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Machen Sie sich doch selbst ein Bild: Es gibt mehr Armutsviertel als Villengegenden. Selbst die Zone um den Bahnhof herum gleicht eher einem großen Asylantenlager als einem Hauptbahnhof im Zentrum einer Stadt. Einzelne Häuser und ganze Wohnschluchten in der Hafengegend stehen leer. In den Gassen tummeln sich Junkies, zwielichtige Gestalten und Prostituierte. Selbst in den Hauptstraßen, die noch einen Hauch von Grandezza besitzen, sind die Portale der Geschäfte mit schweren Eisenketten gesichert. Einzig florierende Unternehmen sind die Galleria Umberto und einige Supergeschäfte der Markenindustrie, deren Besitzer sich entsprechende Schutzgelder leisten können. Natürlich gibt es auch noch die vornehmeren Wohngegenden. Doch dort werden Sie erst recht keine Freunde für Ihre Pläne finden.«

      Betretenes Schweigen breitete sich aus.

      Schließlich ergriff wiederum der Lord das Wort. »Und mein Haus soll nun als prunkvolles Heim des Padrone dienen, wenn ich Sie recht verstanden habe? Wie stellen Sie sich das vor? Sie werden ja nicht erwarten, dass ich während dieser Zeit ausziehe?« Lindsays Gesicht schien ernst, doch im Grunde genommen war er amüsiert über diese Vorstellung.

      »Nein, Sir«, beeilte sich Graham zu versichern. »Wie gesagt: Die Szenen, in denen der Padrone eine Rolle spielen wird, sind sehr kurz. Es kommt uns eher auf die Außenansicht an, die wir öfter integrieren möchten, ebenso auf die Gartenanlagen.«

      Erneut entstand eine Pause, in der Sir Edward scheinbar gedankenvoll die Tischplatte fixierte. »Und kommen in Ihrem Film auch Frauen vor?«, fragte er unvermittelt.

      Die Antwort folgte rasch, so als habe Graham sie erwartet: »Kaum. Zumindest ist keine tragende Rolle vorgesehen«, gab Graham zu. »Es sind eher kleine Auftritte, die jede ihrer Angestellten übernehmen könnte.«

      Die Gedanken des Regisseurs kreisten unversehens um jene Frau, die er eben zu Gesicht bekommen hatte … wie war doch der Name … richtig, um Marie.

      Sir Edward hatte wohl ebenfalls in Windeseile die Frauen des Hauses Revue passieren lassen und war zum gleichen Ergebnis gekommen, denn er sagte: »Ich weiß nicht, Mister Graham, ob Sie Marie zum Mittun überreden könnten.« Er schmunzelte, als er die Verlegenheit des Regisseurs bemerkte. »Und eines noch«, fügte er, in schrofferem Ton als zuvor, hinzu. »Von Samstagabend bis Montagmorgen erlaube ich keinerlei Filmaufnahmen auf meinem Gelände. Das ist eine Bedingung, von der ich nicht abgehen werde.«

      Graham überlegte fieberhaft, wie sich das auf die Drehzeiten auswirkte, willigte aber ein: »Das lässt sich einrichten.« Er musste mit den Verhandlungen schnellstens zum Ende kommen, ehe dem Lord neue Bedingungen einfielen. Deshalb erklärte er: »Wir wollen Ihre kostbare Zeit nun nicht weiter in Anspruch nehmen. Wann dürfen wir mit Ihrer Antwort rechnen?« Bewusst vermied er das Wort Zusage, um den Lord nicht unter Druck zu setzen.

      »Welche Entscheidung ich auch treffen werde, ich erwarte Sie alle am Mittwoch um neunzehn Uhr zum Supper«, erklärte der Lord und fragte dann ziemlich übergangslos: »Wo sind Sie eigentlich untergebracht?«

      Graham reagierte nicht sofort. Er war eher ein Mann des bedachtsamen Wortes.

      Karl Landmann übernahm die Beantwortung der Frage. »Im Hotel Rex, Sir«, informierte er kurz und bündig.

      Er war den Ausführungen des Lords mit Interesse gefolgt. Der alte Mann schien viel über Neapel und seine Bewohner zu wissen. Es klang einleuchtend, was er über die Furcht der Leute in Bezug auf die Mafia berichtete. Und das machte den Neuseeländer nachdenklich.

      Graham hatte bei seinen Ausführungen verschwiegen, dass dieser Film ein Tatsachenbericht über die jüngsten Morde der Camorra in Neapel werden sollte. Recherchiert waren die Hintergründe dieser Verbrechen aus den Berichten der polizia civile und der Staatsanwaltschaft. Wer auch immer dem Regisseur dieses Wissen hatte zukommen lassen, kannte sich im einschlägigen Milieu aus, war vielleicht selbst Teil dessen.

      Landmann selbst war relativ rasch damit einverstanden gewesen, die Rolle des Angelo Cortesa zu übernehmen, des Sekretärs des Padrone. Es reizte ihn, einmal in diese Welt des Verbrechens einzutauchen, in einem Film mitzuwirken, der so nah an der Realität war, dass er schon wieder fantastisch wirkte.

