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Mitgefühl kann tödlich sein. Henning Marx
Читать онлайн.Название Mitgefühl kann tödlich sein
Год выпуска 0
isbn 9783742760906
Автор произведения Henning Marx
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Kommentarlos war ihr Besucher schließlich gegangen, ohne noch ein Wort mit ihr zu wechseln. Er wusste also, was er getan hatte. In seinem Ärger hatte er sie auch demütigen wollen. Sie hatte sich zuerst wieder auf die Seite gerollt und lange geweint. Schließlich hatte sie das Bett abgezogen, bevor sie viel Zeit apathisch unter der Dusche verbracht hatte. Ein Handtuch um den Kopf, das andere um den Körper gewickelt, stand sie nun mit leerem Blick vor dem Spiegel. Sie war doch auch wer! Aber wer wollte sie eigentlich sein? Das Spiegelbild verweigerte ihr jedoch beharrlich jegliche Antwort.
Kapitel 5
Der Sonnenschirm spendete ihnen angenehmen Schatten. Sonniger konnte es kaum sein, abermals verzierten Schönwetterwolken den Blick zum Horizont mit ein paar strahlendweißen Farbtupfen. Thomas Sprengel und Lene Huscher saßen auf der Terrasse ihres Hotels »Blue Skyline Lodge« nur ein paar Meter von der Sandy Lane Bay entfernt beim Frühstück.
»Hättest du Lust, die junge Frau im Krankenhaus zu besuchen?«, erkundigte er sich bei Lene, bevor er sich genussvoll eine Gabel Rührei mit knusprigem Speck in den Mund schob. Göttlich. Nachdem sich seine sportlichen Bemühungen über den Sommer immerhin um die Hüfte bereits bemerkbar gemacht hatten, erlag er gerade zunehmend den Verführungen des Frühstücksbüfetts. Ganz im Gegensatz zu seiner Frau, die auch hier ihrer Vorliebe entsprechend morgens hauptsächlich Müsli aß und so gertenschlank blieb wie eh und je.
Sie schaute auf und runzelte kurz die Stirn. »Das ist eine gute Idee. Wir könnten das mit einem kleinen Ausflug verbinden, wenn du Lust hättest.«
Er nickte nur, weil er den Mund schon wieder voll hatte.
Lenes Gesicht bekam einen traurigen Zug, als sie an die junge Frau dachte. Sicher hatte diese Glück gehabt, weil Thomas sie noch rechtzeitig von dem Boot geholt hatte. Aber für ihren Begleiter, dem Alter nach hätte sie auf den Vater getippt, war jede Hilfe zu spät gekommen. »Ich möchte nicht wissen, wie es ihr geht, wenn sie von dem Tod ihres Vaters erfährt«, drückte Lene ihr Mitgefühl aus.
»Ich auch nicht. Meinst du, das war der Vater?«, fragte Thomas zu interessiert, um zuerst zu Ende zu kauen.
Lene schaute ihn ausdruckslos an, wobei sie keinerlei Ambitionen zeigte, ihm zu antworten.
Thomas verstand sie ohnehin. Eilig schlang er den guten Speck hinunter. »Mir ist durchaus bewusst, dass du damals ›in jeder Hinsicht kultiviert‹ gesagt hast.« Mit einem lausbübischen Grinsen fügte er jedoch an: »Es ist nur so: Du bringst mich ganz um den Verstand. Da bin ich gar nicht mehr Herr meiner Sinne.« Treuherziger konnte kein Mann schauen.
»Jaja«, antwortete sie trocken. Aber dieses Mal kostete es sie sogar ein wenig Anstrengung, sich ihre Belustigung nicht anmerken zu lassen.
»Und?«, wollte er immer noch wissen, nachdem er sicher war, sich hinreichend aus der Affäre gezogen zu haben. Das Ausbleiben eines bissigen Kommentars zeigte ihm an, dass Lene heute gewillt war, nachsichtig mit ihm zu sein. Mit der Zeit hatte er gelernt, an der Art ihrer Antworten hinter ihre meist undurchdringliche Miene zu schauen, die sie immer dann aufsetzte, wenn ihr etwas missfiel – oder wenn sie ganz Kommissarin war.
»Du glaubst eher an einen Mann, der sich im zweiten Frühling ein junges Häschen in den Stall geholt hat?«, versuchte sie zu ergründen, warum er anderer Ansicht sein könnte.
»Keine Ahnung. Mich interessiert nur, was du denkst«, zuckte er mit den Schultern, weil er sich nicht festlegen wollte.
»Es ist nur ein Gefühl. Die junge Frau machte mir nicht diesen Eindruck. Aber bevor ich dir jetzt Klischees aufzähle, sollten wir die Spekulation ...«, zeigte sich Lene wenig gestimmt, Unbewiesenes auszuwalzen, wurde dabei aber von einer älteren Frau höflich unterbrochen.
