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Am Ende des Wohlstands. Shimona Löwenstein
Читать онлайн.Название Am Ende des Wohlstands
Год выпуска 0
isbn 9783738051964
Автор произведения Shimona Löwenstein
Жанр Социология
Издательство Bookwire
Jedenfalls ist der Trend zur Bevölkerungsabnahme in Wohlstandsländern in fortgeschrittenem Stadium ganz normal und nicht unbedingt bedrohlich. Gefährlich scheint vielmehr das Gegenteil davon – die Überbevölkerung, in deren Züge (zwecks Abbau des Überschusses) immer wieder Kriege und Bürgerkriege ausbrechen und Genozide geschehen, wie es zum Beispiel der Völkermordforscher Gunnar Heinsohn zu zeigen versucht. Die Problematisierung des Bevölkerungsrückgangs geht von einer veralteten Vorstellung einer arbeitsintensiven Volkswirtschaft aus, in der die Alten aufgrund fehlender Kinder und Enkel nicht ernährt werden können. Diese Betrachtungsweise berücksichtigt dabei weder die Tatsache, daß das Sozialprodukt und damit die Wohlfahrt der Gesellschaft mit einer kapitalintensiven Wirtschaftsform durch den Rationalisierungstrend immer weniger vom Faktor Arbeit abhängig ist, noch den Umstand, daß gegenwärtig nur mehr wenige hochspezialisierte Fachkräfte eine Beschäftigung finden. Jede Produktionsinnovation steigert nicht nur die Produktivität der Arbeit [77], sondern stellt Arbeitskräfte frei; eine Produktivitätssteigerung, welcher Form auch immer, produziert somit zwangsläufig immer wieder Massenarbeitslosigkeit, die nur sehr schwer und meistens erst durch andere gesellschaftliche Änderungen langfristig aufgefangen werden kann. Das bedeutet bei gleichbleibenden gesellschaftlichen Bedingungen, daß diese angeblich „fehlenden Kinder“ keine künftigen Steuer- und Rentenzahler, sondern ebenfalls zu finanzierenden Arbeitslosen bzw. Sozialhilfeempfänger darstellen.
Mit dieser Entwicklung hängt auch ein anderer bedenklicher gesellschaftlicher Wandel zusammen, der in der liberalen Kritik jedoch kaum oder nach einem schiefen Erklärungsmuster thematisiert wird: die Entstehung neuer Armut [78] und eine wachsende Polarisierung zwischen Arm und Reich mit den damit verbundenen desintegrativen Tendenzen in der Gesellschaft, also das Gegenteil zum Trend, den manche Soziologen in den 60er Jahren als Tendenz zur „nivellierenden Mittelstandsgesellschaft“ zu beobachten meinten. [79] Die Studien zur sog. „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ aus den Jahren 2002-2004 haben dagegen eine desintegrative Tendenz in der Gesellschaft festgestellt, die durch Polarisierung zwischen Arm und Reich, zunehmende Arbeitslosigkeit und die negative Wahrnehmung der eigenen Lage verursacht wird und mit der steigenden Neigung zur sozialaggressiven Haltungen wie Rassismus, Ausländerhaß, Antisemitismus usw. einhergeht. [80] Diese desintegrativen Tendenzen (politische Kontrollverluste, ungerichtete gesellschaftliche Prozesse und Unbeeinflußbarkeit ökonomischer Entwicklungen) und ihre negative Wahrnehmung (soziale Unsicherheit, Gefühl der Orientierungslosigkeit) bezeichnete Wilhelm Heitmeyer als „Verstörungen“, aus denen sich menschenfeindliche Verhaltensweisen, Druck auf Minderheiten und die Neigung, schwache Gruppen abzuwerten, als Normalität entwickeln. [81]
Es ist aber nicht nur die Verarmung und der daraus entstandene Bedrohungspotential. Über die allgemeine Verschlechterung des Umgangs der Menschen miteinander in der letzten Jahren – das sich ausbreitende asoziale Verhalten in allen Schichten – wurde inzwischen häufig berichtet. [82] Zum Teil ließe sich dieses Verhalten auf das propagierte Paradigma des fast sozialdarwinistisch geprägten „neuen Managements“ zurückführen mit dessen „Erfolgsdogma“ als einzigem Wert und den entsprechenden Schulungsmethoden in Selbstdarstellung und Durchsetzungsvermögen (z.B. Arroganztraining für Frauen). In der sozialwissenschaftlichen Forschung spricht man auch von „Paradigma der sozialen Exklusion“. Im Unterschied zur „Differenzierung“ der Gesellschaft in der Moderne handelt es sich um eine Art „Fragmentierung“, um Ab- und Ausgrenzung der Verlierer und gegenseitige Vergleichgültigung. Das Ergebnis ist die Spaltung der Gesellschaft