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mild erscheinen. Aber nur

       die Tiger überleben.

      ERNI P. CORD

      Ich traf Ernie P. Cord Anfang April in einem verlassenen Badeort an der italienischen Riviera, irgendein verwinkeltes Dorf mit grauem Sandstrand und vielen Tordurchgängen.

      Die Tage waren bedrohlich düster, mit nervös schreienden Möwen auf den Schiffsmasten, und das Meer schlug so hart gegen die Kaimauern am kleinen Hafen, als lauere es darauf, in einem unbeobachteten Augenblick den ganzen Küstenstreifen zu verschlingen …

      Damals war ich ein hagerer Jüngling mit dunklen Ringen unter den Augen und wohl kein allzu erfreulicher Anblick für meine Umwelt.

      Ich schwitzte leicht, die Innenflächen meiner Hände waren immer feucht. Meine Brillengläser gaben hervorragende Lupen ab und ließen meine Pupillen so furchteinflößend dreinblicken wie die eines ausgewachsenen Ochsenfroschs. Aber was noch schwerer wog: Ich hatte Angst vor Frauen.

      Wenn ich so bereitwillig von meinen Schwächen rede, dann nicht, weil mir beim Essen die Gabel aus der Hand fiel. Ich denke dabei eher an die geschäftlichen Seiten des Lebens: an jene Zeitgenossen, die in meinem Alter längst zu ein paar griechischen Öltankern, zwei oder drei Hotelketten, Ruhm und schönen Frauen gelangt waren, während ich immer noch meinen bescheidenen Geschäften nachging.

      Das alles gehört jetzt der Vergangenheit an. Ernie P. Cord hat mich von all diesen Schwächen geheilt. Ja mehr noch, er hat mich in einen jungen Gott verwandelt, in das Ebenbild einer männlichen Aphrodite, ein Vorbild für die Modeschöpfer, das sie mit ihren neuesten Kreationen behängen, um damit anzugeben und einen guten Schnitt zu machen.

      P. stand für "Perl", ein merkwürdiger Vorname, zugegeben. Ich habe nie in Erfahrung bringen können, wie Ernie an diesen Namen gelangt war. Aber das schien nur eines der kleineren Rätsel zu sein, die sich um seine Person rankten – so mitteilsam er sich auch immer zeigte, zu allen Tages- und Nachtzeiten bereit, jeden, den es danach verlangte, an seinem unerschöpflichen Wissen teilhaben zu lassen.

      Es gab einige dunkle Stellen in seiner Biographie, und selbst der römische Generalstaatsanwalt hätte sich schon mächtig ins Zeug legen müssen, um Ernie darüber mehr als ein paar einsilbige Kommentare zu entlocken.

      Als ich ihn zum ersten Mal sah, saß er im Speisesaal des Salerno und löffelte Suppe "a la Chefkoch".

      Ich war lange genug im Hotel, um zu wissen, dass die Küche gar keinen Chefkoch besaß. Während dieser Jahreszeit kochte Mama höchstpersönlich. "Mama", dieses unnachahmlich lärmende Monstrum von einhundert Kilo Lebendgewicht mit den Oberarmen eines Ringkämpfers, deren hervorstechendste Charaktereigenschaft ihre übergroße Sparsamkeit war.

      Kein Tag verging, an dem nicht das Hauptgericht vom Vortag in verwandelter Form – überbacken, zum Auflauf oder zur Pastete verarbeitet, in Soße oder auf andere Weise eingefärbt – als neue Kreation ihrer mediterranen Kochkunst über die Teller wanderte.

      Aber im Großen und Ganzen machte sie es doch recht anständig. Die Italiener haben eine zu lange Esskultur, als dass sie es fertigbrächten, einen völlig vor den Kopf zu stoßen.

      Cord war ein hagerer Mann in den Fünfzigern mit kurz geschnittenem grauem Haar, das vorteilhaft seine markante Kopfform zur Geltung brachte. Wenn die Situation es nicht anders erforderte, trug er ausschließlich Anzüge, meist hellgraue Maßanzüge aus bestem Tuch.

      Er sagte mir später, er habe herausgefunden, das Äußere eines Menschen sei wichtiger als seine inneren Werte, allen gegenteiligen Bekundungen zum Trotz.

      Am besten kleide man sich so, als wenn man den höchsten Ansprüchen gerecht zu werden habe: der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes oder einer Audienz beim Papst.

      Die Signale, die von der Kleidung ausgingen, seien vielleicht unbewusst, aber genauso unentbehrlich und aufbauend für das eigene Selbstbewusstsein wie eine fachkundig verordnete Kur oder Medizin.

