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abzuwarten?

      "Da drinnen gibt es keine Uhren, Leo – und keine Fenster. Nur Glaskuppeln auf dem Dach, damit man in den Büros natürliches Licht hat. Die Spieler dagegen sind von der Zeit und vom Tageslicht abgeschnitten, um sich ganz ihrer Leidenschaft widmen zu können."

      "Ich bin nicht sehr erfolgreich im Glücksspiel."

      "Das lässt sich leicht ändern. Was halten sie davon, wenn ich Sie unter meinen Fittiche nehme und Ihnen ein paar kleine Tricks beibringe?" Er war rechts an den Bordsteinrand herangefahren. Vor uns lag das Portal des Kasinos. Die steinernen Löwen zu beiden Seiten der Treppe musterten uns in der Dunkelheit wie eine leicht zu jagende Beute.

      "Vielen Dank für das Angebot, Ernie. Aber ich weiß nicht, ob ich zum Kasinolöwen tauge. Bei so vielen Menschen bekomme ich immer Platzangst."

      "Wir sollten Sie gründlich durchstylen, Leo. Innerlich und äußerlich. Sie müssen neues Selbstvertrauen gewinnen, jetzt, wo Sie überall in Europa so erbärmlich aufgelaufen sind mit Ihrer Dressurnummer. Ich bin gerade in der glücklichen Lage, etwas Zeit für Sie erübrigen zu können – bis zur Eröffnung des Kasinos. Deswegen bin ich nämlich hier."

      "Wenn Sie das für mich tun wollen ...?"

      "Hand drauf."

      Er stieg aus, und ich folgte ihm langsam um den Kasinobau. "Sehen Sie sich das an", sagte er, als wir an der Rückseite angelangt waren. "Glatte Wände, keine Fenster, keine Lieferanteneingänge. Nur ein paar Lichtkuppeln auf dem Dach. Die einzige Zufahrt außer dem Hauptportal ist über dem Häuschen des Wachpostens, wie bei einer mittelalterlichen Burgwache. Von dort aus wird das eiserne Schiebetor bedient. Ist man erst mal drin, dann sitzt man in der Mausefalle, weil die Betonwände der Einfahrt viel zu hoch sind, um wieder herauszukommen. Das Ganze ist besser gesichert als mancher sogenannte Hochsicherheitstrakt."

      "Aber von vorn spaziert man einfach ungehindert hinein, oder?"

      Er blieb stehen, musterte mich anerkennend und lächelte breit. Von einer der Dachlampen fiel etwas Licht auf sein Gesicht und seinen halbgeöffneten Mund und ließ den kleinen goldenen Adler mit ausgebreiteten Schwingen aufblitzen. "In die Kasinoräume, ja. Aber vor den Zugang zum Tresorraum haben die Götter die ausgefeilteste elektronische Sicherungsanlage des ganzen Kontinents gesetzt."

      "Sind Sie denn auf den Tresor scharf, Ernie?"

      "Na, sagen wir mal, es gehört zu meiner Lebensphilosophie, auf alles scharf zu sein, was mir einen sorgenfreien Lebensabend verschaffen könnte."

      "Sie haben nichts in die Rentenversicherung eingezahlt?"

      "Ich war zuviel unterwegs in der Welt. Außerdem widerspricht es meinem Grundsatz, dass jeder für sich selber sorgt. Sehen Sie mal, Ernie, ich habe lange darüber nachgedacht, warum das Nehmen zur vorherrschenden Haltung in unserer Zivilisation werden konnte. Es gibt nur drei Möglichkeiten: Geben, Nehmen und ein armer Schlucker sein. Der größte Teil der Menschheit gehört zur Kategorie drei, obwohl sie alle verständlicherweise wenig Wert darauf legen, dieser Klasse anzugehören. Geben kann man nur, wenn man hat. Also ist Nehmen Voraussetzung von Geben. Können Sie mir soweit folgen, Leo?"

      "Ja, natürlich ..."

      Wir umrundeten die Wasserspiele im Kasinopark. Er blieb zwischen den Heckenbögen stehen, zeigte über das blinkende Wasser der Teiche, in dem Seerosen schwammen, und fuhr fort: "All diese Reichtümer hätten niemals von einem allein angehäuft werden können. Aber sie gehören einem einzigen Menschen: Sheila Annaxos. Seit ihr Mann, der bekannte griechische Reeder, bei einem Sturm in der Karibik ertrunken ist, darf sie sich seines großen Vermögens erfreuen. Dieses Kasino ist nur ein neues Stück von vielen in ihrer Perlenkette. Und was schließen Sie daraus, Leo?"

      "Dass Sheila Annaxos eine gute Partie gemacht hat?"

      "Bleiben wir lieber bei meiner Definition. Sie muss es sich genommen haben. Genauer gesagt: sie hat es von ihrem Gatten bekommen, und der hat es sich genommen. Er hat genommen, was er kriegen konnte.