in diejenigen, die dazugehören, und diejenigen, die da sind, ohne dazuzugehören, das sog. „Prekariat“ – eine Kategorie, die sich vom klassischen „Proletariat“ dadurch unterscheidet, daß die stets anwachsende Zahl von Menschen in keinen oder prekären Beschäftigungsverhältnissen (etwa in Minijobs, Praktika, Leiharbeit, befristeten, niedrig entlohnten Tätigkeiten oder staatlich geförderten Beschäftigungsprogrammen) in der postmodernen Gesellschaft die „Überflüssigen“ sind. [83] Das Phänomen Armut nicht nur in der Dritten Welt, sondern auch in den reichsten Ländern der Welt wie Deutschland, ist somit wieder zu einem Thema geworden, worüber öfters berichtet und über dessen Beseitigung kontrovers diskutiert wird. [84] Man spricht in diesem Fall auch von „relativer Armut“ im Unterschied zur „absoluten“, die es hierzulande nicht oder nur ausnahmsweise gibt, als handle es sich um etwas Selbstverständliches. Zwar soll in Deutschland – im Unterschied zu dem allgemeinen Trend in der ganzen Welt – die Kluft zwischen Arm und Reich seit 2005 nicht mehr gewachsen sein, sie sei aber auch nicht kleiner geworden; man mag die Situation Deutschlands in bezug auf wirtschaftlich-soziale Verhältnisse in den letzten zehn Jahren je nach Sichtweise als Stabilität, oder auch als Stillstand werten. [85] Die Schieflagen, vor denen in den Jahrzehnten zuvor so gewarnt wurde, sind inzwischen zur Normalität geworden.
Selbstverständlich und vielen einleuchtend scheinen auch die politischen Ablenkungsmanöver von eigener Unfähigkeit auf vermeintliche Katastrophen und Sündenböcke. So werden Schuldige für die Gebrechen der heutigen Gesellschaft, etwa die schlechte wirtschaftliche, finanzielle und soziale Lage, ganz anderswo wahrgenommen, als wohin der ursächliche Zusammenhang hinweist, zum Beispiel auf die aufgeblähte, teure und alles lähmende Bürokratie, staatliche Verschwendung, Größenwahn, Inkompetenz und Korruption der Führungskräfte, Macht- und Karrieresucht der Politik, oder auch auf strukturelle Deformationen der Märkte, die Vetternwirtschaft, Lobbyismus und Machtmißbrauch begünstigen, Konkurrenz und echte Reformen dagegen verhindern. Statt dessen wird die Schuld im Mißbrach von sozialen Leistungen, in Kapitalflucht und Steuerhinterziehung (sog. Wirtschaftskriminalität), oder bei den Ausländern, die den Deutschen angeblich die Arbeit wegnehmen, sowie in Billiglöhnen im Ausland und in der Globalisierung allgemein gesucht. Das ist zwar nicht ganz falsch, wie der strukturelle Wandel der Wirtschaft in den letzten Jahren deutlich machte. Die Ursachen von Arbeitslosigkeit und Armut wurden allerdings zunächst von den Forschern ziemlich übereinstimmend nicht in der Globalisierung gefunden, d.h. der Konkurrenz von Billiglohnländern und der Verlagerung der Produktion ins Ausland, [86] wie es vor allem Globalisierungsgegner und Wirtschaftsmoralisten darlegen, sondern in der wachsenden Produktivität durch technischen Fortschritt und der Unfähigkeit oder Unwilligkeit, auf die internationalen Herausforderungen richtig zu reagieren. [87] Mit anderen Worten: Die eigentliche Ursache der „neuen Armut“ sei demnach die Krise des Sozialstaates selbst, insbesondere die Konstruktionsmängel der sozialen Sicherungssysteme, [88] sowie die politischen Fehlorientierungen und Selbstblockaden.
Diese Erklärungen zu Beginn des Jahrtausends mögen zu einem Teil berechtigt sein: Es gibt tatsächlich einen anhaltenden Rationalisierungstrend durch technische Neuerungen, und es gibt ebenfalls politische Fehlentscheidungen und strukturelle Schwächen des Sozialstaates. Sie suggerieren dennoch ein verzerrtes Bild, in dem die Hauptschuld an der anhaltenden Arbeitslosigkeit verschwiegen oder verharmlost wird. Die im Laufe der Jahre vollzogene Deindustrialisierung Europas, von der Deutschland wohl etwas weniger betroffen ist als etwa Frankreich oder Großbritannien, ist kein Phänomen, das man mit Vorurteilen der Globalisierungsgegner einfach abtun und mit etwas radikaleren Reformen der sozialstaatlichen Strukturen beheben kann. Auch läßt sich der ganze Produktionsausfall der Industrie nicht durch die Verlagerung auf die wachsende Informationsbranche oder