»Entschuldigen Sie bitte. Wir haben Sie deutsch sprechen hören. Dürften wir uns vielleicht zu Ihnen an den Tisch setzen? Sonst ist gerade keiner mehr frei«, bat die Dame mit einem sympathischen Lächeln.
Mit einem unauffälligen Blick zu Lene versicherte sich Thomas, sie nicht zu überfahren, bevor er sich charmant an die Fragende wandte: »Nette Menschen sind uns jederzeit willkommen.« Dabei stand er auf, gab der Dame, die er auf über sechzig schätzte, die Hand und stellte sich ihr auch gleich vor. »Es freut mich. Sprengel, Thomas Sprengel.«
»Sehr angenehm. Viktoria Dunkerbeek«, strahlte sie ihn aus ihren irgendwie leuchtenden Augen an, während sie seinen Händedruck fest erwiderte.
»Ohne Sie beleidigen zu wollen: Darf ich Ihnen die bezauberndste Frau vorstellen, nebenbei bemerkt seit zehn Tagen meine Gattin: Lene Huscher«, platzte er fast vor mit Stolz gemischter Freude, wie Lene gerne, aber auch amüsiert zur Kenntnis nahm, bevor sie sich ihrerseits Frau Dunkerbeek zuwandte.
»Philipp Dunkerbeek«, hörte sie den älteren Mann zu Thomas sagen, bevor er ihr mit einem gewinnenden Lächeln ebenfalls die Hand reichte. »Ich kann Ihren Mann in seinem Glück sehr gut verstehen.« Dabei sah er Lene mit einem Wohlwollen an, dass es ihrem Herz einen Stich versetzte. »Sie scheinen aber mit Ihrem Mann auch keine schlechte Wahl getroffen zu haben.«
Warum sah er sie auf einmal so aufmerksam an? Hatte er die winzige Regung in ihrem Gesicht tatsächlich wahrgenommen? Das konnte sie sich nicht vorstellen, war sofort wieder bei ihm und lachte dankbar: »Er hat mir nachhaltig bewiesen, welch toller Mensch er ist.« Sie schaute zu Thomas und strich ihm zärtlich über die Wange, bevor sie sich wieder setzten und Philipp Dunkerbeek ganz Gentleman seiner Frau den Stuhl zurechtrückte. Wenn sie in zwanzig Jahren auch noch so liebevoll miteinander umgingen, hätten sie wirklich Glück gehabt, ging es Lene Huscher kurz durch den Kopf. Zweifel daran hegte sie keine.
Wenig überraschend kamen sie während der Unterhaltung wie von selbst auf das alle beschäftigende Ereignis des Vortages zu sprechen. Dunkerbeeks brachten ihre Bewunderung für das schnelle und umsichtige Handeln der beiden angesichts der brennenden Segelyacht zum Ausdruck, das ihnen durchaus aufgefallen war. Thomas und Lene wollten das hingegen lediglich als Folge ihrer beruflichen Tätigkeit betrachten.
»Da könnten Sie doch gleich ermitteln, ob es sich überhaupt um einen Unfall gehandelt hat«, überlegte Philipp Dunkerbeek, lachte umgehend und schüttelte den Kopf. »Aber nein, Sie sind ja hier im Urlaub. Entschuldigen Sie meinen gedankenlosen Einfall.«
»Wir wären hier wohl auch nicht zuständig«, wies Thomas Sprengel jeden Gedanken an Arbeit zurück, bevor er sich seinen Teller schnappte, um noch ein wenig von diesem leckeren Speck zu organisieren.
»Die Yacht ist unter deutscher Flagge gesegelt. Insofern ist sie deutsches Hoheitsgebiet, Herr Sprengel. Weckt das nicht ein wenig Ihre berufliche Neugier?«, setzte der ältere Herr schmunzelnd nach.
Thomas Sprengel hielt kurz inne und überlegte. Bisher war er automatisch von einem Unfall ausgegangen. »Sie meinen, das könnte kein Unfall gewesen sein?«
»Das weiß ich wirklich nicht«, ruderte Herr Dunkerbeek eiligst zurück, bevor seine Frau ihn unterbrach.
»Philipp, du musst immer schneller reden, als du denkst. Jetzt lass doch den Kommissar in seinem Urlaub sein Frühstück genießen.« Um das Thema zu wechseln, wandte sie sich Lene Huscher zu. Thomas Sprengel hörte die Frage noch im Weggehen. »Wie haben Sie sich denn kennengelernt?«
Er zuckte innerlich zusammen und hoffte inständig, dass seine Frau seinen katastrophalen ersten Auftritt verschweigen würde. Leider konnte er nicht stehen bleiben, um die Antwort abzuwarten, weil Lene das sofort gemerkt hätte.
Mit einem gut gefüllten Teller kehrte Thomas Sprengel etwas unsicher an den Tisch zurück.