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sind Sie aber einer von ganz wenigen, die das so sehen. Schauen Sie mich an. Mit so einem möchte keiner etwas zu tun haben. Alle sehen nur das hier.“

      Der Mann zeigte Marc eine Flasche Alkohol und erklärte ihm, dass er kein Alkoholiker sei, sondern dass er, wie viele von den Obdachlosen, immer eine Flasche dabei hat, damit die Schmerzen gelindert und Wunden gereinigt werden können. Marc war erschrocken, er musste schlucken und brachte kein Wort raus. Auch er hat solche Penner immer in diese Schublade gepackt und nie darüber nachgedacht, was wirklich hinter dem Ganzen steckte.

      „Würden Sie mir glauben, dass ich einmal ein reicher Mann war?“, fragte er Marc.

      „Ich weiß nicht, nein, vielleicht, keine Ahnung.“

      „Mein Name ist ...“, fing der Mann an, brach aber mit einer abweisenden Handbewegung den Satz ab.

      „Erzählen Sie ruhig weiter, mich würde Ihre Geschichte interessieren.“

      Der Mann schaute Marc an und ein Lächeln brachte seine dunklen Augen zum Aufleuchten.

      „Meine Firma hat damals Konkurs gemacht. Ich habe alles verloren, sogar meine Frau ist abgehauen. Nichts mehr, nur die Kleider, die ich am Körper trage, blieben mir.“

      Wieder musste Marc schlucken. Er glaubte dem Mann und genau das war das Problem. Er hatte eine Firma und ist nun so tief gesunken. Marc selbst war nur ein Angestellter, wie tief könnte er sinken? Gibt es noch ein tieferes Loch als dieses? Wie froh konnte er sein, dass er noch saubere Kleider hatte und eine Wohnung, wo er sich waschen und sich Essen machen konnte. Er wusste, dass er mit seinem Ersparten noch eine lange Zeit sehr gut leben konnte, aber dieser Mann stellte für ihn nun einen Spiegel dar, in den er schaute und sich in einigen Jahren sah. Die Schuhe des Obdachlosen waren an mehreren Stellen kaputt, das Leder war zerkratzt und man konnte nur bei genauem Hinschauen sehen, dass es einmal teure Schuhe waren. Seine Hose hatte Löcher und war verdreckt. An einigen Stellen kamen mit etwas Fantasie Nadelstreifen zum Vorschein und genauso war es mit seiner Jacke. Ein Hemd konnte Marc nicht sehen. Er ging davon aus, dass er gar nichts darunter trug.

      „Das tut mir furchtbar leid.“, sagte Marc leise zu ihm, „Kann ich Ihnen denn irgendwie helfen?“

      Der Mann musste lachen. Er schaute Marc an und kniff sich selbst in die Wange.

      „Sie mir helfen? Das hat mich noch niemand gefragt. Nein, ich danke Ihnen, aber Sie können mir nicht helfen. Ich bin ein Penner. Ein Penner wie ich sie damals nicht eines Blickes gewürdigt habe. Keine Mark und auch keinen Euro habe ich je einem von ihnen gegeben. Ich habe mich geekelt vor dem Dreck und dem Gestank. Heute bin ich einer von ihnen und bettle oftmals ebenso. Es ist mein Leben und wissen Sie mein Freund, der da oben weiß genau was er macht. Er hat mir Geld gegeben, ohne dass ich etwas dafür tun musste und ich habe es respektlos angenommen und noch respektloser wieder ausgegeben. Dann hat er mir das Geld genommen und ich habe auf einmal Respekt.“

      Der Mann zwinkerte, drehte sich um und ging ein paar Schritte. Marc war verdutzt und begeistert zugleich. Wie konnte dieser Mann noch froh sein? Er hatte so vieles verloren und hatte nun keine Hoffnung mehr auf eine Arbeit oder Geld. Der Mann drehte sich noch einmal um, als ob er Marcs Gedanken lesen konnte und sagte: „Lassen Sie Ihre Erinnerungen niemals größer werden als Ihre Träume, denn diese Träume bestimmen die Qualität Ihres Lebens!“

      Kapitel 5

      Eine ganze Zeit dachte Marc darüber nach, wovon dieser Mann träumte. Er fand keine Antwort. Ihm wurde klar, was er damit meinte, dass man die Erinnerungen nicht in den Vordergrund stellen soll. Der Mann dachte nicht mehr an damals, als seine Firma kaputt ging und er alles verlor. Er lebte in seinem jetzigen Leben ohne Hab und Gut. Aber welche Träume hatte er, dass er noch lachen konnte? Marc wusste es nicht. Er konnte es sich nicht vorstellen, dass der Traum vom Geld, einer Arbeit oder einer Wohnung ihn so mutig machen würde.