      Die Stimme des Lords riss Landmann aus seinen Gedanken. »Ah, das Rex! Das ist ein gutes Hotel in der Nähe von Santa Lucia. Haben Sie einen Mietwagen?«

      Landmann zog eine verlegene Grimasse. »Nein, Sir. Wir sind mit dem Taxi hergekommen. Um ehrlich zu sein, wir hätten uns wohl in diesem Chaos auf den Straßen Neapels nicht zurechtgefunden.«

      Vor sich sah Landmann im Geist die hupenden und ständig die Vorfahrt missachtenden Italiener in ihren kleinen, meist ziemlich verbeulten Autos. Zeitweilig hatte er sogar die Augen geschlossen, wenn der Taxifahrer sich ein Rennen mit Kollegen lieferte, in dem es darum ging, wer zuerst in den Kreisverkehr einbiegen durfte.

      Sir Edward sah dem Neuseeländer die Gedanken am Gesicht an. Den neapolitanischen Verkehr kannte auch er zur Genüge. Nur zweimal, seit er hier wohnte, hatte er selbst seine Limousine nach Neapel gesteuert, um bei der Eröffnung des Museo Archeologico Nazionale nach dessen Restaurierung und bei der Schiffstaufe der Regina del mare, seiner Motorjacht, dabei zu sein. Jedes Mal war sein Anzug danach schweißnass gewesen und er einem Herzinfarkt nahe. Auch sein Chauffeur scheute Fahrten in die Innenstadt. Nur Francine und Marie fanden nichts dabei, sich in die hupenden Kolonnen einzureihen. Nun, das war wohl ein Vorrecht der jüngeren Generation.

      »Haben Sie auch die Rückfahrt gleich organisiert?« Als Sir Edward in die Gesichter seiner Gäste blickte, wusste er, dass dies nicht geschehen war. Oh, diese naiven Ausländer!

      »Mein Chauffeur wird Sie ins Hotel bringen, denn Sie werden kein Taxi mehr bekommen. Heute findet das Nachtragsspiel des AS Roma gegen Napoli statt«, erklärte er. Als er Verständnislosigkeit bei seinen Gästen bemerkte, ergänzte der Lord: »Fußball, das ist hier wie ein Feiertag. Selbst wenn Sie einen Taxifahrer fänden, müssten Sie damit rechnen, dass er während der Fahrt über Radio das Spiel verfolgt, das Lenkrad loslässt und sich die Haare rauft, wenn seiner favorisierten Mannschaft ein Tor entgangen ist oder weil er meint, er sei der Verteidiger und müsse mit den Füßen wild um sich treten.«

      An solche Dinge hatte Graham überhaupt nicht gedacht. Italien war ihm so fremd wie der Nordpol. »Es ist sehr freundlich von Ihnen, Sir, dass Sie uns einen Wagen zur Verfügung stellen«, bedankte er sich erleichtert und fügte hinzu: »Könnten Sie uns vielleicht auch einen Sprachmittler empfehlen? Es geht um Verhandlungen und … ja, einfach um alles für den täglichen Sprachgebrauch bei den Dreharbeiten.«

      Lindsay nickte nachdenklich. »Wenn es soweit ist, werde ich Ihnen bei der Suche behilflich sein. Doch es wäre unnütz, bereits jetzt jemanden zu bemühen, ehe meine Entscheidung gefallen ist.«

      Diese Antwort kam einer deutlichen Bremsung voreiliger Aktivitäten gleich.

      Sir Edward erhob sich. »Meine Herren, ich erwarte Sie übermorgen um neunzehn Uhr.«

      Die Unterredung war beendet.

      Der Lord würde, sobald die Besucher das Anwesen verlassen hatten, seinen Avvocato anrufen und ihn bitten, sich die Unterlagen, die Graham mitgebracht hatte, genau anzusehen. Er selbst beschäftige sich selten mit solchen Dingen.

      Auch die Männer hatten sich erhoben. Sir Edward bemerkte Karl Landmanns begehrlichen Blick, der dem letzten petit four auf dem Silbertablett galt. »Nehmen Sie nur. Marie macht sie einzigartig, man kann kaum widerstehen«, forderte Lindsay den Neuseeländer freundlich auf, zuzugreifen.

      Karl zierte sich nicht und verspeiste mit Appetit die mit Schokolade überzogene Mandelcremeköstlichkeit.

      Als der Lord Landmann zum Abschied die Hand reichte, äußerte er noch ein paar freundliche Worte über Neuseeland. Dieser Karl Landmann gefiel ihm – ein angenehmer Zeitgenosse. Außerdem war Lindsay davon angetan, dass der Neuseeländer Marie nicht mit jenem taxierenden Männerblick verfolgt hatte wie Mortimer, sondern er ganz offensichtlich vom Auftreten der Frau beeindruckt gewesen war. Die Blicke des Regisseurs freilich entsprachen eher einer Materialmusterung: Es schien, als wolle er ermessen, ob Marie in eine bestimmte Schublade seiner Drehpläne passte.

      Wie von Geisterhand

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