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wie Vera, aber sie mussten ja auch ihre Identität nicht verbergen. Sie führten nichts Unerwünschtes im Schilde, wollten ihre Besorgungen machen oder die Ansprache des Präsidenten hören, oder beides. Vera führte etwas im Schilde. Sie trug eine Waffe in ihrem Einkaufsbeutel, eine neu entwickelte, chemische Waffe, die sie an diesem Abend zum ersten Mal einzusetzen gedachte. Der Aufdruck „WE KNOW!“, der in Bovnik Tausende Einkaufsbeutel zierte und auch sonst allgegenwärtig war, widersprach in seiner keinen Widerspruch duldenden Selbstgerechtigkeit Veras Überzeugungen auf fundamentalste Weise, doch zur Tarnung taugte der Beutel ausgezeichnet. Veras Puls ließ die Adern an ihren Schläfen hervortreten, das spürte sie, und die lockige Perücke wirkte in der warmen Abendluft beinahe wie eine Wollmütze; schon rann ein Schweißtropfen in Veras linkes Auge, das gleich ein wenig brannte. Sie pustete den Tropfen beiseite, doch er brannte weiter. Sie war beinahe am Ziel angekommen, einer wegen Kriegsschäden gesperrten und mehrfach verwinkelten Gasse etwas oberhalb des Platzes, auf dem sich schon etwa dreitausend Menschen vor dem Rednerpodium versammelt hatten. Mit gleichmäßigen Schritten und gerade so eilig, dass sie noch nicht auffiel, setzte sie ihren Weg fort. Vera sammelte ihre Gedanken und erinnerte sich daran, was ihr Plivia, ihre Trainerin, eingeschärft hatte: „Gesteh dir deine Nervosität ein, bevor du deine Aktion ausführst. Sag es leise für dich. Das verschafft dir wieder einen klareren Kopf und du kannst dich besser konzentrieren. Jeder ist nervös vor so einer Sache, gerade beim ersten Mal.“ Dann hatte Mikos, der Anführer, Veras verständnisloses Gesicht als Aufforderung missverstanden, ihr die biologisch-psychologischen Hintergründe zu erläutern und ihr etwas vom „präfrontalen Kortex“ erzählt, der durch die Formulierung der Angst geleert und wieder zur Verwendung freigegeben wird, wobei ihm Vera nicht folgen konnte, sich jedoch immerhin einprägte, was zu tun sei. Also sagte Vera nun ganz leise: „Ich bin verdammte Scheiße Scheiße Scheiße nervös.“ Das traf zu, sie war ungeheuer nervös. Denn nicht nur war ihre Aktion geeignet, sie geradewegs in eine Gefängniszelle zu befördern, sie sollte auch ihre Eintrittskarte in den inneren Kreis der Aktivisten von AR sein, eine Art Reifeprüfung der Bovnik-Guerilla. Deshalb führte sie die Aktion auch ganz allein durch. Wochenlang hatte sie dafür geübt, jeden Tag vor oder nach der Arbeit war sie zum alten Stadtweiher gegangen, um Frisbee zu spielen. Ein, maximal zwei andere aus der Guerilla, deren Namen sie nicht kannte, hatten mit ihr zusammen trainiert. Die ausgemergelten, mit Schutt übersäten Wiesen beim alten Stadtweiher waren ein beliebter Platz für die wenigen Frisbeespieler, Jongleure und Diabolo-Fanatiker in Bovnik. Unmöglich, dort als Staatsfeinde aufzufallen, wenn man nichts tat, als Frisbee zu spielen. Nur die letzten zwei Wochen hatte Vera in einer der vielen leer stehenden Fabrikhallen geübt, denn das Frisbee war nun mit einer Komponente versehen worden, die entscheidend für den Erfolg der Aktion war, es aber unmöglich machte, damit in der Öffentlichkeit in Erscheinung zu treten. Sie sorgte dafür, dass die Moleküle des Frisbees, war es einmal aus der stickstoffgefüllten Schutzhülle entnommen, mit der Luft reagierten und auskristallisierten. Nach etwa dreißig Sekunden wurde der flexible Stoff, der mit unterschiedlichen Wirkstoffen versetzt werden konnte, zu einem hochsteifen, glasartigen, aber noch immer sehr leichten Material, das ab einem gewissen Grad von Erschütterung zu Millionen feiner Krümel zerfiel. Der Wirkstoff für den heutigen Abend, der Weltpremiere des Guerilla-Frisbees, war das Glanzstück des Chemikers, der auch das Material des Frisbees entwickelt hatte. Vera wusste nicht, wer dieser Chemiker war (er hieß Pol) und wie er aussah (er sah langweilig aus), sie wusste nur, dass dieses Frisbee den Wirkstoff enthielt. Diesen Chemiker Pol kannte Vera allerdings schon seit Längerem, wenn auch aus reinem Zufall und ohne zu wissen, dass der träge junge Mann mit dem stets etwas verstörten Gesichtsausdruck, dem sie fast täglich begegnete, eben dieser Untergrund-Chemiker war. Er belieferte nämlich die Espresso-Bar, in der sie arbeitete, mit Süßgebäck. Pol wiederum wusste nicht, dass die langhaarige Brünette aus der Bar, mit dem breiten, ernsten, aber sympathischen Gesicht, mit der er gerne näher bekannt geworden wäre, ebenfalls dem Kreis der Aktivisten von AR angehörte und dazu ausersehen war, seine neueste Erfindung auf möglichst eindrückliche Weise der Weltöffentlichkeit zu präsentieren. Das gegenseitige Unwissen hatte Methode, diente den Aktivisten zu ihrem eigenen Schutz und zum Schutz davor, jemand anderen im Falle einer Verhaftung zu