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sie seit fast fünf Jahren nicht mehr gesehen habe, hoffe ich, dass wir uns während meines Aufenthaltes gut verstehen werden. Bis auf ein oder zwei Briefe von ihr, kann ich nicht wirklich beurteilen, wie sie wohl heute ist.

      Ich freue mich auf den Besuch, denn in Frankfurt habe ich kaum Freunde. Da ich jahrelang von einem Privatlehrer unterrichtet wurde und auch sonst keine Aktivitäten in der Stadt hatte, war es mir kaum möglich Kontakt zu Gleichaltrigen aufnehmen zu können. Doch diese Reise ermöglicht es mir, das alles nachzuholen und endlich, wie ein normales Mädchen in meinem Alter zu leben.

      Unser Haus ist das prächtigste in der Gegend. Es ist in diesem wunderbaren Jugendstil erbaut wurden, Anfang der zwanziger Jahre. In jedem Raum befinden sich bodenlange Bogenfenster und mahagonifarbenes Echtholzparkett. Durch den Salon im hinteren Teil des Hauses kann man über die Terrasse in den weitreichenden Garten treten. Jeder Raum wurde liebevoll von meiner Mutter eingerichtet. Überall hängen Bilder aus meiner Kindheit und von diversen Familienfesten. Sogar ein Portrait von mir, als ich zwölf Jahre alt war, hatten sie malen lassen und über den Kamin gehängt. Ich bin mir sicher, dass die Zeit ohne mich sehr schwer für sie werden wird, da wir noch nie so lange voneinander getrennt waren. Aber für mich ist es ganz einfach der richtige Zeitpunkt, um die Welt auf meine Weise zu erkunden und neue Eindrücke zu sammeln. Es gibt nichts, außer meinen Eltern, dass mich noch hier hält oder mir Anlass zum zweifeln an meiner Entscheidung bietet.

      Die Schule habe ich mit Erfolg abgeschlossen und mein Studium an der Frankfurter Universität beginnt erst im Oktober. Wenn nicht jetzt, wann also dann? Ich habe ein gutes Gefühl und weiß, dass ich als eine erwachsene und gereifte junge Frau zurückkehren werde.

      Als ich den Salon betrete, in dem in dieser Jahreszeit eine besonders schöne Atmosphäre vorherrscht, stehen meine Eltern vor einigen Bildern aus meiner Kindheit und amüsieren sich. Wahrscheinlich haben sie sich gerade an meinen fünften Geburtstag erinnert, als ich meine Geburtstagstorte, die extra von einem Konditor aus der Stadt angefertigt wurde, mit meinem Hund Oskar geteilt habe.

      Wir hatten ihn kurz zuvor auf dem Weg nach Hause am Straßenrand aufgelesen, wo er halb verhungert und zusammengekauert lag. In dem Moment, als ich ihn sah, dachte ich nicht daran weiterzufahren und ihn dort mutterseelenallein zurück zu lassen, sondern nur daran ihn mitzunehmen und zu pflegen. Ich hätte es mit meinem Gewissen nicht vereinbaren können, ihn einfach seinem Schicksal zu überlassen. Wir nahmen ihn also mit und bereits nach kurzer Zeit war er ein Teil unserer Familie geworden.

      Kurz nach Weihnachten 1931, ich war zehn Jahre alt, wurde er von einem Auto überfahren. Mein Vater hatte einen Moment die Haustür offen gelassen, so dass er einfach hinaus auf die Straße lief und von einem Auto erfasst wurde. Danach habe ich drei Wochen nicht mehr mit ihm gesprochen und mich jeden Abend in den Schlaf geweint. Aber für ihn waren diese drei Wochen eine viel größere Qual, als für mich, da er die Schuldgefühle für seinen Tod und meine Trauer verantwortlich zu sein nicht loswerden konnte. Heute, jedoch erinnern wir uns nur noch an die schönen Momente mit ihm, wie jetzt.

      »Ist das, dass Foto von meinem fünften Geburtstag?« Ich laufe zu ihnen herüber, um einen besseren Blick auf die Bilder zu bekommen. »Ja, mein Schatz. Wir schwelgen gerade in alten Erinnerungen.« Mein Vater blickt mich wehmütig und zugleich zufrieden an; so habe ich ihn zuvor noch nie gesehen.

      »Setz dich, Emilia. Wir wollen dir noch ein paar Worte mit auf den Weg geben.« Er lässt sich in seinen geliebten Polstersessel fallen und zieht Mutter seitlich auf seinen Schoß. Jetzt sehen sie mich beide mit diesem, mir unbekannten Gesichtsausdruck an und irgendwie sagt mir mein Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Mein Vater fängt an zu reden.

      »Du weißt, wenn ich könnte würde ich mit dir nach Paris fahren, aber deine Mutter und ich sind der Meinung, dass du bereit bist deine eigenen Erfahrungen zu machen. Wir vertrauen dir und ich weiß, dass du dich nie selber in Gefahr bringen würdest.« Seine Stimme zittert beinahe und er ringt um Fassung. »Ich weiß aber auch, dass du nie wirklich den Kontakt zu anderen Jugendlichen in deinem Alter hattest und deshalb möchte ich dich darauf vorbereiten, dass du auch mit Enttäuschungen zu rechnen hast. Ich hab immer versucht dich so gut wie es nur ging davor zu bewahren, aber jetzt kann ich das nicht mehr.« Er sieht nun zu meiner Mutter, die seine Blicke mit einem herzlichen Lächeln begrüßt. Wir beide wissen genau, wie er sich jetzt fühlt und welche Gedanken ihm durch den Kopf gehen. Aber er hat Recht, ich muss lernen mich der Welt zu stellen.

