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Xelorin schien es, als ob sie ihn zu sich rief.

      Staunend stellte er fest, dass der Baum alleine mitten in der Lichtung stand. Du weisst ja, Sandor, Birlinden lieben Gesellschaft und stehen meistens in Gruppen beisammen. Ihre Äste verflechten sich zu einem dichten Dach. Nur mit Mühe kann man sie fällen und den wertvollen Stamm aus dem Gewirr ziehen. Diese Birlinde aber war anders. Xelorin betrachtete sie aufmerksam, berührte den Baum. Die Rinde fühlte sich spröde an und war fiebrig heiss. Das Holz schien zu vibrieren. Neugierig schritt Xelorin um die Birlinde. Sie schien ihm passend gewachsen und trug nur wenige Äste, und die nur oben in der Baumkrone. Vielleicht ahnte Xelorin bereits, dass dieses Holz Zauberkräfte in sich barg. Er war sich sicher, dass er nie mehr in seinem Leben ein solches Material fände.

      Xelorin dachte lange nach. Dann zog er ein rotes Band dreimal um den Baumstamm und verknotete es mit seinem persönlichen Zunftknoten. Du weisst ja, Sandor, nach den ungeschriebenen Gesetzen der Holzschnitzer in Meldonien wurde der Baum dadurch sein Eigentum, und niemand würde es wagen, den Knoten des grossen Xelorin zu öffnen. Mühsam suchte sich der Zauberer einen Weg aus dem Urwald. Als er bereits glaubte, sich verirrt zu haben, stand er überrascht am Waldrand. Nach einigen Tagen kam er mit Waldarbeitern zurück. Sie schlugen sich einen Weg durch den Urwald, betraten die Lichtung. Die Birlinde wurde unter Xelorins Aufsicht gefällt und in sein Holzlager gebracht. Während langer Jahre trocknete der Stamm aus, wartete auf Xelorin und seine hungrigen Sägen und scharfen Messer. Oft stand er neben diesem seltsamen Holz. Noch immer schien der Stamm zu vibrieren, die Rinde war gelb geworden. Xelorin entwickelte besondere Pläne für dieses geheimnisvolle Material. Er würde ein Figurenspiel daraus erschaffen, ein einmaliges Spiel, wie es noch niemand gesehen hatte. Er würde es dem König schenken und der hübschen Königin. Solche Träume hielten Xelorin während Jahren in Bann. Beinahe jeden Abend, wenn er seine Werkstatt abgeschlossen hatte, stellte er sich die Figuren vor und ersann Spielregeln.

      «Du musst wissen, Sandor», fuhr der Grossvater fort, nachdem er umständlich Tee nachgegossen hatte, «du musst wissen, dass Meldonien bekannt war für seine vertrackten Brettspiele. Einige sind so kompliziert, dass nur ihre Erfinder sie zu spielen verstehen. Deshalb ist es auch kaum erstaunlich, dass viele dieser Spiele so eingerichtet sind, dass sie von einem einzigen Spieler gespielt werden können.

      Xelorin entwarf ein Spiel, welches drei Spieler gleichzeitig spielen würden. Kennst du Halma?», unterbrach sich Grossvater. Ich nickte. «Nun, das Figurenspiel ist ein wenig wie Halma, aber auch ein wenig wie Schach, das dein Vater so gerne spielte. Gespielt wird es auf einem runden Brett mit 166 wabenförmigen Spielfeldern. Sandor, wenn du gut aufgepasst hast, wirst du dich erinnern, dass das Tischchen, an dem wir abends oft Karten spielen, ein solches Muster trägt.

      Zwölf Figuren stehen auf dem Brett. Drei Anführer, die Arkaden, und je drei dazugehörige Zeriden. Sie werden an drei unterschiedlichen Spielbrettseiten aufgestellt. Danach wird gewürfelt, Zug um Zug, solange bis eine Gruppe gewonnen hat und sie die vier Felder im Zentrum besetzen kann. Die Spielregeln sind schwer zu erlernen, jede Figur hat ihre eigenen Schrittfolgen, ihre eigenen Gesetze von Stärke und Verletzbarkeit.

      Immer raffiniertere Regeln tüftelte Xelorin aus. Zudem nahm er Mass von der geheimnisvollen Birlinde, fertigte Skizzen der Figuren an und schuf Tonmodelle. Er entwarf das Spielbrett und spielte im Geist bereits ein paar Partien durch. Darüber vergingen die Jahre. Xelorin wurde alt. Er bemerkte es vor allem daran, dass seine Augen immer schlechter wurden. Bald würde er nicht mehr in der Lage sein, seine Kunst auszuüben. Er fühlte, dass es an der Zeit war, sein Lebenswerk zu vollenden. Schon seit längerer Zeit hatte er keine neuen Aufträge mehr angenommen und sich ganz dem Figurenspiel gewidmet.

