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      „Nö, mach mal ruhig. Ich lass mich überraschen“, antwortete ich.

      Ernie legte zur Einstimmung auf das Konzert den Soundtrack von Quadrophenia auf. The Who hatten wesentliche Teile der Musik des 1979 erschienenen Kultfilms geschrieben. Er erzählte die Geschichte zweier rivalisierender Jugendgangs – den Mods und den Rockern – in den frühen Sechzigern in England. Es ging um Liebe, Freundschaft, Freiheit, Jugendkult und der Suche nach dem richtigen Platz im Leben. Also alles Themen, die uns damals als Heranwachsende mehr als alles andere interessierten. Die Filmmusik war wirklich fabelhaft und inspirierend.

      Leicht zugedröhnt und in bester Feierlaune machten wir uns irgendwann auf den Weg ins Uni-Viertel. Wir waren pünktlich zum ersten Gig einer jungen Hamburger Band im Logo. Ihr Sound war eine gute Mischung aus „The Small Faces“ und „The Sonics“. Die Stimmung brodelte und das Publikum ging richtig mit. Jede Combo hatte etwa eine halbe Stunde Zeit für ihren Auftritt. Es waren rund zehn verschiedene Musikformationen angekündigt. Ich las die Bandnamen und ich kannte keine von ihnen. Sie nannten sich „The Pussys“, „Lover Boys“ oder „Drunk Pirates“. Ernie meinte, dass viele Bands schon nach ihrem ersten Auftritt ihren Bandnamen wieder änderten, daher kannte er auch nur ganze zwei Bands, die er zuvor schon einmal hier gesehen hatte. Die Musikrichtungen, die von den einzelnen Gruppen gespielt wurden, waren so vielfältig, wie das Publikum. Wir hörten an dem Abend Beat, Punk, Ska, Rock & Roll, Blues und Heavy Metal.

      In den Achtziger Jahren gab es viele unterschiedliche Jugendgruppierungen, die sich zum Teil untereinander nicht besonders mochten. Alleine an diesem Abend im Logo waren neben einigen Normalos wie mir, Teds, Mods, Punks, Rastas, Metal Heads und Skins im Zuschauerraum. Alles war friedlich und feierte. Das war aber nicht immer so. Gerade bei den sogenannten Skinheads gab es einige Unterschiede. Durch die Presse geisterten vermehrt Berichte über Glatzen, die der rechten Szene angehörten. So entstand ein Bild in der breiten Öffentlichkeit, dass jeder Skinhead ein Neonazi sei, dabei waren die Ursprünge dieser Gruppierung komplett unpolitisch und entwickelte sich aus der Arbeiterbewegung der Sechziger Jahre in England. Hier gab es schon damals viele Einwanderer aus der Karibik und die Ska-Musik der Skins entwickelte sich aus einem Gemisch jamaikanischen Reggaes und britischen Punks. Es war absolute Gute-Laune-Musik. Irgendwann entdeckten dann auch deutsche Neonazis diesen reduzierten und martialisch anmutenden Look der Skinheads für sich. In den Achtzigern verbreiteten sich diese neofaschistischen Skins wie eine Epidemie im ganzen Land. Leider waren auch viele dieser Nazi-Arschlöcher plötzlich auf der Tribüne meines geliebten HSV zu sehen und beschädigten damit nachhaltig das Image der normalen Fans des Vereins. Es wurden plötzlich alle HSVer als Neonazis tituliert. Diese Entwicklung verschärfte sich auch dadurch, dass politisch linksgerichtete Gruppierungen vermehrt die Stehplatzränge des FC Sankt Pauli besiedelten und damit ein bis heute gültiges Feindbild dieser rivalisierenden Hamburger Fußballclubs etablierten. Die meisten Fußballfans verfolgten keine der beiden extremen politischen Ideologien, wurden aber, je nachdem welchen Verein sie unterstützten, dem entsprechenden Lager zugeordnet.

      Warum gerade die rechtsradikalen Skins so einen Zulauf zu der Zeit verzeichneten, konnte ich mir nicht erklären. Das Phänomen war auch nicht auf die sogenannten bildungsfernen Schichten reduziert. Selbst bei uns auf dem Gymnasium gab es immer mehr Leute, die plötzlich so herumliefen und nationalsozialistische Parolen in die Gegend posaunten. Einer von ihnen war mein Mitschüler Ludger, der zuvor als Popper herumstolzierte und im Laufe des Schuljahrs immer mehr sein Äußeres und den Klamottenstil veränderte. Das alleine war in unserem Alter eigentlich nichts Besonderes. Ich selbst hatte meinen Stil mehrfach modifiziert und kombinierte Kleidung der Punks, Popper und Mods miteinander. Ich übernahm aus jeder Jugendkultur die Elemente, die mir gefielen. Was mich an Ludgers Verwandlung am meisten störte, war sein Gesinnungswandel und dass er plötzlich mit Neonazi-Propaganda der NPD ankam. Ansonsten kamen wir eigentlich gut miteinander klar. Auch er hatte sofort einen Kosenamen bei uns. Seinen nicht so gängigen Vornamen kürzten wir gerne ab und nannten ihn Lude, was ihn ziemlich verärgerte. Seine ablehnende Reaktion auf seinen Spitznamen war nachvollziehbar, weil im Hamburger-Kiezslang das Wort Lude auch Zuhälter bedeutete. Wir fanden dieses Wortspiel witzig und schließlich ergab er sich irgendwann seinem Schicksal.