      »Papa, ich weiß genau, was du sagen willst und was du fühlst, aber dich darf diese Sache nicht zu sehr belasten. Ich werde euch jede Woche schreiben und erzählen was ich erlebt habe. Ich bin stark genug für diese Reise und für das, was mich erwarten wird. Ich liebe euch und daran wird sich auch nie etwas ändern. Es ist Zeit loszulassen.« In diesem Moment sehe ich eine winzige Träne über seine Wange kullern. Meine Mutter neigt sich zu ihm, um die Träne zärtlich weg zu küssen.

      »Wir lieben dich auch. Und bitte, fürchte dich nie davor uns etwas zu sagen, wovon du vielleicht denkst, dass wir es nicht verstehen könnten. Wir werden dich nicht verurteilen. Mach' deine Erfahrungen, aber überlege dir gut, wem du dich anvertraust.« Meine Mutter findet immer die richtigen Worte um mir ein gutes Gefühl zu geben. Jetzt kann ich ohne Furcht meine Reise antreten.

      »Der Fahrer wartet bereits draußen auf dich. Wir empfinden es als gut, nicht mit zum Bahnhof zu kommen. So kannst du ohne Wehmut in den Zug steigen.« Sie streicht mir liebevoll eine Strähne hinters Ohr.

      »Danke, Mama. Das ist wirklich eine gute Idee.«

      Mein Koffer steht bereits an der Tür. In diesem Moment fühle ich, wie mir ein riesiger Stein vom Herzen fällt und ich beflügelt und voller Energie meine Reise antreten kann. Ich merke zum allerersten Mal, wie sich ihre schützenden Arme um meinen Körper lösen. Ich muss mich nicht losreißen oder sie von mir stoßen. Sie lassen mich einfach gehen, um die Welt zu erleben und mit dem Gefühl, dass ich jederzeit zurück in ihrer schützenden Arme kommen kann. Das ist wohl das schönste Gefühl, das Eltern ihren Kindern, in einem solchen Moment geben können.

      Da es doch noch etwas kühl geworden ist, hole ich meine Jacke aus meinem Zimmer und blicke ein letztes Mal, in den mit weißen Stuck verzierten Spiegel. Wie werde ich wohl in vier Monaten bei meiner Rückkehr aussehen? Werde ich immer noch das schüchterne, distanzierte Mädchen sein, was ich doch eigentlich gar nicht mehr sein will. Oder bin ich dann die Frau, die mit beiden Beinen fest im Leben steht und sich nicht mehr vor der Welt versteckt?

      Mit meinen Haaren muss ich nie wirklich viel machen. Sie sind lang und goldblond. Von meiner Mutter habe ich wunderschöne Naturlocken geerbt und von meinem Vater seine haselnussbraunen Augen. Ich sehe mich noch kurz in meinem Zimmer um, bevor ich gehe. Es ist alles so geordnet und passt perfekt zueinander. Ich fühlte mich hier immer sehr wohl, aber jetzt denke ich, ist es an der Zeit ein bisschen Unordnung in mein Leben zu bringen. Ich meine, einfach auch mal Dinge tun, ohne viel darüber nachzudenken und ohne an die Konsequenzen zu denken. Einfach aus dem Bauch heraus zu entscheiden. Dieser Gedanke lässt mir Flügel wachsen und ohne einen Blick zurückzuwerfen, laufe ich voller Elan die Treppe hinunter, raus auf die Veranda. Meine Eltern haben meinen Koffer bereits von dem Fahrer zum Wagen bringen lassen und warten ungeduldig auf mich. Als ich aus der Tür trete fühle ich, wie mich eine herrliche Sommerbrise umgibt. Alles ist bunt und lebendig. Das liebe ich so am Sommer. Zum Abschied umarmen meine Eltern mich ganz fest. Ich spüre wie sehr sie mich vermissen werden, besonders mein Vater. Bevor ich ihn los lasse, flüstert er mir noch etwas ins Ohr: »Du wirst sie alle verzaubern!«

      Als der Fahrer los fährt, versuche ich mich nicht umzudrehen. Ich befürchte, dass wenn ich in letzter Sekunde in ihre traurigen Gesichter blicke, einen Rückzieher machen würde. Doch je mehr ich dagegen ankämpfe, desto größer wird mein Verlangen sie noch einmal zu sehen. Als ich mich jedoch umdrehe, sehe ich keine Tränen oder finstere Minen. Nein, sie lächeln und sehen vollends zufrieden aus.

      Kapitel 2

      Aufbruch ins Unbekannte

      Der Frankfurter Bahnhof ist zu der Zeit einer der größten Europas und jedes Mal, wenn man ihn betritt ist es ein überwältigendes Gefühl.

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