      Dann war es soweit. Im Tempel absolvierte Xelorin das grosse, heilige Ritual mit dem weissen Feuer, das ihn vor allen Fehlern bewahren sollte. Würdevoll schritt der Zauberer danach die Tempelstrasse hinab bis hin zu seiner Werkstatt. Er liess sich seine Birlinde bringen und auf den grossen Sägebock legen. Dann schickte er alle Gehilfen nach Hause. Er wartete, bis er alleine war, schloss sorgfältig Türe und Fensterläden. Im Dämmerlicht, nur wenige flackernde Öllampen spendeten schwaches Licht, stellte er sich neben den Baumstamm. Gleichzeitig mit dem Aussprechen der heiligen Worte setzte er behutsam die Säge an und zerschnitt den Stamm in zwölf gleiche Blöcke. Jedem gab er eine Bezeichnung. Sie trugen jetzt die Namen der zwölf geplanten Figuren. Das Abfallholz würde er für das Spielbrett und die Würfel verwenden. Die Säge, die ihm sonst immer schwer in der Hand lag, schien zu fliegen. Dann begann sein grosses Werk. Nächtelang schnitzte er rastlos an den Figuren. Kaum einmal hielt er inne, um ein paar Bissen zu essen von dem, was ihm von draussen durch einen Fensterspalt gereicht wurde. Kaum fand er ein paar wenige, von fiebrigen Träumen unterbrochene Stunden Schlaf.

      Weiter, immer weiter machen, nicht absetzen, nicht aus dem Takt kommen. Bei den drei Arkaden schien eine fremde Hand die Messer zu führen. Es entstanden drei Figuren, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Die eine blickte gleichgültig, die andere grimmig vor sich hin, die dritte aber wirkte heiter und gelassen. Auch die neun Zeriden nahmen derart Gestalt an, dass sie sich ihren Arkaden mühelos zuordnen liessen.

      Als das Werk vollbracht war, stellte Xelorin das Spiel zum ersten Mal auf. Er war sich bewusst, dass er nochmals den Tempel besuchen sollte. Die Regeln schrieben ein weiteres Feuerritual vor. Doch das dauerte Xelorin zu lange, er wollte keine mehr Zeit verlieren. Die Gier, sein Werk vollendet zu sehen, liess ihn seinen Pflichten gegenüber nachlässig werden. Er hoffte darauf, dass die Götter ihm immer noch wohlgesinnt seien, und warf den Würfel für die erste Spielfigur, einen Zeriden. Dann würfelte er um den Weg, den die Figur nehmen sollte.

      Als Xelorin die Figur antippte, erwachten ihr eigener Wille und ihre Kraft, sie setzte sich auf dem vorgeschriebenen Weg in Bewegung. Xelorin zuckte zurück. Er war zwar überrascht, aber auch erfreut und mit sich selbst zufrieden. Dann würfelte er für den nächsten Zeriden, und wieder entwickelte die Figur ein Eigenleben. Schon nach wenigen Würfen hatten sich die Zeriden auf strategisch wichtige Stellungen verteilt. Als Xelorin für den ersten Arkaden würfelte, schien dieser gar nicht erst warten zu wollen und zog gleich von selbst ein Feld weiter und schlug einen feindlichen Zeriden. Jetzt geschahen noch unheimlichere Dinge. In rasender Reihenfolge wechselten die Würfel ihre sichtbaren Zeichen, und wie von Fäden gezerrt kämpften sich die Figuren über das Spielbrett. Schon stand der grimmige Arkade im Zentrum, aber immer noch schlugen seine Zeriden auf ihre Feinde ein.

      «Meine Spielregeln! Die Spielregeln einhalten!», krächzte der überrumpelte Xelorin endlich verzweifelt. Doch die Figuren auf dem Spielfeld schlugen sich verbissen und immer schneller. Xelorin sprang auf und stiess zornig das Spielbrett um, die Figuren stürzten auf den Fussboden. Aber selbst hier konnten sie nicht aufhören. Einzeln musste Xelorin die Figuren voneinander trennen und sie gesondert in Kistchen aus dicker Blei Eiche verschliessen.

      Nie sollte Xelorin seine Figuren wieder aufstellen. Er war verzweifelt, dass sein letztes grosses Werk so ungeheuerlich geraten war. Monatelang quälte er sich mit Vorwürfen, träumte jede Nacht von der unerwarteten Wendung, die das Spiel genommen hatte. Er warf sich vor, die Regeln missachtet zu haben, zu hastig und verblendet gearbeitet zu haben.

      Das Einzige, was er noch tun konnte war die Spielregeln umzuschreiben. Sie sollten so kompliziert werden, dass keiner der drei Arkaden das Zentrum erreichen und über die anderen herrschen konnte. Zudem beschloss Xelorin, die Würfel, welche das Spiel getrieben hatten, zu verbrennen. Am Tag nach Vollmond wäre es günstig. Diesen magischen Tag verbrachte Xelorin im Tempel und wohnte den Zeremonien bei.

      Nachdem die letzten Besucher nach Hause gegangen waren, blieb Xelorin lange vor dem heiligen Feuer stehen. Er verbeugte sich tief vor der Flamme und warf die drei Würfel in die Feuerschale. Eine orangenfarbene Stichflamme knallte hoch, fiel wütend zischend in sich zusammen. Der Spuk war vorbei. Von Xelorin aber war nichts mehr zu sehen. Er war mit der Stichflamme im Feuer verschwunden, nicht einmal das kleinste Häufchen Asche war zurückgeblieben.»

      Grossvater goss uns in aller Gemütlichkeit Tee nach. Er lehnte sich zurück und versuchte, seine struppige, graue Mähne zu ordnen. Ich muss ihn mit grossen Augen angesehen haben.

      «Wie ging es weiter, Grossvater, erzähl weiter!», bettelte ich ungeduldig. «Was geschah mit den Figuren, wo sind sie hingekommen?»

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