschichte! Gefangen in diesem Wissen und dieser, seiner Welt. Unserer Welt.“

      „Wie hat deine Frau das bloß ausgehalten, das du so schlau bist!“, seufzte Mathilde und meinte es ernst. Dass er die offene Frage zu Fortinbras glaubhaft beantwortet hatte, erleichterte sie tatsächlich und linderte ihre Migräne. Sie streichelte sanft seine Wange.

      „Hat sie nicht. Sie ist doch abgehauen!“, erwiderte Vladimir mit einer Spur Verbitterung in der Stimme.

      „Weil du ihr zu schlau warst! Sicher!“, spottete Ernèst.

      Vladimir mochte nicht über das Thema reden. Dennoch konnte er seinem Sohn die Anspielung auf das schmerzhafteste Kapitel seiner Lebensgeschichte nicht einfach durchgehen lassen.

      „Dafür hast du einen Kinnhaken verdient, Bengel!“ Ernèst grinste. Seine Mutter hatte getan, was sie für richtig hielt. Darüber musste man nicht schweigen, fand er. Jedenfalls nicht in den eigenen vier Wänden, soweit man angesichts des riesigen, mit einer halben Tischtennisplatte einigermaßen verschlossenen Loches in der Außenwand der Küche von vier Wänden sprechen konnte. Allerdings musste man sich jetzt, wo der Eintopf fertig war, auch nicht darüber streiten. Er packte gerade die heißen Topfgriffe mit Tüchern in seinen Händen, als seine Frau die Wohnungstür öffnete, die direkt in die Küche führte, ihre schwere, abgewetzte Ledertasche abstellte und erleichtert durchatmete. Seit ihrer Jugend litt Ola Kiljan unter Hüftschmerzen. Die Beweglichkeit ihrer beiden Hüftgelenke war mittlerweile so stark eingeschränkt, dass sie gerade noch Treppen steigen und auch sitzen konnte, doch auch das wurde zunehmend schwieriger und schmerzhafter für die Busfahrerin bei der Bovniker Verkehrsgesellschaft. Eine Operation oder ein anderer Job waren wohl unausweichlich.

      „Ola, du kommst gerade rechtzeitig, Liebes“, begrüßte Ernèst sie, wuchtete den Topf auf den Tisch und gab ihr ein Küsschen. Wortlos erhob sich Jan, küsste seine Mutter, die es kaum erwarten konnte, aus ihrer Busfahreruniform herauszukommen und setzte sich wieder, ohne den Blick vom Fernsehbildschirm gelöst zu haben.

      „Rechtzeitig?“ Ola lockerte ihre Krawatte. „Juhu, dann ist das das erste Mal für heute.“

      „Interessiert noch irgendjemanden die Weltsicht eines großen polnischen Denkers?“, warf Vladimir durchaus vorwurfsvoll in die Runde.

      „Der polnische Denker darf mitessen“, frotzelte Ernèst weiter.

