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Studenten vorstellen würde. Doch Aupy fuhr mit seiner Vorlesung fort, als habe er ihn bereits vergessen.

      „Ich werde Sie auf den neuesten Stand der Wissenschaft bringen“, sagte Aupy. „Vor allem aber werde ich Ihnen praktische Erfahrung vermitteln. Im Gegenzug verlange ich ungeteilte Aufmerksamkeit, Fleiß und Disziplin. Wem das zu anstrengend ist, der sollte jetzt besser gehen.“

      Er schaute sich im Raum um. Niemand sprach.

      „Nun gut“, sagte Aupy, strich die oberste Seite seines Manuskripts mit beiden Händen glatt.

      Die Hysterie“, begann er, „aus dem Griechischen hystéra oder Gebärmutter abgeleitet, ist eine Frauenkrankheit.“

      Jemand lachte. Aupy blickte von seinem Manuskript auf.

      „Wer auch immer das war, er hat zu früh gelacht.“

      Tisson bemerkte einen Rotschopf ganz links in der vordersten Reihe, der auf seiner Unterlippe kaute.

      „Heutzutage ist die Wissenschaft viel weiter als noch vor fünfzig, ja zwanzig Jahren. Wir wissen, dass die Hysterie ein Nervenleiden ist.“

      Aupy hielt inne, musterte wiederum die Studenten.

      „Wenn Sie Hysterie hören“, fuhr er fort, „denken Sie wahrscheinlich an Frauen, die zu Boden sinken, sich krümmen, winden. Sklavinnen ihres Geschlechts.“

      Er schaute erneut auf, Brennpunkt der Aufmerksamkeit, sprach weiter.

      „Diese Krankheit ist heimtückisch, trügerisch, wechselhaft. Auf leisen Sohlen stiehlt sie sich in das Leben der Betroffenen. In die Waschhäuser, die Blumengeschäfte, die Hutmacherstuben. Greift heimlich nach ihrem Opfer. Eine Hand, ein Bein wird taub. Die Krankheit kriecht den Arm hinauf und setzt sich im Kopf fest. Pocht von innen gegen den Schädel, drängt hinaus, trübt die Sicht, lässt die Patienten Farben sehen, wo keine sind, Grau, wo Blumen blühen.“

      Er hielt inne.

      „Die Hysterie“, fuhr Aupy fort, „wütet im Innern dieser bedauernswerten Geschöpfe, verdreht ihre Eingeweide, verknotet, verstopft sie.“

      Er blätterte um. „Wussten Sie, dass hysterische Frauen häufig tagelang keinen Harn lassen können? Sie müssen katheterisiert werden.“

      Aupy beugte sich über das Pult, Tisson konnte ihn kaum verstehen. „Trauen Sie sich das zu? Bei einem fünfzehnjährigen Mädchen?“

      Ein Grinsen huschte über das Gesicht des Rotschopfs. Lauernd. Gierig.

      Widerlich, dachte Tisson.

      Aupy fuhr fort: „Die Hysterie höhlt die Kranke von innen aus, lange bevor sie in Form von Attacken aus der Patientin herausbricht, explodiert, ihr ganzes Gift dem Betrachter, dem Arzt, Ihnen, entgegenschleudert. Sind Sie dafür gewappnet?“

      Tisson atmete tief ein. Er war bereit. Jahrelang hatte er sich darauf vorbereitet.

      Aupy richtete sich wieder auf: „Natürlich nicht. Deswegen sind Sie ja hier. Sie sind hier, um die Vorboten dieser Krankheit erkennen, um sie von anderen Nervenkrankheiten unterscheiden zu lernen. Um sie zu bannen, zu bändigen, zu brechen.“

      Er drehte sich zu Tisson um, stutzte, als habe er jemand anderes erwartet, und sagte: „Führen Sie die Patienten herein.“

      Tisson betrat das Nebenzimmer, wo er die Kranken vermutete. Eine Schwester saß auf einem Stuhl und flickte ein Anstaltshemd. Drei Mädchen standen am Fenster, verglichen ihre Halsbänder, glucksten. Als sie ihn bemerkten, steckten sie die Köpfe zusammen und begannen zu tuscheln.

      Er räusperte sich. „Würden Sie mir bitte folgen?“

      Kichern.

      Er räusperte sich abermals.

      „Würden Sie mir bitte folgen?“, äffte ihn eines der Mädchen nach.

      Die Schwester legte ihre Handarbeit in einen Korb, stand auf. Augenblicklich verstummten die Mädchen, knöpften einen Ärmel zu, steckten Strähnen hoch und banden sich hastig die Samtbänder wieder um.

      Eines nach dem anderen trippelten sie in den Vorlesungssaal, setzten sich in eine Reihe neben Tisson. Warteten.

