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Die Schuldfrage. Astrid Rodrigues
Читать онлайн.Название Die Schuldfrage
Год выпуска 0
isbn 9783742797926
Автор произведения Astrid Rodrigues
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Wie cool, denk ich bei mir. Das artet ja langsam zu einem Besäufnis aus.
„Bring mir ein Glas Sekt aus dem Kühlschrank mit, da steht noch eine offene Flasche von heute Morgen.“ Klaus sieht mich verwirrt an.
„Wie, von heute Morgen? Sag mal, Mama, trinkst du?“
„Nur gelegentlich.“, versuche ich Klaus zu beruhigen. „Ist gut für den Kreislauf.“
Mit dem Sekt und einer Flasche Bier kommt er aus der Küche zurück. Ines hat sich einen grünen Tee mit Zitrone gemacht.
„Also der Werner, das war ein ganz besonderer Mensch in meinem Leben. Zu seinen Klumpfüßen hatte er auch noch spastische Anfälle und Lähmungserscheinungen. Er war so dünn. Seine Hosen schlabberten an ihm und er war so ein lieber Kerl. Er hat mir dann geholfen, den Weg zur neuen Wohnung zu finden. Werner Warmbeck wohnte auch in diesem Haus. Er nannte es „das Zwiebackhaus“. Gleich nebenan war die Brandt Keksfabrik und es roch immer nach frisch Gebackenem. Meine Mutter war heilfroh, als ich endlich an der Haustüre klingelte. Werner stellte sich weltmännisch vor und dann ging der spindeldürre Junge humpelnd die Treppe hinauf. Gleich neben dem Haus war ein großer Sportplatz und auf der Stirnseite des Hauses prangte in bunten Farben die wunderschöne "Persilfrau". Sie machte Werbung für das Waschmittel Persil und den Weichspüler „IMI“. Zur Wohnung gehörte ein kleines Ladenlokal und Vater hatte sich entschlossen, dort einen kleinen Krämerladen zu eröffnen. Mutter sollte den Laden führen. Von seinem Schwager aus Eiserfeld wollte er Siegerländer Brot schicken lassen und es in dem Laden verkaufen. Onkel Heini packte in Eiserfeld das Brot in große Säcke und schickte es mit der Bahn nach Hagen zu einem Kleinbahnhof. Dort holte Vater es mit dem Fahrrad ab. Einen Teil der Brote verkaufte meine Mutter in dem kleinen Laden, der andere Teil wurde von Vater direkt zu den Kunden gebracht, die es zuvor bestellt hatten. Dazu hatte er eine Holzkiste an den Lenker seines Fahrrades gebastelt. Der kleine August konnte kaum darüber schauen und wenn er mal wieder einen der Hagener Berge mit seiner schweren Last erklimmen musste, war er froh, wenn wir Kinder von hinten beim Schieben halfen und es ihm leichter machten, seine Ware auszuliefern. Vom Verkauf der Brote konnte die Familie natürlich nicht leben. Vater arbeitete weiterhin als Laborant und Mutter verkaufte in dem kleinen Laden neben den Broten auch Bonbons der Firma Grün. Unsere Augen leuchteten, wenn wir vor den herrlich gefüllten Bonbongläsern standen.
Zwei Bonbons kosteten einen Pfennig, eine Tafel Lakritz mit dem Einmaleins kostete fünf Pfennige und eine Zuckerstange ebenfalls. Hermann stibitzte ab und zu ein Bonbon, ansonsten zog es ihn nach draußen, um mit seinen Freunden auf dem Sportplatz Fußball zu spielen. Hermann entwickelte sich zu einem richtigen Haudegen. Nachbarn schoben das auf die Berufstätigkeit meiner Mutter. Tuschelnd standen sie auf dem Bürgersteig und zerrissen sich das Maul. Vielleicht waren sie auch einfach nur neidisch.
Auf dem Sportplatz neben unserem Haus trafen sich nachmittags alle Kinder aus der Nachbarschaft. Wir spielten Völkerball oder Seilspringen. Auch Werner kam dazu. Er stand immer am Rand und schaute zu. Von der Hitlerjugend war er befreit. Krüppel wollte man da nicht. Ich habe immer davon geträumt, etwas zu erfinden, damit er auch endlich normal gehen und spielen kann. Auch Werner hatte große Träume. Er wollte Architekt werden und am liebsten bei Walter Gropius studieren. Er schwärmte für Gropius Schule für Architektur und Kunst und die von ihm entwickelten Wohnkonzepte im Baukastenprinzip. Werner war ein guter Schüler, fehlte aber oft in der Schule. Ich besuchte ihn manchmal und versuchte ihn aufzumuntern, wenn er mal wieder das Bett hüten musste. Armer Kerl.“
Ich nehme einen großen Schluck Sekt.
