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Lebensjahr ist der Findling dazu angehalten, für sich selbst zu sorgen. Die Vormundschaft endet zu diesem Zeitpunkt, ebenso die Zuständigkeit der Armenfürsorge«, las er den Brief zu Ende.

      Er wusste, wie die übliche Fürsorge für familienlose Kinder aussah. Das Reglement der Armeneinlage sah vor, dass diese Kinder meist von Haus zu Haus wanderten, dazu genötigt, sich ihren Lebensunterhalt durch die niedrigsten Arbeiten zu erbetteln, häufig gedemütigt und bar jeder verständigen oder teilnehmenden Führung.

      »Ist die Brücke neu?«, fragte Katharina.

      Pfarrer Lutner nickte abwesend. »Nach dem Umbau wurde eine Pfarrkanzlei eingerichtet und die Pfarrbibliothek vermehrt.«

      »Eine Bibliothek!« Das Mädchen schien sich über die Tragweite des Schreibens nicht im Klaren zu sein.

      »Warst du in Böhmen in einer Schule?«, fragte er.

      »Ja, Herr Pfarrer.«

      »Und wie liegt dir das Lesen und Rechnen?«, hakte er nach.

      »Gut, Herr Pfarrer. Ich habe gerne gelernt.«

      »Dann sollten wir zumindest schauen, dass du regelmäßig die Schule besuchen kannst.« Ihm kam dieser Anlass gelegen, dem Lehrer Jakob Bartsch zu zeigen, wer das Sagen hatte. Die Gemeindeschule unterstand der Aufsicht des Pfarrers. Sein Wort war Gesetz, zumindest auf der untersten Stufe. Seit Jahren intervenierte der Jakob Bartsch für die Errichtung eines neuen, geräumigeren Schulhauses, wohlgemerkt in größerer Entfernung zur Kirche. Der Bartsch täuschte sich, wenn er glaubte, er ließe das zu. »Schaden kann es jedenfalls nicht. Lange hast du nicht mehr Zeit, bis du für dich selbst sorgen musst.« Er knetete seine schmerzenden Gelenke. »Wir werden sehen, dass du auf einem anständigen Hof unterkommen kannst. Ich werde die Bäuerin anweisen, dich regelmäßig in die Schule zu schicken. Das wöchentliche Schulgeld von vier Kreuzern wird von der Armeneinlage bezahlt werden. Es wird dir nicht erspart bleiben, dass du mitanpackst. Die Gemeinde würde es nicht dulden, dass du fürs Daumendrehen versorgt wirst. Hast du Hunger? Ich bin jedenfalls hungrig, obwohl einem die ganze Sache den Appetit verderben kann.«

      »Der Onkel sagte immer, der Appetit kommt beim Essen.« Katharina sah den freundlichen Mann, der so gut Geschichten erzählen konnte, tot im Sarg liegen. Sie holte aus ihrer Rocktasche ein Taschentuch hervor, das sie von der Tante zum letzten Geburtstag bekommen hatte. Zierliche Blümchen in Blautönen hatte diese eigenhändig draufgestickt. Katharina brachte es anfangs nicht über sich, das hübsche Tuch zu verwenden. Es war zu schön anzusehen, um den Rotz hineinzublasen. Die Tante meinte, auch schöne Dinge seien da, um verwendet zu werden.

      »Dir ist etwas auf den Boden gefallen«, machte sie der Pfarrer aufmerksam. Katharina blickte zu ihren Füßen und entdeckte das gefaltete Zettelchen. »Was ist das? Noch etwas aus dem Findelhaus?«

      »Das ist die Adresse meiner Freundin aus dem Gefangenenhaus.« Mila hatte ihr gesagt, sie solle sich die Adresse notieren. Für alle Fälle. Es war nicht einfach gewesen, den Gefangenenwärter zu überreden, Schreibmaterial zu bringen. Mila hatte offenbar die richtigen Argumente.

      »Aus dem Gefangenenhaus?«

      »Aus der Findelanstalt brachten sie mich ins Gefangenenhaus, um dort auf den Kommissär zu warten. Dort lernte ich Mila kennen.«

      »Ist Mila aus dem Findelhaus?«

      »Nein, Mila ist schon erwachsen und wunderschön. Sie hat so einen Busen«, dabei deutete Katharina den beachtlichen Brustumfang Milas an ihr selbst. »Eigentlich heißt sie Milleta, aber das ist ihren Kunden zu lange.«

      »Ihren Kunden«, echote ihr Gegenüber. »Heilige Maria Mutter Gottes!« Die Kinder mussten die Nacht vor dem Transport gemeinsam mit Vagabunden, Schüblingen und Dirnen verbringen! Solch eine demoralisierende Umgebung kann sich nur nachteilig auf das Seelenheil der ohnehin verwirrten Wesen auswirken. Gleich morgen würde er eine schriftliche Eingabe an den Landesausschuss verfassen.