      Er studierte ihre Gesichter. Sie wirkten ernst. Die Hände im Schoß gefaltet, den Mund geschlossen, den Blick auf Aupy gerichtet.

      Nur die, die ihn nachgeäfft hatte und jetzt am weitesten von ihm entfernt saß, schien zu lächeln. Er betrachtete sie genauer, ihre Nase, die Wangen, ihre roten Lippen. Ihre Blicke kreuzten sich. Sie zwinkerte ihm zu, als wolle sie ihm Mut machen.

      Er lehnte sich zurück, damit sie ihn nicht länger sehen konnte. Nach einer Weile schielte er erneut zur Seite, sah das Profil des Mädchens neben ihm, wie es Aupy fixierte. Er beugte sich weiter vor und warf ihr, am Ende der Reihe, einen Blick zu, schnell, flüchtig. Sie beachtete ihn nicht. Sie hatte nur Augen für Aupy. Wie alle anderen.

      Der rief die Patientin auf dem Platz direkt neben Tisson auf. Tisson bot ihr seinen Arm an, sie ignorierte ihn. Er setzte sich wieder, vermeinte den Lufthauch eines Lächelns auf seiner Wange zu spüren, wandte sich dem Mädchen am Ende der Reihe zu – nichts. Ihr Blick stur geradeaus, ins Gesicht gemeißelt.

      Währenddessen ließ Aupy seine Patientin vor dem Pult auf und ab gehen. Sie zog das linke Bein nach. Ein Arm hing schlaff herab.

      „Einseitige Lähmungserscheinungen“, erklärte er, hob die linke Hand des Mädchens und ließ das Gelenk plötzlich wieder los. Mit einem dumpfen Laut schlug der Arm gegen den Rock. Aupy trat von hinten an die Patientin heran und schnippte an ihrem linken Ohr. Keine Reaktion. Am rechten sofort.

      „Gepaart mit linksseitiger Taubheit“, dozierte er weiter und kehrte ans Rednerpult zurück. Verloren stand die Patientin im Raum.

      Tisson führte sie schließlich zum Platz zurück. Aus den Augenwinkeln nahm er erneut ein Zwinkern war. Er zwang sich, geradeaus zu sehen. So einfach ließ er sich nicht narren. Sanft drückte er seine Begleiterin auf den Stuhl hinab. Sie faltete die Hände im Schoß und heftete ihren Blick auf Aupy.

      Der rief die nächste Patientin auf und schickte Tisson, die Farbtafeln zu holen.

      Dieses Mal wandte Tisson den Kopf, doch das Mädchen mit dem roten Mund schien ihn nicht wahrzunehmen. Das Lächeln verschwunden, weggewischt. Eine Täuschung? Die Lippen leicht nach oben gebogen. Fährten eines Lächelns?

      Während Aupy das eingeschränkte Sehvermögen des zweiten Mädchens demonstrierte, links sah es nur schmutziges Grau, rechts funkte und blitzte es am Rande des Gesichtsfeldes, versuchte Tisson den Blick des geheimnisvollen Mädchens zu erhaschen. Doch sie ließ sich nicht ablenken. Jeder Augenblick galt Aupy, die Miene entspannt, sich ihrer Sache gewiss.

      „Arlette, treten Sie bitte vor“, sagte Aupy.

      Sie erhob sich. Glitt über den Boden, ein Flattern in den Mundwinkeln, kaum sichtbar, vielleicht nicht einmal ihr selbst bewusst.

      Tisson konzentrierte sich auf Aupys Vortrag.

      „Arlette leidet unter einer Reihe von Symptomen. Erstickungsgefühle, Augenmigräne und einer besonders ausgeprägten Form der hysterischen Anästhesie oder des stark verminderten Schmerzempfindens.“

      Aupy ging auf Arlette zu. Knöpfte den rechten Ärmel ihres Kleides auf und rollte ihn nach oben. Seine Finger verweilten einen Moment auf ihrem Unterarm. Arlette blickte auf. Er zog die Hand zurück.

      Das Mädchen wirkte gelassen, ja heiter. Die Vorahnung eines Lächelns, das sich jedoch durch nichts festmachen ließ. Die Lippen einen Spalt geöffnet.

      Aupy bat Tisson um eine Nadel. Die Studenten beugten sich auf ihren Stühlen vor. Tisson brachte ihm ein mit Samt beschlagenes Kästchen, das mehrere fußlange Nadeln enthielt.

      Da war es wieder. Er hatte es gesehen. Arlette hatte gelächelt, kurz nur, als sie die Nadeln sah, aber es war eindeutig ein Lächeln gewesen. Dieses Mal war sich Tisson sicher.

      Aupy blickte

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