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... so klar hatte sie das bis jetzt nicht empfunden. Wenigstens in diesem Bereich schien sie Fortschritte zu machen. „Ich habe sehr gute Freunde, die sich um mich küm- “

      „Du meinst ja wohl nicht diese stinkenden Hinterwäldler, die in deinem Kaff hausen?“ Sandra lachte schrill. „Schafhirten und Randalierer - ich bitte dich! Würd mich nicht wundern, wenn dich dieser Umgang irgendwann deine Stellung in der Agentur kostet ...“

      Das war wieder typisch Sandra, den Finger zielsicher in die offene Wunde zu legen und darin zu bohren. Inga fragte sich wohl zum hundertsten Mal, welchen Vorteil die Schwester sich dadurch versprach. Seit sie denken konnte, hatte Sandra ihr alles geneidet: Ihre Monchichi-Puppen, das rosa Fahrrad, ihre hellblonden langen Haare, die Freundschaft mit der Tochter des Süßwarenverkäufers ... Was Sandra ihr nicht wegnehmen konnte, hatte sie kaputt gemacht. Inga hegte den Verdacht, dass lediglich die große Entfernung sie mittlerweile daran hinderte, ihr beruflich zu schaden oder sich an ihre Freunde heranzumachen. Es blieb ein genetisches Rätsel, wie aus der Verbindung zweier freundlicher Elternteile ein derart scharfzüngiges Ekel hervorgehen konnte. Bei Sandras Erscheinen nahm die gesamte Verwandtschaft unwillkürlich Haltung an und atmete erst wieder aus, wenn sie den Raum verließ.

      Ben, jüngerer Bruder und schwarzes Schaf der Familie, hatte einmal hinter ihrem entschwindenden Rücken ein ‚rührt euch!’ gemurmelt und beinahe einen Familienkrieg ausgelöst. Er war es aber auch, der die einzig wirksame Methode fand, der ältesten Schwester Paroli zu bieten. Inga und die Eltern lernten den Kniff schnell und betrachteten daraufhin Ben, den jungen Nichtsnutz, mit ganz anderen Augen.

      „Du hast sicher Recht, Sandra“, flötete Inga nun nach der ben`schen Methode, „Ich werde darüber nachdenken.“

      Was sie nicht beabsichtigte. Was wiederum Sandra argwöhnte, doch schwerlich beeinflussen konnte.

      „Nun, ich hoffe, du findest bald einen passenderen Umgang. Bis dahin gute Besserung.“

      „Ja, danke. Tschüs.“ Inga seufzte. Wenn es nach ihr ginge, würde sie lieber heute als morgen jeglichen Kontakt mit dieser Frau abbrechen. Aber das konnte sie den Eltern nicht antun. Erstens, weil diese noch größere Schuldgefühle bekommen würden, bei der Erziehung ihres ältesten Kindes versagt zu haben. Und zweitens, weil den beiden eine entsprechend höhere Dosis boshafter Bemerkungen zuteil würde, wenn eine Abnehmerin wegfiele.

      Nach diesem deprimierenden Gespräch brauchte Inga dringend Zuspruch von einer befreundeten Seele. Sabije befand sich noch bei Gericht. Sie wählte ihre ‚Nummer für alle Fälle’ in Hamburg.

      „Neverland Cut“, meldete sich eine Männerstimme mit professioneller Herzlichkeit.

      „Jörg, wie sieht`s aus bei dir? Hast du ´n Moment Zeit?“

      „Für dich immer, mein Goldstück.“ Seine Stimme klang sofort um mindestens zehn Grad wärmer. Inga hörte ihn über die Hintergrundgeräusche des Frisörsalons hinweg einige kurze Anweisungen geben. Dann das Zischen der Kaffeemaschine, Porzellangeklapper. Sie sah ihren Kumpel Jörg vor sich, wie er einen Milchkaffee zubereitete, ihn in sein winziges Büro balancierte, das gleichzeitig als Aufenthaltsraum und Hundezwinger diente, und die Tür hinter sich anlehnte. Jörg machte niemals eine Tür ganz zu, um seinen Angestellten das Gefühl zu geben, jederzeit ansprechbar zu sein. Irgendwann hatte ihn ein Freund darauf hingewiesen, dass es leicht als übertriebene Fürsorge ausgelegt werden könne, wenn er diesen Tick auf die Toilettenräume ausdehnte.

      „So, jetzt bin ich ganz dein.“ Jörg machte es sich in seinem abgewetzten Schreibtischsessel gemütlich. Inga hörte das Knarzen des alte Leders, welches sich der Körperfülle seines Besitzers anpasste.

      „Wie geht es dir, Figaro?“

      „Oh, bestens. Den Hamburgern wachsen unaufhörlich die Haare nach, man kann kaum dagegen an schneiden. Und wie sieht`s bei dir aus? Seid Ihr in Marunthien noch im Winterschlaf?“ Er klang merkwürdig aufgedreht, was bedeutete, dass ihm etwas auf die Seele drückte. Doch das würde er niemals direkt zugeben. Inga musste es langsam aus ihm herauslocken, wie einen Einsiedlerkrebs aus einem Schneckenhaus.

