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Bei genauer Betrachtung der Entwicklung des Sozialstaats so­wie der einzelnen sozialen Systeme hat man den Eindruck, daß es bei keinem von ihnen um den ursprünglichen Zweck geht, sondern nur noch um die Verwaltung und Organisation des Sy­stems, das sich allmählich zum Selbstzweck entwickelt hat.

      Alle Kritiker des wuchernden Sozialstaats stimmten – im Unterschied zu den andauernden Be­teuerungen der Politiker – in der Nichtfinanzierbarkeit der heutigen Sozialsysteme überein, auf die die Politik nur mit aktivistischen Patentrezepten reagierte. Diese ist durch veränderte Bedin­gungen vorgegeben:

      1. die Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur (Geburtenrückgang und verlängerte Le­benserwartung);

      2. die institutionell und strukturell bedingte Arbeitslosigkeit;

      3. die Lähmung der Handlungs- und Entwicklungsfähigkeit von Politik und Wirtschaft durch die selbstgeschaffenen Zwänge (die Verflechtungsfalle).

      Diese Problematik ist inzwischen relativ gut bekannt. Über Wirtschaftskrise, Steuerdesa­ster und Staatsversagen berichtete in den ersten Jahren nach der Jahrhundertwende neben anderen auch der Spiegel unter dem Titel Die Stunde der Wahrheit im Land der Lügen. [61] Die desolate Situation Deutschlands und wie sie entstand war Thema des Buchs Ist Deutschland noch zu retten? von Hans-Werner Sinn [62]. Mit ähnli­chen Argumenten beschrieb schließlich auch Gabor Steingart Deutschlands Zustand als Ab­stieg eines Superstars. [63] Die Ursachen dieser deutschen Dauerkrise reichen demnach bis in die Nachkriegszeit zurück: Der Sozialstaat sei von Adenauer falsch konstruiert worden, vor allem in bezug auf die Rentenpolitik, d.h. die Koppelung der Renten auf die Arbeitseinkom­men (das Umlageverfahren), während das Risiko der Kindererziehung in diesem „Generationsver­trag“ nicht berücksichtigt wurde, da man einen Strukturwandel im Altersauf­bau der Bevölkerung nicht voraussah. Adenauer lehnte die Einbeziehung der Kindererzie­hung in dieses System mit der Begründung ab, Kinder habe man sowieso. Nach der Darstel­lung von Metzler stellte diese als „Generationsvertrag“ bezeichnete Rentenreform eine Richtungs­änderung trotz der weiterbestehenden Kontinuität mit dem bismarckschen Rentensy­stem dar. In anderen Zweigen der Sozialversicherungen dominierte die Kontinuität. [64]

      Möglicherweise noch verhängnisvoller als die Umlagerente selbst, die man in der Nachkriegs­zeit als eine vorübergehende Lösung akzeptieren könnte, die jedoch mit dem steigen­den Einkommen allmählich zum Aufbau eines Kapitalstocks übergehen sollte, war die 1957 eingeführte bruttobezogene dynamische Rente, nach der die Rentner an der allgemeinen Einkommenssteigerung verhältnismäßig teilhaben sollten. [65] Das Leichtfertige an der Renten­finanzierung sowie an der Dynamisierung der Rente war wohl die Vorstellung, der wirt­schaftliche Aufschwung sei ein dauerhafter, als wäre die Möglichkeit leerer Kassen und des wirtschaftlichen Niedergangs nicht vorhanden. Die dritte Ursache für den sich anbahnenden Zu­sammenbruch des Rentensystems sind sodann zweckfremde Leistungen, die seit Jahrzehn­ten von den Rentenkassen betrieben werden. Die ständig wiederholte Behauptung der Politiker „Die Rente ist sicher“ verdeckte nicht nur die Tatsache, daß die Renten immer wie­der nach unten korrigiert wurden, so daß die tatsächliche Höhe der eigenen künftigen Rente von vielen Menschen überschätzt wurde, selbst wenn es den meisten heutigen Rentnern noch gut geht, sondern auch die Tatsache, daß der „Generationsvertrag“ zu den bestehenden Bedin­gungen nicht mehr bezahlbar ist: Die Rentenkasse wird mit immer höheren Anteilen durch Steuergelder bezuschußt, die Schwankungsreserve wurde dagegen abgebaut, um den Bei­tragssatz nicht erhöhen zu müssen, während die realen Renten sinken. [66] Die widersprüchlichen „Rentenreformen“ (neben der Einführung der „Riester-Rente“ als scheinbaren „zweiten Säule“ der Rentensicherung zunächst Verlängerung des Rentenalters auf 67 für bestimmte Jahrgänge, später wieder deren Verkürzung auf 63 Jahre nach 40 Jahre Arbeitsverhältnis, jetzt eine „flexible Rente“) zeugen nur von Ratlosigkeit der Politik in bezug auf dieses Problem.

