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Alarm auszuschalten. Ich war es nach zweimonatiger Auszeit gar nicht mehr gewohnt, mich so früh aus dem Bett zu bewegen. Anfang Juni hatte ich meinen letzten Schultag an der Geesthachter Realschule absolviert. Nun begann ein neuer Lebensabschnitt für mich. Ich entschied mich für drei Jahre Verlängerung auf der Schulbank und schrieb mich im Sommer am Wirtschaftsgymnasium im Hamburger Stadtteil Bergedorf ein.

      Bevor meine Aufweckmaschine die zweite Runde einläutete, quälte ich mich aus den Federn und tapste schlaftrunken ins Bad. Es war jetzt zwanzig vor sieben und im Hause Walther herrschte schon Hochbetrieb. Meine Eltern saßen schon in der Küche und frühstückten. Mein jüngerer Bruder Philipp erledigte gerade seine Hausaufgaben, weil er am Wochenende seine Zeit sinnvoller verplant hatte. Mit fast dreizehn Jahren vertrat er die Auffassung, dass ihm die Sams- und Sonntage heilig waren. Philipp hatte schon damals das richtige Gespür für die perfekte Work-Life-Balance.

      Ich klappte den Klodeckel hoch und hockte mich auf die Schüssel, dort pennte ich etwa eine Viertelstunde weiter. Der frühe Morgen war die einzige Tageszeit, zu der ich mein kleines Geschäft im Sitzen ausführte. Anschließend freute ich mich auf die warme Dusche. Während ich mir mit mechanischen Bewegungen meine Haare wusch und den restlichen Körper einseifte, schweiften meine Gedanken wieder ins Träumeland ab.

      Mein Unterbewusstsein freute sich riesig, endlich dem Kleinstadtmief zu entfliehen und die Luft der großen weiten Welt einzuatmen. Ich beendete meine Morgentoilette mit Zähneputzen und zog mich danach an.

      Kurz bevor meine Eltern sich auf den Weg zur Arbeit begaben, überreichten sie mir eine kleine selbstgebastelte Schultüte und wünschten mir, für meinen ersten Tag, viel Glück. Ich freute mich sehr über ihre Geste, obwohl sie anfangs nicht gerade davon begeistert waren, mir drei weitere Jahre Taschengeld zu bezahlen. Außerdem hatten sie noch die Mehrkosten für die Busfahrkarte zu tragen. Vorher fuhr ich ja immer mit dem Fahrrad zu meiner alten Schule.

      Nun stand ich also mit meinem gewöhnungsbedürftigen Look - ein im Sixties-Style anmutendes Jackett, weite Karotten-Jeans, schwarze Dreiloch-Martens und ein schlichtes schwarzes T-Shirt - an der Bushaltestelle und wartete. Wir hatten Montag, den 11. August 1986. Ich war viel zu früh dran. An meinem ersten Tag wollte ich nicht gleich zu spät kommen. Als der Bus endlich kam und ich einstieg, entdeckte ich einige bekannte Gesichter. Durch den regen Austausch während der 25-minütigen Bustour wusste ich schon, dass es aus meiner alten Schule keinen Mitschüler in meiner neuen Klasse gab. „Naja“, dachte ich: „Vielleicht taucht doch noch ein bekanntes Gesicht aus meiner Vergangenheit auf.“ Aber auch diese Hoffnung starb, nachdem unsere Klassenlehrerin Frau Förster das Klassenzimmer zu Stundenbeginn betrat.

      Kurz vor unserer Lehrerin stürzte Nils in die Klasse und setzte sich mangels Alternativen auf den freien Platz rechts neben mir. Nils und ich hatten eine Gemeinsamkeit, wir hatten beide von allen Mitschülern die längsten Anfahrtswege zur Schule. Allerdings kam Nils mitten aus Hamburg, aus dem Stadtteil Bramfeld. Er hatte sich zu spät angemeldet, so blieb für ihn nur noch ein Schulplatz in Bergedorf. Damit hatte er mit öffentlichen Verkehrsmitteln jeden Tag eine ziemlich beschwerliche Anreise. Wir verstanden uns auf Anhieb gut, obwohl uns Welten trennten. Er war der trendige City-Boy und ich das Landei.

      Da ich etwa zehn Kilometer östlich von Hamburg entfernt wohnte, nannten mich später viele aus Spaß „Zoni“. Das Vorurteil wurde durch meinen unkonventionellen Kleidungsstil quasi noch verstärkt. Tatsächlich war die Innerdeutsche Grenze – der sogenannte eiserne Vorhang – nur etwa 20 Kilometer von Geesthacht entfernt. „Na, heute wieder ‘nen Visum für einen schönen Abstecher in den Westen bekommen? Bist du eigentlich bei der Stasi oder warum lassen sie dich täglich raus?“, bekam ich morgens öfters von meinen lieben Klassenkameraden zu hören. Ich dachte mir, wenn die es so wollen, dann gebe ich dem Ganzen noch ein wenig Futter und trug am Revers meiner Jacke fortan einen roten Stern mit Hammer und Sichel. In einem Laden im Schanzenviertel besorgte ich mir einen knallroten Kapuzenpulli mit dem Aufdruck CCCP. Es war damals, zu Zeiten des kalten Krieges, das Länderkürzel der größten Ostblock-Nation, der Sowjetunion. Danach verstummten die morgendlichen Witze relativ geschwind und ich hatte wieder meine Ruhe.

