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Der große Reformbetrug. Udo Schenck
Читать онлайн.Название Der große Reformbetrug
Год выпуска 0
isbn 9783738045604
Автор произведения Udo Schenck
Жанр Социология
Издательство Bookwire
„Was wollen Sie?“
„Ich möchte drei Dokumente abgeben und mir den Eingang auf den Kopien, die ich von den Dokumenten gemacht habe, von Ihnen bestätigen lassen“, ich reiche ihm die Papiere hoch.
„Hm, Originale nehmen wir aber nicht mehr entgegen, wir nehmen nur die Kopien“, entgegnete mein Gegenüber bestimmt.
Ungläubig sage ich nach einer Pause des gewahr werden Wollens: „Das verstehe ich jetzt aber nicht recht, schließlich will das Jobcenter das eine Dokument im Original haben und hat es ausdrücklich so verlangt. Ich habe jetzt hier doch nicht etwa bald zwei Stunden angestanden, nur um von Ihnen zu hören, dass Sie die angeforderten Unterlagen nicht haben wollen?“
Ich frage mich im Stillen was das jetzt nun wieder für neue Kapriolen sein sollen. Der junge Mann wendet sich ab und tuschelt mit der bebrillten Strengmienigen hinter ihm um sich nach einer Weile in unlustig und abfällig gefärbtem Tonfall erneut zu mir hinunter zu wenden: „Na gut, wenn Sie darauf bestehen“, stempelt die Kopien ab und reicht sie mir wieder herunter. Ich verzichte auf eine weitere Erörterung.
„War das alles?“
„Nein, noch nicht, ich möchte für drei Wochen in Urlaub gehen und mich deswegen abmelden.“
„Urlaub gibt es nicht“, kommt es schroff zurück, „Sie können sich bis zu drei Wochen im Jahr von Ihrem Wohnort entfernen. Dazu müssen Sie sich aber erst einen Termin bei Ihrem Vermittler geben lassen, der muss das genehmigen.“
Habe ich das eben wirklich richtig verstanden? Das muss doch wohl ein ganz schlechter Scherz sein. Ich kann es kaum fassen.
Ich sage: „Seit wann denn das, es war doch bisher immer möglich bei einem einmaligen Erscheinen im Jobcenter eine Genehmigung erteilt zu bekommen. Ich wollte vielleicht in spätestens zwei Woche verreisen, wie soll ich so eine Reise vorbereiten und planen können? Man kann ja so überhaupt keine Buchungen vornehmen. Dann geben Sie mir also bitte einen Termin bei meiner Arbeitsvermittlerin, ich kann sie ja nicht telefonisch erreichen.“
Mit spöttisch funkelnden Augen und gedämpft süffisanter Stimme, seine dumpfe, klammheimliche Schadenfreude nur unzureichend verbergend, gibt der junge Mann herunter: „Dafür müssen Sie aber erst in den Wartebereich B, ich kann Ihnen diesen Termin leider nicht geben.“
„Das ist ja Schikane, wie lange soll ich denn da noch warten?“
Mokant gibt der junge Mann zurück: „So sind eben die Gesetze!“
Es schießt aus mir heraus: „Auch die Nazis hatten Gesetze, in welchem Gesetz, bitte schön, soll denn das so geregelt sein?“
Der junge Mann nun vermutlich aus einer Art pawlowschem Reflex, bzw. einer künstlichen Empörung heraus: „Ich lasse Sie gleich vom Sicherheitsdienst hinausführen.“
„Weshalb denn, was soll das, habe ich etwas Falsches gesagt? Nun bleiben Sie aber mal auf dem Teppich.“
Siedenden Pulses wende ich mich nach den Formalitäten von dem milchgesichtigen, eifernden und geifernden Gernegroß ab und dränge zum Wartebereich B. In meinem Brass denke ich, da zeigt sich wieder einmal: Neue Besen kehren gut, Besen die geführt werden, meist an der Nase herum, die selbst keinen eigenen Kurs, kein Rückrat, keinen eigenen Kopf haben und darum umso „besser“ funktionieren.