      Sein Blick schweifte durch den Park, vorbei an dem Spielplatz mit den Kindern, vorbei an Bäumen und Sträuchern und er blieb am See hängen, wo er Vögel beobachtete, die schwerelos über das Wasser flogen. Er wusste nicht was das für Vögel waren, aber er hörte ihren Gesang und folgte ihrem Flug. Auf einmal wurde es ihm klar. Die Freiheit ist es, von der dieser Mann träumte. Ein freies Leben, unabhängig, gesund und mit genügend Geld zum Leben. Er hatte durch den Konkurs erkannt, dass das viele Geld ihm nicht das gegeben hat, wovon er eigentlich immer geträumt hatte. Ganz im Gegenteil. Als Chef hatte er keine Freizeit und viel Stress, der ihn gesundheitlich sicher beanspruchte.

      Es wurde laut im Park. Eine schrille Glocke kündigte den Eisverkäufer an. Schulkinder unterhielten sich lauthals und auf dem Spielplatz schrien die Kinder voller Erwartung die Eltern an, dass der Eiswagen kommt.

      Man erkannte nicht mehr ob die Kinder hinter den Eltern her rannten oder umgekehrt. Alles ging viel zu schnell, als dass man das Szenario in Ruhe hätte beobachten können. Der Eisverkäufer war bekannt wie ein bunter Hund. Marc hatte bei ihm als Kind schon das Eis gekauft und heute traf er ihn wieder. Hatschi, wie er ihn nannte, weil er damals als Kind das Wort Gelati noch nicht einordnen konnte und daraus dann Hatschi machte, war ein alter Mann. Seine hellen, grauen Haare waren unter einer Melone versteckt und durch seinen langen weißen Bart flößte er einem irgendwie Ehrfurcht ein. Marc hätte es gar nicht versuchen brauchen, zu ihm durchzudringen. Die Kinder waren in der Überzahl und die Lautstärke der Stimmen brachte jede seiner Silben zum Zerplatzen, sobald sie seinen Mund verließen. Der Eiswagen war noch immer der von damals. Nostalgie pur, denn es war ein hölzerner Handwagen mit schönen detailreich gemalten Blumenmustern an den Seiten. Die großen Holzräder passten sich mit ihren Speichen dem Muster an und vorne war eine kleine Stütze an dem Wagen, damit Hatschi ihn nicht immer festhalten musste. Zum Schutz vor Regen und Sonne war der Wagen überdacht und auch die kleinen Eisfächer hatten Abdeckungen. Der Innenraum war allerdings umgebaut wie Hatschi einmal zu Marc sagte. Die Hygienevorschriften zwangen ihn dazu. Aber es hatte auch etwas Gutes, denn so konnte er ein paar Eissorten mehr in sein Sortiment nehmen. Nach und nach löste sich die Traube aus gestressten Eltern und glücklichen Kindern wieder auf und Marc wagte es, zum Wagen zu gehen.

      „Was darf ich Ihnen geben?“, fragte der Verkäufer.

      „Erdbeere und Zitrone Herr Hatschi.“, antwortete Marc lachend.

      Hatschi zog nachdenklich die Augenbrauen zusammen und konnte sein Grinsen nicht verbergen. Die Eiskugeln in den Becher füllend stichelte er: „Das so ein schüchternes Bübchen einmal zu so einem erwachsenen Mann heranwächst, man, das ist ja ein Ding!“

      „Schön dich mal wiederzusehen. Ich glaube, das letzte Eis habe ich vor 15 Jahren von dir bekommen und ich hoffe, es schmeckt noch genauso.“

      „Ich bin erstaunt, dass du das noch so genau weißt mein Junge. Ich habe oft an dich gedacht, wenn ich an die Zeit mit deinen Großeltern zurück dachte. Du warst das einzige Kind, dass sich immer ganz weit nach hinten gestellt hatte, damit die anderen zuerst ihr Eis bekamen.“

      „Ja, das stimmt, und immer hattest du noch eins für mich übrig. Ich habe mich immer gefragt, wie so viel in diese kleinen Schalen passen konnte.“

      „Passte es ja nicht. Ich habe immer Erdbeere und Zitrone für dich gelassen, weil ich deine Sorten kannte und ich kannte dich, denn deine Großeltern haben immer von dir gesprochen, wenn wir zusammen waren.“

      „Sag mal Hatschi, wie lange machst du das hier jetzt schon?“

      „Oh, ich bin jetzt 86 Jahre alt und mache das seit 1950, also 56 Jahre. Wenn meine Beine es mir irgendwann verbieten, werde ich mich dem beugen müssen, aber solange werdet ihr mich noch haben.“

      „Wow, du kannst echt stolz auf dich sein. Ich wünsche es dir, dass du das noch lange Zeit machst. Wo soll ich sonst meinen Becher mit Erdbeere und Zitrone herbekommen!?“

      Hatschi lachte mit weit geöffnetem Mund. Es war ein freudiges Lachen und man sah ihm besonders in diesen Momenten sein Alter nicht an. 60 Jahre, vielleicht 65, aber älter würde man ihn niemals schätzen. Er musste weiter und sie verabschiedeten sich voneinander. Marc ging zur Parkbank zurück auf

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