      Auf die Problematik der veralteten Finanzierungsstruktur der heutigen sozialen Systeme ging Kurt Biedenkopf in seinem Buch Die Ausbeutung der Enkel ein. Angesichts der dramatischen Veränderungen, die unsere heutige Situation kennzeichnen, vergrößert sich auch die Kluft zwischen Einnahmen und Ausgaben in der Finanzierungsgrundlage unserer Sozial­systeme. Biedenkopf wiederholte eigentlich die fast in jeder Kritik genannten Sachver­halte, vor allem die Diskrepanz:

      1. zwischen abnehmender und alternder Bevölkerung in Europa, deren Lebensweise je­doch den Großteil der Weltressourcen für sich beansprucht, und der explodierenden Welt­bevölkerung,

      2. zwischen den unrealistischen Vorstellungen vom Wirtschaftswachstum und den rea­len Wachstumsmöglichkeiten, und schließlich

      3. zwischen dem explosiven technischen Fortschritt mit den entsprechenden Bildungsan­forderungen an die Ausbildung der Bevölkerung und ihrer tatsächlichen Quali­fikation, was einen unaufhaltsamen Anstieg der Langzeitarbeitslosigkeit in der Gesell­schaft produziert. [67]

      Dies alles hielt er für eine problematische Entwicklung und empfahl vor allem Investitio­nen in die Intelligenz, d.h. in Ausbildung, Bildung, Lehre und Forschung, die unsere Fähigkeit stei­gern soll, mit den angehenden Problemen fertig zu werden, sowie mehr eigenständiges Handeln. Das stellt insofern nichts Neues dar, als die Forderung nach Investition in Bildung und Eigenverantwortung immer wieder genannt wird. Wie schon viele vor ihm empfahl auch Miegel zur Beseitigung die­ser Mißverhältnisse mehr Eigenverantwortung der Bürger in vielen Bereichen, wie z.B. private Alters­vorsorge neben steuerfinanzierter Grundsicherung, eine grundlegende Reform des Gesund­heitswesens im Sinne von mehr Selbstverantwortung für eigene Gesundheit, eine Pflegever­sicherung auf Kapitalbasis, Begrenzung der Arbeitslosenversicherung usw. [68] Für Reinhard Sprenger, der zwar zu Recht die ständige staatliche Bevormundung beklagt und Deutschland als einen „Club der Opfer“ bezeichnet, stellt die „Selbstverantwortung“ (mit schwammigen neoliberalen Pauschalvorschlägen) fast das einzige allgemeine Allheilmittel dar. [69] Auch in den Empfehlungen des Frankfurter Instituts sowie des Wissenschaftszentrums kamen sol­che Vorschläge zum Ausdruck.

      Offensichtlich glaubte man um die Jahrhundertwende, eine allgemeine Einschränkung (vor allem der Ansprüche und staatlicher Ausgaben) und Verschiebung der Verantwortung auf den Einzelnen seien das richtige Mittel gegen die Auswüchse des verschwenderischen und bevormundenden Sozialstaats. Arnulf Baring begnügt sich in seinem Buch von 1997, in dem er die Probleme Deutschlands dieser Zeit auflistet, [70] mit wenig aussagekräftigen Appellen an Eigenverantwortung und Umkehrbereitschaft. Der Historiker Ulrich Bernd ruft im selben Jahr ebenfalls zur Umkehr, aber nicht im Sinne von Liberalisierung und Individualisierung, sondern als einer „Wende zum Weniger“. Seiner Meinung nach waren die letzten 50 Jahre ein historischer Ausnahmezustand des allgemein wachsenden Wohlstands, der jetzt zu Ende ist. Es gilt nun die Erwartungen der Politik (etwa in bezug auf „soziale Gerechtigkeit“) und unzeitgemäße Ansprüche zurückzuschrauben. [71] Wie diese Wende konkret zu verwirklichen ist, bleibt nichtsdestoweniger unklar. Das Fragliche an dieser Programmatik, die oft mit Schlag­worten wie „Modernisierung“ und „Privatisierung“ (oder auch Flexibilität, Mobilität, Dynamik, Innovation und Deregulierung) einhergeht, ist überhaupt ihre zuweilen geringe Konkretheit und Abstrahierung von den bestehenden wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die das an sich vernünftige Anliegen manchmal in sein Gegenteil verkeh­ren. So hat man schließlich im Namen der ungeklärten „Eigenverantwortung“ allmählich viele Sicherheiten und Rechtsansprüche des Sozialstaats beseitigt und in mehreren Bereichen (vor allem dem Arbeitsmarkt) teilweise amerikanische Verhältnisse [72] geschaffen, ohne jedoch die amerikanischen Möglichkeiten zu besitzen.

      Überdies wurde in der Kritik die Rolle der demographischen Entwicklung als einer der grundlegen­den Aspekte des gesellschaftlichen Wandels und die „Alterung der Gesellschaft“ vermutlich überschätzt. Die Horrorszenarien (ausgestorbene Städte, leerstehende Wohnungen, leere Kinderkliniken und Schulen usw.) [73] mit begleitenden statistischen Schätzungen, wie viele Rentner zu welcher Zeit von einem ökonomisch Aktiven unterhalten werden müssen, wenn der Trend zur Kinderlosig­keit anhält, bieten ein überzogenes, auf dieses eine Aspekt reduziertes Zukunftsbild. Der Journalist Frank Schirrmacher schrieb 2004 ein populäres Buch über das Altwerden der Gesellschaft,

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