      Niemand zahlt für ein Schiff voller Container oder eine Ladung Öl so viel, dass man dadurch zum Tankermillionär werden könnte. Er hat es sich auf andere Weise genommen. Durch Spekulationen und weil er seine Konkurrenten in den Ruin trieb. Durch Druck, Nötigung, durch Verpflichtungen, die andere ihm gegenüber besaßen, durch Absprachen.

      Das Prinzip des Nehmens beherrscht die Welt, Ernie. Nicht der Wille zur Macht, wie mal jemand behauptet hat, der sich für klüger als alle anderen hielt. Das Nehmen ist die wahre metaphysische Struktur der Wirklichkeit.

      Und nun sind wir schon einen guten Schritt weiter in unseren Überlegungen!

      Etwas zu bekommen für etwas anderes wäre ein bloßes Tauschgeschäft. Arbeit für Ware, Geld für geleistete Arbeit, Äpfel für Birnen. Jemand benötigt ein Fahrrad und gibt dafür einen Anzug her.

      Resultat: Man bleibt immer auf dem gleichen Stand. Nur die Art der Besitztümer ändert sich. Erst wenn wir mehr nehmen als wir gegeben haben, gelangen wir zu Reichtum. Aber woher stammt dieses Mehr eigentlich, Leo? Der andere ist in Not, sein Verlangen ist größer als seine Sparsamkeit. Also gibt er, mit oder gegen seinen Willen, etwas von dem her, was er hat, und der andere profitiert davon. Hier haben wir die letzte, die eigentliche Struktur des menschlichen Zusammenlebens. Es wird gegeben und genommen."

      "Waren Sie mal Philosophieprofessor, Ernie?"

      "Nein, ich hatte einen Lehrstuhl für Theologie in Frankfurt. Man warf mich aus dem Dienst, weil ich im Bahnhofsviertel ein paar Pferdchen laufen ließ."

      "Kein Wunder, das verträgt sich nicht mit einem so gottesfürchtigen Beruf."

      "Meine damalige Geliebte entdeckte, dass sie unter meinem Schutz sicherer arbeitete als ohne mich. Ich meinerseits begriff endlich, womit sie ihren Lebensunterhalt verdiente. Aber da ich deswegen noch lange nicht bereit war, meiner Liebe abzuschwören, als wenn das vom Beruf eines Menschen abhinge, kamen bald noch ein paar ihrer Freundinnen hinzu, die dringend desselben Schutzes bedurften."

      "Getreu dem christlichen Motto, keine ausgestreckte Hand zu übersehen?"

      "Das Bahnhofsviertel ist wirklich der reinste Raubtierkäfig."

      "Sie waren ein waschechter Zuhälter, Ernie?"

      "Nur im platonischen Sinne. Ideell, nicht materiell. Als Lehrstuhlinhaber für katholische Theologie war ich nie auf ihre Einnahmen angewiesen."

      Wir stiegen in seinen Leichenwagen mit der kleinen Madonna aus Porzellan über dem Schaltknüppel, um rechtzeitig zu "Mamas Mitternachtspizza" im Salerno einzutreffen. Ein besonderer Service des Hauses, der die Traditionen der Armen im Lande weiterführt: Resteverwertung wie der Ursprung der ersten Pizza in Neapel. Ich wusste, dass Francesca – die göttliche, die unerreichbare Madonna – um diese Zeit das Essen servierte, während Mama sich mit dem Backkamin abplagte und Ströme von Schweiß über den gerollten Teig, die Salami und den geriebenen Käse vergoss. Ernie sagte, er wolle sich mal ansehen, wie ich mit Frauen umginge (warum ich so wenig Chancen bei Madonna hätte, um es genau zu sagen) und mir dann das Ergebnis seiner Analyse mitteilen. Ich dachte, es werde nicht viel zu analysieren geben dabei, außer dass ich mich in ihrer Gegenwart in ein stotterndes Wrack mit rotem Kopf und feuchten Händen verwandelte.

      Aber bevor wir anhielten, kam er auf sein altes Thema zurück: "Es wird gegeben und genommen", sagte er. Und nun fragen wir uns mal, welche Unterschiede in der Methode es dabei gibt. Na, Leo? Jetzt sind Sie am Zuge!"

      "Sie meinen, erlaubte und unerlaubte Methoden?"

      "Es gibt keinen Unterschied", erklärte er im Brustton der Überzeugung. "Das Prinzip ist immer illegal. Ob Sie Kaufmann sind oder ihre Arbeitskraft anbieten. Sie nehmen etwas mehr, als Sie bekommen dürften, oder man nimmt Ihnen etwas mehr, als Sie freiwillig hergeben wollten. Sonst bleiben wir alle auf dem alten Stand. Es gebe keine Anhäufung von Reichtümern, Leo. Sie werden immer ausgenommen, wenn Sie auf der Seite der Verlierer stehen. Nur die Gesetze machen da einen Unterschied. Das Gesetz hat aus einigen Arten des Nehmens Gewohnheiten gemacht. Wir haben uns daran gewöhnt, ausgenommen zu werden, wir sehen es als

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