      An diesem Abend waren im Logo weder erkennbare Neonazis noch Zuhälter anwesend, die unsere gute Stimmung hätten beeinträchtigen können. In einer kurzen Umbaupause auf der Bühne gingen wir zum Tresen und bestellten uns Gin Tonic. Ernie zauberte ein paar Pillen aus der Tasche und schaute mich grinsend an.

      „Na, auch eine?“

      „Was ist das denn für ein Zeug?“, wollte ich von ihm wissen.

      „Ephedrin! Das putscht richtig auf!“

      „Nö, lass mal. Ich muss morgen noch Fußball spielen und ich weiß nicht, wie der Kram bei mir wirkt. Ich bleibe beim Alk!“

      „Kein Problem, war ja nur ein Angebot.“

      „Danke Ernie, vielleicht ein anderes Mal.“

      Ernie schmiss sich zwei Pillen ein und nahm danach einen kräftigen Schluck von seinem Longdrink. Nach ungefähr einer Viertelstunde wirkte das Zeug bei ihm und er kam richtig in Fahrt. Im Laufe des Abends warf er noch ein paar von seinen Zauberdrops ein. Wir hatten ganz schön getankt. Kurz nach Mitternacht beendete die letzte Band mit einer genialen Ska-Version des Dead Kennedys-Klassikers „Too drunk to fuck“ das Konzert. Eine Feststellung, die auch für Ernie und mich galt, als wir beide ziemlich besoffen aus dem Logo taumelten.

      Ernie war schon, während des Konzerts, kurz nach draußen verschwunden und musste sich mehrfach übergeben, weil ihn der Mix aus Alkohol und Medikamenten doch leicht überforderte. Er merkte dabei nicht, dass er einen etwa zwei Meter großen Punk, der ebenfalls kotzen war, direkt auf die Stiefel spuckte. Der Punk war zu Ernies Glück so breit, dass er die Verschmutzung seiner Schuhe nicht mal wahrnahm.

      Wir torkelten zur U-Bahn und kamen, nachdem wir zunächst in die falsche Richtung gefahren waren, nach geraumer Zeit doch auf der Reeperbahn an. Ich trottete Ernie einfach hinterher. Wir gingen die Davidstraße in Richtung Hafen herunter. Anschließend bogen wir rechts in die Bernhard-Nocht-Straße und rannten diese fast bis zum Ende durch. Wir stoppten direkt vor ziemlich bunt gestalteten Abbruchhäusern. In Richtung Wasser gingen wir eine Treppe halb hinab und betraten durch einen Seiteneingang eines der Häuser. Damals ahnte ich nicht, dass Ernie mit mir in den berüchtigten Hafenstraßen-Häusern feiern wollte. Das begriff ich erst, als wir tatsächlich davor standen. Besonders 1987 brachen immer wieder Krawalle aus, bei denen die Hausbesetzer und die von der Stadt entsendeten Ordnungshüter heftige Schlachten miteinander austrugen. So entwickelte sich die Hafenstraße damals zu einem Symbol des Widerstands und zog natürlich Punks, Linke und politisch Andersdenkende magisch an. Die Partys dort waren, trotz der politischen Ambitionen, deutschlandweit legendär und hatten Kultstatus.

      Ernie und ich kifften, soffen und ließen es richtig krachen. Irgendwann waren wir jenseits von Raum und Zeit. Völlig fertig pennte ich irgendwo auf einem ranzigen Sessel ein. Viele Stunden später erwachte ich mit einem echt gammligen Geschmack im Mund, enormen Kopfschmerzen und komplett desorientiert.

      „Verdammte Scheiße, wo bin ich hier eigentlich“, dachte ich. „Und wie spät ist das?“ Als ich meine Gedanken ein wenig sortiert hatte, konnte ich mich dunkel an die gestrige Nacht erinnern. Plötzlich fiel mir ein, dass ich heute noch ein Fußballspiel hatte. Ich war in irgendeiner Abbruchbude am Hamburger Hafen und hatte immer noch keine Ahnung, wie spät es war. Ich guckte mich um, ob ich Ernie hier irgendwo entdeckte, aber der war nicht aufzufinden. Überall lagen Schnapsleichen herum, die selig ihren Rausch auspennten.

      „Kacke, wie finde ich hier nur heraus?“, fragte ich mich. Nach kurzer Erkundung der Lage fand ich relativ zügig das Treppenhaus und den Ausgang. Als ich im Freien stand, bemerkte ich schmerzlich den herrlich blauen und wolkenfreien Junihimmel über Hamburg. Mich blendete die Sonne so extrem, dass ich automatisch die Augen zukniff. Die frische Luft tat mir hingegen sichtlich gut und ich war bemüht, auszumachen, in welche Richtung ich jetzt musste. Vorher kontrollierte ich meine Taschen, ob ich noch alle meine Habseligkeiten beisammen hatte. Ich fand meinen Haustürschlüssel, einen Zehn-Mark-Schein

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