      Ola schaute kurz zu dem Kind hinüber und tauschte dann mit Vera, Vladimir und ihrer Mutter Mathilde Begrüßungsküsschen aus, nicht ohne ihrer frisch verliebten Maman zuzuzwinkern, denn sie freute sich über das „junge Glück“. Ihre Mutter war seit vielen Jahren Witwe und nie, keine einzige Minute damit zurechtgekommen, allein zu sein, keinen Ehemann mehr zu haben. Ihre Trauer nach dem Unfalltod ihres Gatten war nicht von außergewöhnlich langer Dauer gewesen, daran lag es nicht, aber die Trauer war direkt übergegangen in einen Zustand völliger Hilflosigkeit und Verlorenheit. Sie konnte mit sich selbst einfach nichts anfangen. Nicht einmal das Familienleben der Kiljans, an dem sie wie alle anderen teilnahm und das an Herausforderungen nicht unbedingt arm war, konnte daran etwas ändern. Seit dem Tod ihres Mannes hatte sie wie eine Außerirdische auf einem fremden Planeten gelebt. Bis eines Tages Vladimir mit gepackten Koffern vor der Tür der viel zu kleinen Wohnung der Kiljans stand und Mathilde, die gerade allein zu Hause war, um Aufnahme bat. Der Vater ihres Schwiegersohns, ein weißhaariger Adonis mit künstlerischer Ader, hatte zuerst seine Frau an die Thunakis, dann seine Arbeit an die Pensionsgesetze verloren und suchte nun Gesprächspartner für seine intellektuellen Diskussionen. Das ewige, saudumme „WE KNOW!“ der Bovniker machte ihn wahnsinnig. Obwohl Mathilde und Vladimir sich schon seit Jahrzehnten kannten, traf sie in diesem Augenblick die Liebe wie ein Schlag. Das war keine drei Wochen her. Seitdem lebten sie als Paar mit den restlichen Kiljans in der kleinen Wohnung, auch wenn es Mathilde leichter fiel, Vladimirs Argumentationen zuzuhören, als ihnen etwas zu entgegnen.

      „Erklärt mir nach dem Essen, worum es geht, Kinder.“ Niemand störte sich daran, dass Ola mit „Kinder“ stets alle Familienmitglieder meinte, auch ihre Mutter und ihren Schwiegervater. Ein vorsichtiger Blick zu ihrem ungeduldig wartenden Mann machte ihr klar, dass sie ihre Uniform erst nach dem Essen loswerden konnte, wenn sie ihn nicht verärgern wollte. Die Suppe stand auf dem Tisch, Ernèst hatte bereits Platz genommen und auch die anderen sammelten sich um die Futterstelle. Immerhin ihre Uniformjacke zog Ola aus und spähte erwartungsvoll zu der Stelle neben der Wohnungstür, an der vor Wochen ein Kleiderhaken abgerissen war. Er lag seitdem neben Ernèsts Kochherd.

      „Ich werde den Haken bald anschrauben, Schatz“, rief Ernèst. „Hab gestern Dübel organisiert. Da kannst du eine Kuh dran aufhängen, so stark sind die!“ Ola seufzte, hängte die Jacke über ihre Stuhllehne, wusch sich rasch ihre Hände im Spülbecken und setzte sich.

      „Du zitterst wieder, Kleines.“ Ola beobachtete, wie umständlich Vera, die im Vergleich mit den anderen am Tisch kreidebleich aussah, mit der Suppenkelle hantierte. „Du wirst krank.“

      Vera schüttelte beschwichtigend den Kopf, ihre Haare fielen ihr vor die Augen. Früher hatte sie das nicht gestört, aber seit sie AR angehörte, machte es sie wahnsinnig. „Ich muss mir endlich ein Haargummi besorgen“, dachte sie. Dann wehrte sie den Freundlichkeitsangriff ihrer Mutter ab: „Und du wirst noch verrückt, wenn du mit den Kurvereien so weitermachst.“

      „Kleines, du weißt, wie es aussieht. Es ist unmöglich, eine Buslinie normal zu bedienen, wenn einem jeden Moment ein Jeep vor den Kühler fallen kann oder eine Horde schießwütiger Irrer mit Maschinenpistolen ...“

      „Helden! Ola, Helden!“, mahnte Ernèst grinsend, doch sie rollte bloß mit den Augen und sprach ungestört weiter: „… jede zweite Kreuzung blockiert. Da können sie so große Helden sein, wie sie wollen, ich muss doch anhalten und warten, bis sie Feierabend machen oder … ihr wisst schon.“

      „Sag ich doch, Mumi.“ etwas zu heftig pustete Vera auf ihren Suppenlöffel, die Suppe spritzte über ihren Teller und den halben Tisch. Jetzt rollte sie mit ihren Augen.

      „Dreck!“

      „Wenn ich nicht wüsste, dass du nicht meine Suppe meinst“, grinste ihr Vater und tupfte mit seinem Küchentuch die Spritzer vom Tisch.

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