„Jetzt fällt mir wieder etwas ein. Das war im Jahr 1933. Das werde ich nie vergessen. Es hat sich so in mein Gehirn gebrannt. Ich kann alles noch vor mir sehen. Es war schrecklich und ich hatte große Angst.“
Kapitel 3
„Ich glaub, es wird Zeit, dass wir erst mal etwas essen.“
Ich hole schnell mein Portemonnaie und drücke Klaus einen Zwanziger in die Hand.
„Hol uns doch bitte drei Döner, dann essen wir in Ruhe und danach können wir weitersehen.“
Es geht schon auf den Abend zu. Ich werde langsam müde. Aber nun bekomme ich die Gedanken auch nicht mehr aus dem Kopf. Die Geister, die ich rief wollen befriedigt werden. Klaus macht sich auf den Weg und ist nach einer viertel Stunde wieder zurück. Wir packen unsere Döner aus und beißen herzhaft hinein.
„Oh, was für eine leckere Sauerei!“
Mir läuft die Joghurtsoße am Kinn herunter. Ines holt noch mehr Servietten.
„Alleine hierfür ist es gut, dass Hitler den Krieg verloren hat. Wenn er das geschafft hätte, müssten wir jetzt Kartoffelbrei und Schweineleber essen.“
Ich grinse. Ines empört sich.
„Mama! Du bist eklig!“
„Ne, ehrlich.“, gebe ich den Ball zurück. „Jetzt schaut uns doch mal an. Da sitzen wir drei am Tisch und essen Döner. Wenn der Krieg anders ausgegangen wäre könnten wir jetzt keine Ü50-Party feiern.“
Ines will sich gerade wieder aufregen, von wegen Ü50, als ich mich schnell bei ihr entschuldige.
„Verzeihung mein Kind. Es ist ja wahr. Du hast ja noch fast ein Jahr, bis du das halbe Jahrhundert voll hast.“
„Mama, ich habe den Eindruck, du willst dich aus der Affäre ziehen und vom Thema ablenken.“
Ich glaube, Klaus hat recht. Ich würde mich gerne vor weiteren Erzählungen drücken. Aber der Tag ist noch zu jung, um schon aufzuhören. Ich wische mir den Mund ab. Den ganzen Döner schaffe ich nicht und schiebe den Rest zu Klaus rüber.
„Also gut, weiter geht’s. Es war der 1. April 1933. Ich weiß es noch ganz genau. Es war ein Samstag. Meine Mutter wollte mit uns zu Meister Jakob gehen, wie wir ihn nannten. Hermann brauchte dringend neue Hosen und ein neues Hemd. Am alten waren die Ärmel viel zu kurz geworden und meine Mutter hat daraus ein Kurzärmeliges zum Spielen gemacht. Ich sollte ein neues Kleid bekommen und Kniestrümpfe. Ostern stand vor der Türe.
Mein Vater wollte so lange im Laden bleiben, bis wir von unserem Einkauf zurück waren. Hermann wäre gerne bei ihm geblieben, er wollte nicht einkaufen gehen. Aber er musste mit. Ich freute mich.
Meine Mutter hatte immer eine Überraschung auf Lager. Einmal ist sie mit uns in einen Passbildautomaten gegangen und wir haben lustige Fotos gemacht. Ich muss die irgendwo noch haben.
Nun ja, egal. Dieser Samstag wurde auf jeden Fall nicht lustig. Als wir am Geschäft von Jakob ankamen, war der Laden geschlossen. Seine Fensterscheiben waren über und über mit Schmierereien überzogen, die zum Boykott der jüdischen Geschäfte aufriefen. Meine Mutter war ganz entsetzt. Vor dem Geschäft standen SA-Männer, die verhindern sollten, dass Kunden den Laden betraten.
Aber Meister Jakob hatte gar nicht erst aufgemacht. Auf den Schaufenstern standen Parolen wie: Der Jude ist unser Untergang und Wer den Juden kennt, kennt den Teufel und Rassenschande. Daneben prangten Hakenkreuze und Judensterne. Meine Mutter sorgte sich um Jakob. Er war mittlerweile ein guter Freund der Familie geworden. Also gingen wir auf dem Heimweg bei der Synagoge vorbei. Meine Mutter wollte nachschauen, ob er vielleicht dort war. Auf dem Weg kamen wir auch an der koscheren Metzgerei der Familie Freund vorbei. Auch sie war geschlossen, die Fensterscheiben beschmiert. Als wir die Synagoge erreichten, waren dort ein paar Scheiben eingeworfen, aber keine Menschenseele zu sehen. Mutter zog uns hinter sich her, nach Hause. Sie hoffte, Vater würde mehr wissen. Ohne Jakob waren wir aufgeschmissen. Wir konnten nicht so viel Geld auf einmal ausgeben. Vater sparte auf ein Automobil. Dafür legte er jeden Pfennig auf Seite. Ich sehe noch das Gesicht meines Vaters vor mir. Es sprach Bände. Eine Mischung aus Wut und Entsetzen.
Das ist nur der Anfang. Murmelte er vor sich her. Das ist nur der Anfang. Die Arisierung hatte begonnen. Die 600 Hagener Juden wurden