      Unsere Klassenbezeichung lautete WG 11C und wir waren zu Beginn insgesamt 24 Schüler. Das übliche Einschulungsritual ließen wir im Haupttrakt der Schule über uns ergehen. Nach einer etwa zweistündigen Einführung, bei der wir unseren Stundenplan bekamen und uns gegenseitig vorgestellt hatten, wechselten wir in ein vom restlichen Schulgelände abgelegenes Gebäude, um unseren tatsächlichen Klassenraum zu beziehen. Der Bau stammte aus der Jahrhundertwende und hatte auch den Charme eines altehrwürdigen Gemäuers. Gegenüber war gleich die Waldorfschule. Für unsere weitere Schulzeit erwies sich der Auszug in die Dependance als wirklicher Volltreffer für eine kreative Pausengestaltung.

      Unser Klassenverband zeigte sich ziemlich schnell als sehr heterogener Haufen, was Ansichten, soziale Herkunft, Modestil, Musikgeschmack, Altersstruktur, Charakter und Leistungsniveau anging. Es war daher unvermeidbar, dass sich unterschiedliche Gruppen zusammenfanden. Durch Nils hatte ich das Glück, zunächst bei den coolen Kids zu landen. Bis zu den Herbstferien verschoben sich die Gruppen aber noch einige Male. In den ersten zwei Monaten erhielt die Klasse durch einige Ab- und Zugänge nochmals ein neues Gesicht. Die einen begannen kurzfristig dann doch eine Ausbildung oder hatten gemerkt, dass Wirtschaft nicht unbedingt ihre Obsession war.

      Ich hatte weiterhin auf der einen Seite Nils neben mir sitzen und auf der anderen Michael Hellmann. Dieser Michael war 17 Jahre alt und hatte etwas längere in der Mitte gescheitelte blonde Haare, einen dezenten Schnurrbart und war trotz seiner leichten O-Beine etwas größer als ich. Michael trug immer enge Jeans, hohe Turnschuhe, eine schwarze Lederjacke und stand auf Hardrock und Heavy Metal. Diese Tatsache brachte ihm unvermittelt den Spitznamen „Mettel“ ein. Andy saß zu diesem Zeitpunkt neben dem charismatischen Ernst direkt vor dem Lehrerpult. Ernst und Andy waren die beiden Senioren in unserer Klasse. Andy war zu dem Zeitpunkt bereits 18 und Ernst sogar fast 19 Lenze jung. Die beiden hatten dadurch den Vorteil, dass sie sich für Fehltage und permanentes Zuspätkommen selbst die Entschuldigungen schreiben konnten, weil sie beide volljährig und damit nicht mehr schulpflichtig waren. Besonders Ernst nutzte diesen Umstand des Öfteren aus.

      Ernst war schon ein sehr spezieller Typ. Wir nannten ihn Ernie, damit hatte er auch überhaupt keine Probleme. Von den Lehrern mit Ausnahme von Frau Förster erwartete er allerdings, gesiezt und mit „Herr Meinhardt“ angesprochen zu werden. Darauf wies Ernie den Lehrkörper auch in aller Regelmäßigkeit und mit entsprechendem Nachdruck hin. Er gehörte zu der Jugendgruppierung der Mods und stand auf Musik und Lifestyle der sechziger Jahre. Mit seinen guten Beziehungen war er auch unsere Bezugsquelle für nicht ganz legale Highmacher.

      Andy hingegen kleidete sich zu der Zeit wie ein 40-jähriger Banker mit Buntfaltenhosen, Poloshirts, feinen Lederslippern und er trug seine Haare relativ kurz mit einem schmierigen Seitenscheitel. Die Frisur wirkte aber alles andere als modern. Den Anspruch hatte Andy zu der Zeit ohnehin nicht. Es wirkte immer so, als ob Mutti ihm morgens noch die Klamotten für den Tag herauslegen würde. Die Verbindung, die Ernie, Mettel und ich hatten, war die Liebe zur Musik. Auch, wenn wir auf unterschiedliche Richtungen standen, so hatten wir doch eine Basis. Wir interessierten uns nicht für den Mainstream. Ich mochte sowohl die Musik aus den Sechzigern und Siebzigern aber auch Independent, Punk, New Wave und elektronische Musik. Meine Lieblingsbands zu der Zeit waren Depeche Mode, The Cure, U2, INXS, The Smiths, Deep Purple, Black Sabbath, Eric Burdon & The Animals, The Who, Queen, The Ramones, Pink Floyd, The Clash, Beastie Boys, Billy Idol, The Doors, The Yardbirds, Thin Lizzy, Gary Moore und die Rolling Stones, um mal einige bekanntere Beispiele meiner damaligen Helden zu nennen.

      Tja, wie passte Andy da jetzt hinein? Der Andy, der mir, mehr als 25 Jahre später, schräg gegenüber auf dem Sofa sitzt und sich tierisch über ein unnötiges Gegentor unseres Vereins in der 35. Spielminute ärgert. Sein Musikgeschmack beschränkte sich damals weitestgehend auf die Charts. Er stand ganz besonders auf Nena und Samantha Fox, aber nicht weil die beiden so wunderschön sangen, sondern weil sie ganz andere Vorzüge hatten. Ein Argument, das wir anderen durchaus nachvollziehen konnten. Außerdem war Andy der Einzige unserer Combo, der einen Führerschein und Zugriff auf einen fahrbaren Untersatz hatte.

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