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DIE GABE. Michael Stuhr
Читать онлайн.Название DIE GABE
Год выпуска 0
isbn 9783847627234
Автор произведения Michael Stuhr
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Diego war herangewachsen, und langsam wurde es unwahrscheinlich, dass so junge Eltern einen Sohn um die Zwanzig hatten. – Zeit, die Dinge mal wieder ein wenig gerade zu rücken, wie Diegos Vater es ausdrückte; also hatten sie auf hoher See alle alten Ausweispapiere vernichtet. Synchron dazu waren Dutzende von Amtscomputern manipuliert worden, um die Daten der Familie an die neuen Identitäten anzupassen. Aus den neuen Pässen konnte man jetzt herauslesen, dass René Felipe Montenaux aus Bretonville, Kanada, fünfzehn Jahre älter war, als sein Bruder Diego. In Zukunft würde Diego sich also als der Bruder seines Vaters ausgeben müssen, seine Mutter war offiziell zu seiner Schwägerin geworden, und er selbst war nun ein in Montreal geborener Franco-Kanadier. Nun, ja, er würde sich daran gewöhnen.
Als die Manhattan unter Führung eines Lotsen in die San-Fancisco-Bay einlief, war es später Abend. Die Golden-Gate-Bridge war erleuchtet und die Kuppel aus Streulicht über der Stadt schimmerte im Wasser, genau wie die Lichter der Stadt selbst. Langsam steuerte die große Yacht auf den Tiefwasserhafen zu und machte an einem abgelegenen Kai bei dem Montenaux-Containerterminal fest. Der Lotse ging von Bord und wurde von einer Barkasse abgeholt.
Diego entschloss sich, die letzte Nacht an Bord im Salzwasserpool zu verbringen. Die nächsten Tage würden anstrengend werden. Die Prüfungen würden Einiges an Kraft kosten, und es war ungewiss, wann er wieder Zeit finden würde, im Meer zu schwimmen.
Irgendwann mitten in der Nacht drang ein Poltern an Diegos Ohr und er öffnete kurz die Augen. Die Nachtschicht der Hafenarbeiter holte wohl gerade sein Fahrzeug aus dem Frachtdeck. Er schloss die Augen wieder, ließ sich weiter in dem angenehm temperierten Wasser treiben, während sich sein Körper durch die Haut mit den wichtigen Salzen und Nährstoffen aus dem Meer auflud. Er kümmerte sich nicht weiter um das leise Gerumpel, das hin und wieder durch den Schiffskörper bis in den Pool drang. In einem dämmrigen Halbschlaf drifteten seine Gedanken weit in die Vergangenheit zurück:
Die Manhattan war mehr als ein Jahrzehnt lang fast so etwas wie Diegos Gefängnis gewesen, nachdem er als Fünfjähriger das Mädchen aus Versehen getötet hatte. Seine Eltern waren mit ihm auf dieser Yacht um die ganze Erde gereist. Sie hatten versucht, auf diese Weise der Vergangenheit zu entkommen und neues Unheil zu verhindern.
Diego kannte hier jeden Winkel und für lange Zeit waren Erwachsene die einzigen Personen gewesen, mit denen er hatte reden können. Es hatte da einen strengen Privatlehrer namens Ferris gegeben und ab und zu war auch ein Geistlicher aus Diegos Volk an Bord gekommen und hatte mit ihm über die Alte Schuld gesprochen, die der Junge seiner Ansicht nach viel zu früh auf sich geladen hatte.
Das alles war aber verblasst durch Diegos eigene Erinnerung an den unseligen Nachmittag, an dem das Mädchen in seinen Armen gestorben war. Immer wieder war die Kleine in seinen Träumen aufgetaucht. Diego hatte sich als Verlorenen gesehen, der es nie wieder wagen konnte, einen Menschen innig zu berühren. Dieses Gefühl hatte bis jetzt immer im Vordergrund gestanden. Mehr als einmal hatte er mit dem Schicksal gespielt und sein Leben mutwillig aufs Spiel gesetzt, bis er eines Tages in einem Strandlokal Lana gesehen hatte.
Von diesem Tag an war alles anders geworden. Er hatte es gewagt, Lana anzusprechen, und sie war der Inbegriff von allem, was Diego sich wünschte. Alles hätte gut werden können, aber dann hatte Dolores, seine Cousine, sich nicht beherrschen können und Lanas Freundin so viel Lebenskraft genommen, dass sie über Nacht zu einer verwirrten, alten Frau geworden war.
Lana hatte die Sache aufklären wollen, und er hatte ihr gestehen müssen, dass er in gewisser Weise darin verwickelt war. Sie hatten sich gestritten und er hatte dafür gesorgt, dass Dolores für dreißig Jahre nach Sweetwater, in das Gefängnis der Darksider, geschickt worden war.
Lana hatte das alles verstanden. Sie wusste, dass er einer anderen Rasse angehörte, dass sein Volk nach eigenen Regeln lebte, und sie hatte das akzeptiert. – Und nun waren sie wieder getrennt. Sie lebte in Paris, tief im Binnenland, mitten in Europa, und er würde sich für die nächsten Jahre an der Westküste Nordamerikas aufhalten müssen.
