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Der Weg nach Afrika. Helmut Lauschke
Читать онлайн.Название Der Weg nach Afrika
Год выпуска 0
isbn 9783753185613
Автор произведения Helmut Lauschke
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Das machte ihn als guten Menschen ebenso unsterblich wie als Musiker, dem er als grosser Interpret Beethoven'scher Symphonien vorausgegangen war. Auch waren es die Berliner Arbeiterfamilien, die etwa dreitausend Juden in ihren Wohnungen hinter verstellten Schränken, auf Speichern und in Kellern versteckt hielten, als der Hinkefuss mit dem Propagandamaul hinausposaunte, dass Berlin "judenfrei" sei. Dass Berliner Philharmoniker schliesslich in Ausschwitz Brahms und Beethoven spielten, wo die SS- und Nazibonzen in ihren Uniformen blinkender Mörderoffiziere in den ersten Reihen sassen, die diese Musiker danach, wie vorgesehen, routinemässig und nackt in die Gaskammern schickten, diese unbegreifliche Schizophrenie, das erwähnte Dr. Ferdinand nicht, weil er das nicht über seine Lippen bringen konnte. Zur Geschichte des Holocaust fügte er hinzu, dass es Isabella, die Katholische, die Tochter Philipps des Zweiten von Spanien war, die das erste Holocaust veranstaltete, indem sie den Juden ihr Hab und Gut abnahm und sie danach massakrieren liess.
Sie kehrten noch einmal zu Buber und seiner Verdeutschung der Psalme zurück, von der Hermann Hesse sagt, dass sie den Rang einer Nachschöpfung habe. Dr. Ferdinand las Herrn C. den fünften, sechsten und letzten Psalm aus dem Buch der Preisungen vor, die er am Morgen Kristofina in ganzer Länge vorgelesen, den letzten schliesslich hinterhergelesen hatte, weil beim letzten Psalm das Mädchen bereits verstorben war. Er erzählte die Geschichte des Mädchens, das in der vergangenen Nacht der Blitz geschlagen hatte, den Schlag zunächst überlebte, dessen rechter Unterschenkel verschmort und das Schienbein angekohlt war, und wenige Stunden später verstorben sei. Er beschrieb ihr Gesicht beim ersten Anblick, auf dem der Tod schon lag, auch wenn das Mädchen noch nicht vom Tod sprach, weil das Gesicht ausdrückte, was ihre Worte noch nicht sagen konnten.
Kristofina ging ihm zu Herzen. Deshalb las er ihr aus dem Buch der Preisungen vor, um ihr Mut beim letzten Gang zuzusprechen, denn sie war noch jung, und ihre Hand konnte keine menschliche Hand halten. Sie musste in ihrer Jugend den Weg ohne ihre Mutter, also alleine gehen. Beide waren von ihrer Geschichte ergriffen, und Dr. Ferdinand kämpfte erneut mit den Tränen und hoffte, dass Herr C. diesen Kampf nicht bemerkte. "Die Guten sterben früh", merkte er an und erinnerte sich an gute Freunde, denen durch Krankheit und seelische Qual nur ein kurzes Leben beschieden war. Der Körper ist die Leihgabe, um das Leben mit der Seele auf dem Planeten zu gehen und am Dasein zu arbeiten, dass es der andere versteht. Dazu ist der Dialog erforderlich, der den Menschen verstehen lässt, wer der andere ist, mit dem er hier auf dem Planeten zusammenlebt.
Herr C. stand auf und bedankte sich für das Gespräch, als er die Tür zu seinem Toyota-Kombi öffnete und beim Einsteigen meinte, dass das Gespräch über den Nutzen des Miteinander-sprechens fortgesetzt werden sollte und schlug den späten Nachmittag vor, wenn seine sonntägliche Mittagsruhe beendet sei. Dr. Ferdinand stimmte zu, dass das Gespräch auch für ihn einen hohen Stellenwert habe, konnte jedoch eine Zusage, das Gespräch in der philosophischen Betrachtungsweise am Nachmittag fortzusetzen, nicht geben, da er Wochenenddienst hatte und andere Dinge noch erledigen musste. Er liess die Tür offen, machte sich eine Tasse Kaffee, setzte sich in einen der drei vergilbten Polstersessel, zündete sich eine Zigarette an und lehnte sich nachdenklich zurück. Dann legte er sich "Die grossen Philosophen" aufs Knie und las auf Seite 226 weiter, wenn Karl Jaspers sagt: "Der Gehalt dieser Wirklichkeit der vier massgebenden Menschen (Sokrates, Jesus, Buddha, Konfuzius) ist die Erfahrung der menschlichen Grundsituation und die Vergewisserung der menschlichen Aufgabe. Sie sprechen sie aus. Sie gelangen damit zu den Grenzfragen, auf die sie die Antworten geben. Jeder dieser Menschen ist wie eine keine Ruhe gebende Frage an uns." (Seite 227).