      »Warum war diese Frau in dem Gefangenenhaus?«, nahm der Pfarrer das Gespräch wieder auf.

      Erschrocken sog Katharina die Luft ein. »Herr Pfarrer! Ich weiß es nicht! Ich war so mit meiner Traurigkeit beschäftigt, dass ich nicht auf die Idee gekommen bin, sie zu fragen. Ich habe nur von mir geredet.«

      »Mädchen, ich glaube nicht, dass diese Mila die richtige Freundin für dich ist. Weißt du, ich meine, sie geht einem Gewerbe nach, das … Gib mir den Zettel«, forderte sie der Pfarrer nach seinem Gestottere schlussendlich auf.

      »Herr Pfarrer, bitte nicht. Sie sagte, wenn ich eines Tages Hilfe bräuchte, könnte ich zu ihr kommen. Wie soll ich sie ohne Adresse finden? Ich habe doch niemanden und sie war sehr nett zu mir, weil ich traurig war, dass ich vom Forsthaus wegmusste und weil ich mit meinem Schicksal gehadert hab.«

      »Mit deinem Schicksal gehadert …«

      »Das hat Mila gesagt. Sie meinte, hadere nicht mit deinem Schicksal, sondern mache das Beste daraus! Stimmt das nicht, Herr Pfarrer?«

      »Hm«, machte er nachdenklich, »in der Bibel heißt es: Vertraue auf Gott, er wird dich führen.«

      Katharina ließ sich beide Ratschläge durch den Kopf gehen.

      »Ich vertraue lieber auf mich selbst. Wenn man auf andere vertraut, wird man nur zurückgelassen.«

      »Kind, neben dem Unterricht wirst du außerdem die Bibel lesen und fleißig zu den Messen kommen«, damit schloss der Pfarrer das Gespräch und bestrich sein Brot mit Butter.

      Katharina steckte das Zettelchen in ihre Tasche und griff zum Buttermesser. Es stellte sich heraus, dass der Onkel recht gehabt hatte. Der Appetit kam tatsächlich beim Essen.

      5

      »Du kannst in der Menscherkammer schlafen. Ich hoffe für dich, du hast Kleidung. Glaub nicht, dass ich dir etwas geben kann. Unterkunft und Essen sind mehr als gottgefällig«, stellte die Bäuerin gleich zu Anfang klar. Noch ein Kind zu verköstigen! Zu ihren eigenen dreien und dem vierten, das unterwegs war.

      »Ich habe Kleidung, Wäsche und Schuhe mitbekommen«, merkte Katharina an.

      »Na wenigstens etwas.« Stöhnend kramte sie Bettwäsche aus dem untersten Fach im Schrank und richtete sich unter Mühsal auf. »Das Kind wird nicht mehr lange auf sich warten lassen und wir stecken mitten in der Getreideernte. Du wirst kräftig anpacken im Haus.«

      »Der ist ziemlich groß.« Katharina zeigte auf den schwangeren Bauch der Bäuerin.

      »Da hast du recht. Bei den drei anderen kam er mir nicht so gewaltig vor«, ließ sich die Frau in einem umgänglicheren Ton auf das Gespräch ein. »Wird ein großer starker Junge.«

      »Vielleicht sind es zwei«, gab Katharina zu bedenken.

      »Meinst du?«, entgegnete die Bäuerin stirnrunzelnd. »Komm mit. Ich stelle dich meinen Kindern und dem Gesinde vor.«

      Die Bäuerin hatte zwei Buben im Alter von vier und zwei Jahren. Das Mädchen war nur wenig über einem Jahr und konnte noch nicht laufen.

      »Der ältere heißt Karl, nach seinem Vater, Karl Sperl. Widersprich dem Bauern nie, dann ist ganz gut mit ihm auszukommen. Ihn redest mit Bauer an, mich mit Bäuerin. Das ist der Franzl und das Mäderl heißt Johanna, nach mir.« Die Bäuerin drückte ihr das jüngste Kind in die Arme und führte sie über den Hof. Die beiden Burschen liefen ihnen in geringem Abstand hinterher. Während Katharina versuchte, sich die Namen aller Hofbewohner einzuprägen, wuzelte das auf ihrer Hüfte sitzende Mädchen ihr Ohrläppchen. Der Bauer hatte neben einem Knecht und zwei Mägden einen Inwohner, der in einem separaten Häuschen auf dem Hof wohnte und die Kosten für die Überlassung des Wohnraumes in Arbeit abgelten musste. Hatte er seine Verpflichtung gegenüber dem Bauern erfüllt, ging er anderswo in Lohnarbeit. Die Mägde und der Knecht wohnten im Bauernhaus, in separaten Kammern.

      Die Stimmgewaltigkeit des Bauern offenbarte sich Katharina an ihrem ersten Abend. »Außer dem Gebet wird bei Tisch nichts gesprochen«, donnerte er und

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