verraten. In einem Kleinstaat wie Bovnik war die Wahrscheinlichkeit, einander zu kennen, viel höher als in größeren Ländern. Daher sollten die einzelnen Aktivisten auch nicht mehr voneinander erfahren, als unbedingt notwendig war, und das war meist gleichbedeutend mit Nichts. Wie viele „Laborratten“ verfügte der Chemiker Pol nur über ein ausgesprochen kümmerliches Talent zu flirten, auch wenn er seinen Lebensunterhalt nicht als Wissenschaftler, sondern als Fahrer verdiente. Doch selbst wenn er ein attraktiver Charmeur gewesen wäre, hätte er bei Vera auf Granit gebissen. Sie hatte anderes im Kopf, als ihren zahlreichen unerfreulichen Erfahrungen mit Liebesabenteuern ausgerechnet während ihrer Initiation als Widerstandskämpferin eine weitere hinzuzufügen. Sie kannte ihre Unzulänglichkeiten im zwischenmenschlichen Bereich mittlerweile sehr gut – zu gut womöglich, um darin noch irgendeine Perspektive zu erkennen. So blieb dem schüchternen Chemiker immerhin eine kühle Zurückweisung erspart und das Thema „Backwaren“ konnte, jedenfalls vorerst, in seinem Bewusstsein ohne größere emotionale Enttäuschung überdauern, sodass er eines Morgens während einer Auslieferungstour auf die Idee kam, einmal ein Werkzeug des Widerstands zu backen und es bis zur Anwendungsreife weiterzuentwickeln. Diese unkonventionelle Herstellungsmethode musste allerdings eine Ausnahme bleiben, denn er wollte vermeiden, dass die Spuren, die seine Entwicklungen nach ihrem ordnungsgemäßen Gebrauch hinterließen, Verbindungen zu Bäckereien – und damit zu ihm selbst – nahelegten.

      Vera erreichte die Gasse. Der Zugang war mit einem Baugerüst verstellt, das jeden unerwünschten Blick von der Straße verhinderte. Sie vergewisserte sich, dass niemand sie sah und kletterte zwischen den Gerüststangen und Abdeckfolien hindurch. Die kaum zwanzig Meter lange Gasse führte zu einer steilen Treppe, die an ihrem Fuß ebenfalls gesperrt worden war. Die Häuser links und rechts hatten keine Fenster zur Gasse hin. Vera war allein, und wenn sie der Treppe am Ende nicht zu nahe kam, konnte niemand sie sehen, auch nicht vom Siegesplatz aus, denn der blieb hinter einem größeren Gebäude verborgen, was der Grund dafür war, dass Vera diese Stelle ausgesucht hatte – sie wurde während der Veranstaltung nicht vom Geheimdienst überwacht. Gegenüber, hinter dem Platz und seinen ihn dort einfassenden Häusern, fielen die Karstfelsen ohnehin steil zum Meer und zum Hafen ab. Nun kam alles auf Veras Training an. Mit einem kleinen Fernrohr spähte sie aus dem Schatten hinüber zu den alten Platanen am westlichen Rand des Platzes. Ihre mächtigen Kronen ragten gerade bis in Veras Höhe. Ihre Blätter bewegten sich nur leicht – die Brise wehte vom Meer her, ideal für Veras Mission. Den Platz selbst konnte Vera nicht sehen, aber das brauchte sie auch nicht. Sie hatte sich die Position des Rednerpodestes schon auf dem Weg hierher einprägen können und kannte die Ausmaße des Platzes und der ihn umgebenden Gassen ohnehin seit ihrer Kindheit. Vera musste jetzt nur den richtigen Moment abwarten. Sie konnte hören, wie sich der Platz unter ihr immer weiter füllte. Es klang beinahe wie das Summen eines Bienenstocks oder das beständige Blöken und Meckern einer großen Ziegenherde, aber wahrscheinlich floss Veras eigene Verachtung der Volksbewegung in ihre akustische Observation stärker ein, als es unter anderen Umständen der Fall gewesen wäre. „We know!“, dachte sie. „Gar nichts wisst ihr. Schon gar nicht, was ihr gleich erleben werdet!“ Nachdem die Begrüßungsmusik, die aus einigen gewohnt schmalzigen Songs der neuen CD des Bovniker Schlagerstars Kris Bright bestand, endlich abrupt ausgeschaltet worden war, trat die beliebteste Fernsehmoderatorin Bovniks ans Mikro und begrüße im Namen der Staatsführung die Menge, die ihr frenetisch zujubelte. „We know! We know! We know!“ Das konnte ebenso gut heißen, dass sie alles, was hier gesagt werden würde, schon tausendmal gehört hatten, dachte Vera. Aber so war es wohl kaum gemeint. Nun bat „Adorana“, wie sie von ihren Fans genannt wurde, den Bovniker Bürgermeister ans Mikrofon. Das bedeutete, dass alle hochrangigen Regierungsmitglieder, die sich nicht gerade in irgendwelchen „Sitzungen“ um weitere Millionen Hilfsgelder bereicherten, nun auf ihren Plätzen hinter dem Podium sitzen mussten, inklusive des Präsidenten, der Regierungschefin und der meisten Ministerinnen und Minister, der Armeeführung und der obersten Richterschaft. Jetzt, solange der Bürgermeister, ein bedeutungsloser und korrupter Trottel, das Mikro besetzte und die wirklich wichtigen Leute still auf ihren Stühlen unter dem in etwa sechs Metern Höhe aufgespannten Schutzdach hockten, musste es passieren. Vera atmete tief durch, konzentrierte sich. Dann riss sie die Transporthülle

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