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Tom Winter und der weiße Hirsch. Nicole Wagner
Читать онлайн.Название Tom Winter und der weiße Hirsch
Год выпуска 0
isbn 9783738097283
Автор произведения Nicole Wagner
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Der Mann – Vampir, wie Tom schmerzhaft bewusst wurde – wandte den Kopf, als hätte er ihn gehört. Seine Augen und sein Mund waren von blutroter Farbe. Dann ging alles ganz schnell. Eins seiner Augen schien größer zu werden und immer größer, ein schrilles Pfeifen, das den ganzen Raum erfüllte, ertönte, das Auge raste auf sie zu, bis es die gesamte Oberfläche des Spiegels eingenommen hatte. Das Weiß des Augapfels lag wie ein Ring um den sichtbaren Kern, tausend verästelte Äderchen rankten sich darum, was ihm einen wahnsinnigen Ausdruck verlieh. Aus der Mitte der roten Iris schien etwas auf sie zuzukommen, klein, schwarz, ein Wesen mit hunderten von Zähnen an der Stelle, wo sein Mund sein sollte. Toms Herz raste. War das eine Chipera? Griselbart sprang vor, wobei er die beiden Jungen unsanft zur Seite schubste. Sein Zauberstab blitzte auf und helles Licht brach hervor, es kollidierte mit dem Auge und der grässlich kreischenden Fledermaus. Blitze zuckten über die Spiegeloberfläche. Mit einem enormen Kraftaufwand schaffte es Griselbart, das Auge Zentimeter für Zentimeter zurück in den Spiegel zu drängen. Es begann zu pulsieren und die Adern zeichneten sich rot leuchtend ab. Tom stand da, unfähig sich zu rühren, sein Atem ging keuchend. Dann erstarb das Pfeifen. Noch bevor es ganz verschwunden war, rollte Griselbart ein schwarzes Tuch herab, das in einer Vorrichtung über dem Spiegel angebracht war. Erst als alles schwarz war und die Falten des Stoffes sich nicht mehr regten, konnte Tom aufatmen.
Griselbart ließ sich gegen die Wand sinken, Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn. „Das hätte nicht passieren dürfen! Ich weiß nicht, warum du ihn so einfach sehen hast können, Tom. Es muss daran liegen, dass er dich gerade beobachtet hat und die Verbindung noch offen war.“
„Warum interessiert er sich für mich? Er weiß nicht, dass ich helfen will, den Trank zu brauen!“, rief Tom außer sich.
„Sch, sch! Bist du wahnsinnig, sag das doch nicht so laut! “ Griselbart warf einen gehetzten Blick zum Spiegel, dann sagte er mit leiser Stimme: „Das liegt einzig und allein daran, dass du ein Reiter bist. Reiter haben in der Vergangenheit Großes bewirkt und je nach dem, welcher Seite sie angehörten, veränderten sie schon oft den Lauf der Geschichte. Himmel, er muss genauso erschrocken sein wie wir!“
Tom bezweifelte das. Immerhin war Skelardo ein mächtiger Vampir, der schon seit vielen Jahren (oder waren es Jahrhunderte?) Zauberkunst lernte und viele seiner Gegner beseitigt hatte. Tom dagegen war ein niemand und vollkommen hilflos.
„Wartet, ihr zwei.“ Griselbart stellte die beiden nebeneinander, dass ihre Ellbogen sich berührten. Dann hob er den Zauberstab und murmelte einige Worte, bis sie beinahe Sätze waren. Tom spürte ein warmes Kribbeln seinen ganzen Körper durchströmen und er meinte etwas zu hören, das wie „Pling!“ klang. Danach fühlte er sich nicht anders als zuvor und auch seine Finger, die er prüfend betrachtete, sahen noch genauso aus.
Griselbart erklärte: „Skelardo kann euch nun nicht mehr sehen. An anderen Orten, wo euer Bewusstsein angreifbar ist, in Träumen zum Beispiel, könnte er euch aber noch gefährlich werden. Seid auf der Hut!“
Tom und Peer waren stiller geworden; sie verstanden, dass das, was Griselbart ihnen zeigte, über Leben und Tod entscheiden konnte. Der Meister zog aus einem Regal an der Wand ein sehr abgegriffenes Buch und produzierte von irgendwoher noch ein weiteres für Peer. Der Titel verkündete: Elementare Zauber und ihre zahlreichen Erweiterungen. Griselbart ließ sie die zehnte Seite aufschlagen und jeder für sich lesen. Ein Federrascheln vom offenen Fenster verkündete, dass Karak genug davon hatte, ihren Unterricht zu beobachten.
„Wo fliegt er jetzt hin?“, fragte Peer und schaute dem davonfliegenden schwarzen Schatten nach.
„In den Rabenhorst auf dem Dachstuhl. Dort warten seine Artgenossen und eine freie Sitzstange auf ihn.“
Tom hob überrascht die Brauen. Es gab einen Rabenhorst in Griselbarts Dachstuhl? Das erklärte natürlich die Unmengen schwarzer Vögel, die überall in der Umgebung zu entdecken waren. Er musste lächeln. Griselbart war wirklich der einzige Mensch, von dem er je gehört hatte, Raben in oder auch nur über seinem Haus zu halten.