Dr. Ferdinand liess das Leben Revue passieren und ging gedanklich den möglichen Bedeutungen hinterher, wobei er Kristofina in seine Betrachtung einschloss. Wie jedesmal, wenn er die Lebensbetrachtung anstellte, kamen neue Fragen hinzu. Auf viele Fragen fand er keine Antwort. Dabei fragte er sich selbst, ob er denn in den Jahren etwas dazu gelernt hätte, um die wesentlichen Dinge des Lebens besser zu verstehen. Auch diese Frage konnte er sich nicht beantworten. Er hatte festgestellt, dass die Fragen immer mehr und die Antworten immer ‘wackeliger’ wurden, je älter er wurde. Gewiss griffen die Fragen von Mal zu Mal tiefer in das Geschehen des Lebens ein, und neue Aspekte kamen hinzu. Aber warum dann die Antworten immer wackeliger und weniger wurden, das wollte ihm nicht einleuchten. Das Fehlen der Antwort nach dem Warum war mit dem Leben so recht nicht vereinbar. Er klappte "Die grossen Philosophen" zusammen und legte sie auf den Tisch zurück. Er war besorgt, weil er glaubte, nichts verstanden zu haben. Er holte sich noch eine Tasse Kaffee und zündete sich die Zigarette an. Es fiel ihm ein, als er sich wieder zurücklehnte, dass er vor vielen Jahren schon von Menschen, die es wissen mussten, weil sie alt genug fürs Leben waren, davor gewarnt wurde, auf alles eine Antwort zu finden, was im Leben ablaufe, und was das Leben sei.
Wo wird Kristofina jetzt sein, die ihr verschmortes Bein am Körper hängenliess, als sie ihn ganz weggab, um die Schmerzen für immer loszuwerden und den letzten Weg zu gehn?, fragte sich Dr. Ferdinand in einer Himmelskunde, wo er sich überhaupt nicht auskannte. Er erwartete von sich keine Antwort. Dennoch schickte er ihr die besten Wünsche hinterher, wobei sein Blick das Buch der Preisungen streifte, ohne es in die Hand zu nehmen. Draussen fuhren Autos durch den Matsch. Ein 'Casspir' schleuderte den Matsch mit dem Grobprofil der dicken Reifen hoch in die Bäume hinein, als er auf das 'International Guesthouse' zufuhr, das seiner Einzimmerwohnung gegenüberlag, und sich neben den Eingang stellte. Dunkle Wolken zogen auf, und Dr. Ferdinand wollte den Freund Leon Witthuhn besuchen.
Er tat es jetzt, bevor der nächste Regenguss einsetzt. Er schloss die Tür, nahm die Sandalen in die Hand und ging barfuss auf der zermatschten Strasse, umging die Schlaglöcher mit den tiefen Pfützen und kam weniger bematscht dort an. Dr. Witthuhn trug eine Zwölferlage Dumpies durch das stehende Wasser des Vorgartens ins Haus, ohne sich die Hosenbeine hochgekrempelt zu haben. Das Einfahrtstor stand offen, und der Kofferraumdeckel stand hochgeklappt. "Das war ja ein Mitternachtsspektakel. Es hatte nicht viel gefehlt, dann wäre das Wasser in den Wohnraum gelaufen", begrüsste ihn Dr. Witthuhn. Dr. Ferdinand stakste mit hochgezogenen Hosenbeinen durchs Wasser im Vorgarten, wusch sich den Sand von den Füssen und stellte die Sandalen hinter die Tür. Er betrat den Wohnraum und begrüsste Dr. Bernstein, der jetzt das Schlafkabinett benutzte, das mit Kartons an der rechten Wand bis zur Decke gestapelt war.
"Setz Dich, ich bring Dir ein Bier", sagte Dr. Witthuhn. Dr. Ferdinand setzte sich auf einen der Stühle vor dem niedrigen Tisch. Dr. Bernstein hatte die zweisitzige Couch in Beschlag genommen und blätterte in einer Illustrierten herum. Dr. Witthuhn kam mit drei geöffneten Dumpies aus der Küche und stellte sie auf den Tisch, ging nochmal in die Küche und kam mit drei Gläsern zurück. Er setzte die Gläser neben den Bierflaschen ab, goss sich sein Glas voll und sagte beim Hinsetzen "Prost!". Er führte das Glas an den Mund, leerte es über die Hälfte, stellte das Glas zurück und wischte den Schaum von den Lippen. "Wie war Dein Dienst?", fragte er Dr. Ferdinand mit einem zuversichtlichem Lächeln. Er erzählte die Geschichte von Kristofina, vom angekohlten Schienbein, vom Ekg mit dem Herzrasen und den Extrasystolen und von ihrem Tod am Morgen. Dr. Witthuhn war gerührt und meinte, dass er noch keinen Patienten gesehen hätte, der einen Blitzschlag mit so schweren Verletzungen überlebt habe. Dr. Bernstein las in der Illustrierten und blätterte in ihr vor- und rückwärts, als würde ihn das Schicksal eines jungen Menschen nicht berühren, dem der Blitz das Leben erschlägt. Er schien mit sich selbst beschäftigt zu sein. Dr. Ferdinand nahm persönliche Gründe für das sonderbare Verhalten eines Kollegen an, der fachlich talentiert war, der seine Ausbildung in der Schweiz erhielt, seine Erfahrungen mit Verletzten auf dem Hospitalschiff 'Vietnam' erweitert und weder Frau noch Familie hatte, obwohl er im Alter vor den fünfzig Jahren stand. Er war vom Charakter her verschlossen, wenn Dinge des Privaten zur Sprache kamen.
Dagegen war es für Dr. Witthuhn und ihn selbst Ehrensache, über die persönlichen Dinge des andern zu schweigen, wenn sie sich aus dem Leben erzählten, in dem es ja nicht immer gut abgeht. Es entging den beiden nicht, dass Dr. Bernstein, wenn er sich mal etwas öffnete, nur von seiner Mutter sprach, niemals aber von seinem Vater. Dieser Kollege hatte Einzelgängerisches an sich, obwohl