      „Hab mir die Hand gebrochen, vielmehr den Arm. Ist aber halb so wild.“

      „Waas?! Wann? Kann ich dir irgendwie helfen? Nimm dir eine Haushaltshilfe, ich zahle. Taugen deine Ärzte was? Wird das wieder richtig heilen?“ Jörg verschluckte sich fast vor Schreck.

      Inga beruhigte ihn damit, dass der Unfall schon eine Weile her und alles unter Kontrolle sei. Bis auf ihren Job natürlich, den bevorstehenden Umzug und ihr Gefühl, zwischen allen Stühlen zu sitzen. Aber mehr als eine schlechte Nachricht pro Tag verkraftete sein sensibles Gemüt nicht. Unter der Art, wie Detlef damals Inga behandelt hatte, hatte Jörg womöglich stärker gelitten als sie selbst.

      „Da kannst du mal sehen, wie selten wir uns treffen. Das müssen wir sofort ändern. Ich führe dich zu einem sündteuren Stadtbummel mit Essen im Maritim aus, mindestens. Wann kannst du kommen?“

      Inga angelte nach ihrem Terminkalender und trug die Verabredung dick unterstrichen ein. Am anderen Ende der Leitung gab es ein hastiges Gemurmel.

      „Tut mir furchtbar leid, Goldstück, aber eben ist so eine neureiche Fregatte aus Blankenese eingelaufen. Die wird mir den ganzen Laden verrückt machen, wenn ich sie nicht sofort hofiere. Bis dann ... leg deinen Arm hoch. Ciao.“

      Irgend etwas in seiner Stimme verriet Inga, dass es dem angesagtesten Haarstylisten der Hamburger Pfeffersäcke gerade ziemlich dreckig ging.

      Robson Oliveira überflog seine Termine für den nächsten Tag. Besprechung mit den Assistenzärzten, Visite, Sprechstunde. Überwiegend Nachuntersuchungen von Knochenbrüchen, saisonbedingt kaum überraschend. Moment mal ... Robson stutzte. Inga Döring - das war doch die blonde Dame mit der Hand? Hoffentlich ging es ihr gut. Wo sie wohl wohnte? In einem Dorf, in dem es Kirschbäume gab ... Robson lächelte. Doch er wusste, dass er nicht so ohne Weiteres ihre Adressdaten im Computer aufrufen durfte. Nach ihrem Alter zu schauen war schon grenzwertig gewesen. Er hatte sich felsenfest vorgenommen, sie zu vergessen, doch offensichtlich hatte das nicht besonders gut funktioniert. Rob hätte sich gerne mit ihr unterhalten, zum Beispiel über die Bücher, die sie las. Ehrlich gesagt interessierte er sich für mehr als eine Unterhaltung ... Ach, was soll`s, dachte er, gegen ein bisschen Smalltalk während der Untersuchung ist wohl kaum etwas einzuwenden. Rob sammelte seine Siebensachen ein und verließ die Klinik.

      Abends, als er bei den Proben mit seiner Rockband den Text von ‚I Would Do Anything For Love’ in den staubigen alten Festsaal von Carl`s Kneipe hinein sang, dachte er an die hellblonde Frau, die in ihr Buch versunken auf dem Krankenbett gesessen hatte, und die er in wenigen Stunden wiedersehen würde.

      Die anderen Bandmitglieder nickten einander anerkennend zu: Ihr Frontmann konnte singen, das war mal sicher.

      Inga klopfte an den offenen Türrahmen vom Chefarztsekretariat und wurde von Bärbel Lohmann mit einem freundlichen Lächeln begrüßt. Wie versprochen hatte sie Ingas Termin vorbereitet.

      „Gehen Sie direkt durch ins Wartezimmer der Radiologie. Sie brauchen sich nicht anmelden, nichts ausfüllen, nur röntgen lassen und danach direkt vor diesem Büro hier Platz nehmen. Ich hab Sie bei Dr. Oliveira eingetragen.“

      Das Telefon klingelte, und mit einer entschuldigenden Handbewegung nahm Frau Lohmann ab. So eine Nette. Inga beschloss, sich bei nächster Gelegenheit für ihre Hilfe zu bedanken. Beim Oberarzt würde sie jetzt in besten Händen sein. Warum fühlte sie sich dann so flatterig? Inga schwebte fast durch den Flur und durchquerte die belebte Eingangshalle. Trotz der vielen Menschen nahm sie plötzlich aus den Augenwinkeln einen weißen Kittel wahr, der aus einer Tür im Hintergrund trat. Instinktiv wusste sie: Das war er. Jetzt ganz cool bleiben, nur nicht wie ein Schulmädchen reagieren. Es gelang Inga, ohne zu stocken weiterzulaufen.

      „He, Sie sind doch die Dame mit der Hand ...“, scholl es hinter ihr. Äußerlich gelassen drehte sie sich um und sah Dr. Oliveira quer durch die Halle auf sie zu eilen. In seiner effizienten Art schüttelte er ihr zur Begrüßung behutsam die linke Hand und prüfte gleichzeitig deren Heilungszustand.

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