Diego wollte daran glauben, dass sie auf ihn warten würde. Er wünschte es sich so sehr, aber wenn er die Sache richtig überdachte, war es nahezu hoffnungslos.
Um die Mittagszeit saß Diego allein auf dem Oberdeck, las ein wenig in einem amerikanischen Magazin und genoss die Sonne. Er sah kurz auf, als sein Porsche mit dem typisch heiseren Motorgeräusch aus der Stadt zurückkam. Einer der Angestellten des Containerterminals war mit dem Wagen bei der Umweltschutzprüfung und auf der Zulassungsstelle gewesen. Alles war problemlos gelaufen und die brandneuen, kalifornischen Nummernschilder funkelten in der Mittagssonne.
„Schönes Auto!“, sagte der Mann, nachdem er an Bord gekommen war und Diego die Schlüssel überreicht hatte. Offensichtlich hatte der Job ihm Spaß gemacht.
Diego bedankte sich und machte sich bereit, die Manhattan zu verlassen. Zwei Reisetaschen und sein Laptop, das war alles, was er brauchte. Die Fachbücher würde ihm ein Kurierdienst direkt nach Berkeley bringen. Diego hatte einfach keine Lust, die etwa fünfzig Kilo schwere Kiste in seinen Porsche zu wuchten. Sie hätte auch gar nicht in den Kofferraum gepasst. Das ging per Lieferwagen nun wirklich besser.
Er verabschiedete sich mit einer kurzen Umarmung von seinen Eltern, oder besser: von Bruder und Schwägerin, und verließ die Manhattan, die schon am Abend wieder in Richtung New York auslaufen würde.
„D43M0N“ leuchtete es Diego dunkelblau vom weißen Nummernschild entgegen. Da hatte der Angestellte ihm offenbar ohne besonderen Auftrag ein Namensnummernschild besorgt. Die Buchstabenkombination sollte wohl für Diego Montenaux stehen, erinnerte ihn aber viel eher an das Wort „DAEMON“. – Irgendwie erwischt einen das Schicksal doch immer, und wenn es bloß mit solchen Nebensächlichkeiten ist.
Der neue Pass tat seinen Dienst und weder die Einwanderungsbehörde noch der Zoll machten Schwierigkeiten. Die Hackerzentrale der Darksider hatte mal wieder ganze Arbeit geleistet und Diegos neue Identität hielt natürlich jeder Überprüfung stand. Keine zehn Minuten nachdem er den Porsche vor dem Bürogebäude gestoppt hatte, konnte er schon weiterfahren.
San Francisco hatte auf Diego schon immer den Eindruck eines versteinerten Meeres mit mächtigen Wogen gemacht. Er verzichtete darauf, auf den nächsten Freeway einzubiegen und fuhr nur so zum Spaß ein wenig durch die Stadt. Tief schnitten sich die Straßen ihren Weg durch die Häuserschluchten. Schnurgerade zogen sie sich steile Hügel hinauf. Sie schienen direkt in den Himmel zu führen, um dann unvermittelt so plötzlich in das nächste Tal abzukippen, dass Diego unwillkürlich das Lenkrad fester umfasste. Das waren die Kreuzungen, wo leichtsinnige Fahrer, die nicht auf die Schilder achteten, mit ihren Stretchlimousinen und Reisebussen schon mal auf dem Asphalt aufsetzten. Hier mussten fast täglich Fahrzeuge freigeschleppt werden, weil die Räder den Bodenkontakt verloren hatten.
Die Gegend wurde flacher. Trotz der Nacht im Pool fühlte Diego sich ein wenig abgespannt. An einer günstigen Stelle stoppte er vor einem Starbucks und gönnte sich einen Kaffee und eine kleine Flasche Wasser. Das würde reichen, ihn bis zum Abend fit zu halten.
Zeit, in Richtung Wohnheim aufzubrechen. In dieser Gegend war Diego noch nie gewesen. Er hatte sich eindeutig verfahren, aber die Atmosphäre der Stadt gefiel ihm, und er hielt es nicht für nötig, das Navi zu aktivieren. Irgendwann erreichte er wieder bekanntes Gelände. Hier in der 14th Street gab es irgendwo eine Frachtagentur, mit der sein Vater zusammenarbeitete.
Er bog in die Mission-Street ein und suchte ein Hinweisschild, das in Richtung Bolinas wies, wo das Wohnheim lag. Nun wurde es doch Zeit, sich vom Navigationsgerät helfen zu lassen. Diego benutzte die Spracheingabe und nannte die Adresse des Wohnheims. Danach rief er bei der Hausverwaltung an, damit jemand mit dem Zimmerschlüssel dorthin kam, um ihn einzuweisen. Vierzig Minuten später war er da.
Das altehrwürdige Wohnheim lag in der Nähe des Stinson Beach innerhalb eines großen Areals. Schon vor Generationen hatten die Darksider hier etliche Hektar Land direkt an der Küste gekauft und nach und nach bebaut. Das Gelände wirkte wie eine gut gepflegte