      "Der Mensch ist nun mal hauptsächlich schnöde Fassade, Leo", sagte er während eines Essens. "Ein Sack voller Abfälle. Denken Sie nur an seinen Darminhalt oder seine Verdauungssäfte.

      Aber wenn man ihn in die passenden Kleider steckt und ihm Rhetorik und Manieren beibringt, sieht er ganz passabel aus."

      Das Klatschen der kleinen Saugpfeile gegen die Scheiben des Oberlichts im Speisesaal, die Amarillo draußen vom Flachdach aus verschoss, schien ihn nicht im geringsten aus der Ruhe bringen, während mich jeder Schuss zu einer nervösen Kopfbewegung veranlasste.

      Amarillo (bis dahin dachte ich immer, so hießen nur italienische Liköre) war Mamas neunjähriger Sohn. In einem Alter, wo andere nicht einmal daran denken, Skinheads zu werden, hatte er sich die Haare bis auf einen hochstehenden Irokesenkamm abschneiden lassen und verkündet, er werde fortan auf den Flachdächern des Hotels als Indianer leben. Er weigerte sich strikt, seinen Hochsitz zu verlassen und in die Schule zu gehen.

      Seine Schwester Madonna brachte ihm heimlich das Essen hinauf: deftige kalifornische Prärie-McDonald's, jede andere Nahrung lehnte er als tapfere Rothaut ab.

      Nur einmal war es Ernie gelungen, ihn für zehn Minuten zu Friedensverhandlungen in den Innenhof zu locken. Das Treffen endete mit einer Art eingeschränktem Waffenstillstand: Amarillos Saugpfeile würden künftig nur noch Scheiben und Tauben, aber nicht mehr Hotelgäste treffen – ein Kompromiss, den bis dahin nicht einmal seine beiden senilen alten Lehrer für möglich gehalten hatten.

      Ich war mehr als fasziniert von Ernie! Und versuchte herauszufinden, ob er mir gefährlich werden konnte …

      Er schien mich während des Essens – einer wahren Orgie aus kleinen Gängen und Zwischeneinlagen mit Espressos, Obststücken und hausgemachten Pralinen, die er Mama gegen großzügige Extrabezahlung abgerungen hatte – kein einziges Mal anzublicken. Trotzdem wurde ich das Gefühl nicht los, dass er mich beobachtete.

      Der dritte Mann war erst am späten Nachmittag eingetroffen.

      Er saß im äußersten Winkel der Hotelhalle, mir und Cord genau gegenüber. Hätte jemand zwischen unseren Stühlen Linien gezogen, würden sie ein gleichschenkliges Dreieck gebildet haben – und tatsächlich war es, als gäbe es zwischen uns geheime Bande. Ich hatte in den vergangenen Monaten sechsmal das Hotel gewechselt.

      Mag sein, dass ich etwas überreizt war, was die Kulisse von Hotelhallen und Speisesälen anbelangte.

      Seine Haltung ähnelte der eines überall verhassten Steuerbeamten oder Gerichtsvollziehers. Seinem ständig bewegten Blick entging nichts. Weder der abbröckelnde Lack der Stühle noch das zusammengewürfelte Geschirr und Porzellan.

      Jemand, der eine große leere Reisetasche besaß, musste es aus den verschiedensten Etablissements an der italienischen Mittelmeerküste zusammengetragen haben.

      Er sah die dünnen, rosafarbenen Vorhänge, durch die das Licht der untergehenden Sonne fiel, und bedachte sie (die Schäbigkeit der Vorhänge) mit höhnischem Lächeln. Er registrierte das Klingeln der alten Ladenkasse in der Vorhalle bei jeder Bestellung, die nicht im Menüpreis enthalten war – und seiner Miene nach zu urteilen war es ein weiteres schlagendes Indiz für die Perversionen des menschlichen Geschäftssinns.

      Nur mich schien er – anders als Cord – für Luft zu halten. Cord nahm mich auf eine schon geradezu aufdringliche Weise nicht wahr, indem sein Blick gegen jede Wahrscheinlichkeit immer genau im entgegengesetzten Winkel des Speisesaals weilte. Er dagegen blickte auf seltsam abwesende Weise durch mich hindurch.

      Als wir uns irgendwann zwischen Mamas Gängen am Pinkelbecken begegneten, sagte Ernie:

      "Sie sind doch Kakerlaken-Leo, hab ich recht? Der mit der Dressurnummer?" Dabei warf er einen vorsichtigen Blick nach hinten und flüsterte mir zu: "Das da draußen ist ein Detektiv der Agentur Pro-Pro. Doppelt Pro, Sie wissen schon. Nehmen Sie sich in acht vor ihm."

      "Kakerlaken-Leo ... was für ein Name! Ich weiß gar nicht, wovon Sie reden."

      "Der

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