Im Wartebereich B drängen sich die verdrossenen Gesichter noch dichter, aber man kann hier wenigstens sitzen, sofern man einen Platz abbekommt. Nach einer gestandenen viertel Stunde habe ich das Glück einen zu bekommen. Dadurch, dass dieser Raum kleiner und niedriger ist als der Empfangssaal ist es deutlich lauter und noch stickiger; hoffentlich überhöre ich nicht den Aufruf meines Namens. Von einer sich angeregt unterhaltenden Gruppe junger Leute dringt ein Schwall erregter Satzfetzen heran, wie: „Ich glaub ich bin im falschen Film. Die hatte doch überhaupt keine Ahnung…“, und: „Das ist hier ein volles Verarschungsprogramm, was die hier abziehen. Das habe ich so echt noch nicht erlebt…“
Noch immer bin ich mit der Szene am Schalter beschäftigt – dieser bräsige, blasierte Grünschnabel. Ich sollte jedoch fair bleiben. Letztendlich hatte der junge Mann scheinbar keine andere Wahl – in diesem Job – er musste so handeln. Aber das Wie und auch das Wo stehen doch auf einem ganz anderen Blatt. Wie ich später erfuhr, hat sich mit Einführung von Hartz IV die Praxis tatsächlich dahingehend geändert, dass man sich eine gewünschte Abwesenheit vom Wohnort nur noch von seinem persönlichen Arbeitsvermittler genehmigen lassen konnte. Das Problem ist, dass der bzw. die im Gegensatz zu früher nicht mehr direkt bzw. telefonisch erreichbar ist und man nun genötigt wird, sich unter allen Umständen mit ihm/ihr gut zustellen. Ferner muss man sich nun, ebenso im Gegensatz zu früher, umgehend am ersten möglichen Tag nach der Abwesenheit persönlich im Jobcenter zurückmelden. Die Frage ist wozu das gut sein soll, wenn dem Jobcenter der Zeitraum der Abwesenheit bekannt ist. Läge irgendetwas vor, eine Arbeitsvermittlung oder irgendeine Maßnahme, an der man teilnehmen soll, so würde man in jedem Fall schriftlich darüber benachrichtigt werden. Würde man darauf infolge einer nicht genehmigten Abwesenheit nicht reagieren, würden auch so Sanktionen in Kraft treten. So wird man gezwungen die Warteschlangen in und vor den Jobcentern unsinnigerweise (im Sinne der sog. Kunden und der Angestellten im Jobcenter) noch zu verlängern. Ich bemerkte diese Veränderungen, die ja wohlweislich nicht hinausposaunt werden, nicht, weil ich u. a. eineinhalb Jahre in einem sog. Ein-Euro-Job tätig war, wo der Urlaub vom jeweiligen Träger der Maßnahme dem Jobcenter lediglich gemeldet werden sollte, ohne das dieses den Urlaub in diesem Fall i. d. R. verwehren konnte. Ferner arbeitete ich danach in einem befristeten regulären Beschäftigungsverhältnis oder nahm die neue Abwesenheitsregelung noch nicht in Anspruch.
Eine durch den dichten Palaverdunst gedämpfte, schwache weibliche Stimme aus einem Lautsprecher ruft einen unverständlichen Namen aus, worauf sich niemand zu den Schaltern auf macht, die sich hinter hohen, mobilen Trennwänden verbergen. Schon wird ein anderer Name aufgerufen; dem Ruf folgt ein dürrer, langhaariger Mann in schwarzer Lederjacke. In der Sitzreihe vor mir stöhnt ein Mann zu seiner Nachbarin, er würde jetzt schon viereinhalb Stunden im Jobcenter zubringen und hätte noch so viel zu erledigen. Ich denke, das kann ja heiter werden, was denken die sich hier nur? Zum Glück habe ich eine Tageszeitung dabei, die ich nun im Sitzen in Ruhe lesen kann, aber hoffentlich verpasse ich nicht meinen Aufruf, wenn ich ins Lesen vertieft bin. Ich sage mir, so wie die Dinge liegen wird es wohl noch eine ganze Weile dauern, also lese ich erst einmal; sollte ich jedoch den Aufruf verpassen, hätte ich die ganze Zeit umsonst hier gesessen und gestanden. Warum nur geben die keine Wartenummern mehr aus? Dann könnte man sich wenigstens am Stand einer Nummernanzeige orientieren und könnte mal hinausgehen. Es wäre vielleicht nicht verkehrt jetzt gleich noch mal auf die Toilette zu gehen, aber dann könnte der Sitzplatz weg sein. Noch dümmer wäre es aber nachher auf die Toilette gehen zu müssen, weil es nicht mehr hinaus zu zögern ist und so vielleicht den Aufruf zu verpassen. Also gehe ich gleich. Prompt ist der Sitzplatz weg, als ich wieder komme. Nach einer kleinen, stehenden Ewigkeit von etwa zwanzig Minuten wird wieder ein Platz in meiner Nähe frei, auf den ich mich setzen kann.
Mittagszeit – die verbrauchte Luft lastet schwülwarm, stickig und träge, so träge und müde wie die Zeit, die nicht vergehen will. Meine Zeitung las ich bereits vor über einer halben Stunde aus und immer noch ist der Laden voll, kommen noch Leute herein. Ich bin müde, konnte eben beim Lesen kaum noch die Augen aufhalten – bloß nicht einnicken und dann noch den Aufruf verpassen. Aber es dürfte eigentlich nicht mehr so lange dauern, ich müsste doch bald dran sein. Hoffentlich haben die mich nicht vergessen oder gar vergessen wollen. Was kann ich nun machen, einen Kugelschreiber für das Kreuzworträtsel in der Zeitung habe ich dummerweise vergessen. Ich frage meine Nachbarin, ob sie vielleicht einen Stift hätte. Sie bedauert freundlich keinen zu haben. Ich frage den Mann zu meiner Rechten, aber auch er bedauert. Ich gebe es auf.
Endlich ruft eine zerkratzte, dünne weibliche Stimme meinen Namen aus. In einer sonderbaren Mischung aus Mittagsmüdigkeit und Schicksalsergebenheit, einer sedierten Gleichgültigkeit, gar gekocht – was kann nun