„Für gewöhnlich sollte man nicht mehr als einen neuen Zauber pro Tag lernen, aber da wir uns in einer besonderen Situation befinden, werden wir uns an diese Regel nicht halten können.“
Und so geschah es. Sie lernten Anzieh- und Abstoßzauber, die, wie der Name schon sagte, Dinge heran- und wegfliegen ließen. Besonders hilfreich fand Tom einen Lichtzauber, der eine große wabernde Kugel in der Farbe ihres Gluthiens erzeugte, die neben ihnen herschwebte. (Der Zauberspruch lautete: „Anaphaino!“) Das ersparte ihm in Zukunft das Mitschleppen einer Taschenlampe. Peer fiel eine Formel, die Dinge entzweibrechen ließ, am leichtesten, er zerbrach Stifte, Kreidestücke, Stühle und sogar im Tisch hinterließ er einen faustgroßen Sprung. Bei Tom dagegen tat sich gar nichts. Auch wenn er sich sicher war, die Worte richtig auszusprechen („Diorusso pagis!“) und die Bewegung richtig auszuführen, blieb sein Spielzeugauto, das er zum Üben hernahm, ganz.
„Das liegt an deiner inneren Einstellung“, erklärte Griselbart ihm. „Du machst Dinge nicht gern kaputt, sondern schaust lieber zu, dass sie ganz werden. Der Reparierzauber dürfte dir leicht fallen, aber der ist fortgeschritten, genau wie der heutige Tag, und ich würde sagen, für heute belassen wir es dabei.“
Tatsächlich war die Sonne bereits untergegangen und die ersten Schatten der Abenddämmerung senkten sich über Glöckerlstadt. Draußen hörte man ein paar Raben krächzen, ansonsten war alles still. Dann konnte Tom noch etwas ausmachen, Rufe und Laute, wie man sie im Kampf äußerte, ein Ächzen, das Klacken von aufeinanderschlagenden Gliedmaßen, Schreie. Er und Peer stürzten zum Fenster; einige Dutzend Meter entfernt, neben dem See und hinter dem chinesischen Pavillon hatte sich eine Gruppe von Leuten versammelt. Sie standen auf dem quadratischen Sandplatz, der, wie Tom jetzt klar wurde, kein Volleybaldfeld, sondern ein Übungsfeld für Kampfpraktiken war. Jungen und Mädchen in ihrem Alter traten nacheinander vor und kämpften gegen die Person in der Mitte, die ihnen, was die Leistung betraf, eindeutig überlegen war. Tom kannte nur eine Person, die lange rotbraune Haare hatte, die stets zu einem Pferdeschwanz gebunden waren; bei jeder Bewegung und jeder Drehung tanzte er um ihren Körper, als würde er eine ganz eigene Choreographie aufführen. Er hatte auch noch nie jemanden gesehen, der sich so geschmeidig und fließend bewegen konnte und gleichzeitig so viel Kraft in die Tritte und Schläge steckte, da war kein einziger Fehler in ihrer Vorstellung.
„Ist das-?“, fragte Peer.
Tom nickte nur. Ja, das war Charlie.
„Ich wusste nicht, dass sie Karate kann.“
„Ich auch nicht“, sagte Tom.
„Ja, sie ist der einzige Schwarzgürtel mit dreizehn Jahren im ganzen Landkreis“, sagte Griselbart mit unüberhörbarem Stolz in der Stimme.
„Schwarzgürtel?“, wiederholte Tom entgeistert.
„Ihr Vater hat sehr früh begonnen sie selbst zu trainieren. Er war schon immer höchst besorgt um ihre Sicherheit. Kein Wunder nach dem, was mit ihrer Mutter passiert ist.“
Tom wusste, dass Charlies Mutter wie seine eigene nicht mehr am Leben war, wusste aber nicht, was genau mit ihr geschehen war und fragte auch jetzt nicht.
„Geht hinunter, schaut zu!“, forderte der Meister sie auf. „Karatestunden stehen bald auch auf eurem Stundenplan, es gibt kein besseres Mittel sich selbst zu verteidigen.“
Tom und Peer dankten ihm für den Unterricht und wünschten ihm gute Nacht. Als Tom die Tür schloss, sah er, dass Griselbart die Hand ausstreckte und Karak auf seinem Arm landete. Er bezweifelte, dass der alte Zauberer einen sorgenfreien Abend verbringen würde - dass er überhaupt irgendeinen sorgenfreien Abend in den letzten Wochen gehabt hatte.
Die beiden Jungen spurteten die lange Treppe hinunter und liefen durchs Wohnzimmer über die Veranda hinaus in den Garten. Als sie zu der Gruppe stießen, folgten nur noch wenige Durchgänge. Aus den Schlag- und Trittabfolgen wurde Tom nur wenig schlau, auch wenn er sich bemühte zu folgen. Er konnte nicht mal genau sagen, wer einen Treffer landete und wer abblockte, doch es ging fast immer gleich aus, wenn Charlie es schaffte,