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Geschichten des Windes. Claudia Mathis
Читать онлайн.Название Geschichten des Windes
Год выпуска 0
isbn 9783753197715
Автор произведения Claudia Mathis
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Die letzten fünf Jahre hatten Sean erwachsen gemacht. Als Seemann verfügte er nun über einen großen Erfahrungsschatz, er war reifer und unerschrockener geworden. Der treue Arthur, der sich doch noch an den Seegang gewöhnt hatte, wich ihm die ganze Zeit nicht von der Seite. Selten verspürte Sean noch so etwas wie Angst.
Doch dieses Abenteuer jetzt verlangte seinen ganzen Respekt. Sean hatte Arthur überreden können, seinen lang gehegten Traum in Erfüllung gehen zu lassen: sie segelten wie Drake und der geheimnisvolle Autor über den Atlantischen Ozean! Dazu hatten sie sich in Amsterdam bei der Niederländischen Westindien-Kompanie eingeschifft. Diese entsendete vorwiegend Schiffe nach Westafrika, seltener auch nach Amerika. Ihr älteres Pendant, die Niederländische Ostindien-Kompanie, hingegen schickte ihre Schiffe weiterhin nach Ostasien und Indien. Doch dorthin zog es Sean im Moment nicht.
Das dünne Buch begleitete ihn überall hin und Sean hatte auch Gefallen am zweiten Teil gefunden. R.B.B. entpuppte sich für ihn als ein weiser Mann und Sean las sich häufig dessen Gedanken durch.
Nun befand sich Sean mitten auf dem Atlantik. Dieser war der König der Ozeane und am schwersten zu befahren, weil er so wenige Inseln aufzuweisen hatte. Und somit gab es wenige Möglichkeiten, sich unterwegs mit Lebensmitteln und dem so lebenswichtigen Trinkwasser zu versorgen. Die Inseln des Atlantiks befanden sich eher am Rand. Der viel größere Pazifik hingegen verfügte über eine ganze Menge verteilter Inseln.
Sean liebte die Herausforderung. Und er hatte einen abenteuerlustigen Kapitän gefunden, der diese Liebe mit ihm teilte. Wilhelm lebte seine Rolle als Kapitän und konnte sich nichts anderes vorstellen, als auf dem Meer zu segeln und seine Mannschaft zu befehligen. Die jahrzehntelange Ausübung dieser Tätigkeit hatte ihn wortwörtlich mit allen Wassern gewaschen, ihm konnte niemand mehr etwas vormachen. Sein Markenzeichen war sein langer weißer Schnurrbart, den er penibel pflegte und rechts und links nach oben zwirbelte. Der Rest seiner Erscheinung war jedoch weniger gepflegt. Auf die Sauberkeit und Unversehrtheit seiner Kleidung legte Kapitän Wilhelm keinen Wert. Und auch seine grauen Haare standen wirr in alle Himmelsrichtungen ab. Doch das war den meisten Seeleuten egal, solange er sein Amt gut ausführte. Und das tat er wirklich.
Sean vertraute Wilhelm, und er freute sich auf dieses Abenteuer mit ihm. Wilhelm war schon einige Male über den Atlantik gesegelt und kannte sich in diesen Gewässern gut aus. Sein Ziel stellte bis jetzt immer die ehemalige niederländische Kolonie New York im Nordosten von Nordamerika dar.
Wilhelm war stolze 71 Jahre alt und kannte die Kolonie noch unter ihrem früheren Namen Nieuw Nederland mit seiner Hauptstadt Nieuw Amsterdam, bevor die Engländer sie vor 33 Jahren einnahmen. Im Jahr 1626, kurz nach seiner Geburt, waren seine Eltern mit den ersten niederländischen Siedlern nach Amerika gesegelt und haben diese Kolonie mitgegründet. Wilhelm musste bei seiner Großmutter bleiben, da seine Eltern die Reise für ihn als zu gefährlich einschätzten.
Der Junge wuchs mit der Gewissheit auf, dass seine Eltern in der Neuen Welt lebten und ihn sehr leibten. Er schwor sich, einmal ein Kapitän zu werden und seine Eltern eines Tages zu besuchen. Als er sein Vorhaben im Alter von 31 Jahren tatsächlich in die Tat umsetzen konnte, fand er anstatt seiner Eltern nur noch Geschichten über sie. Sie waren leider kurz vorher gestorben. Doch sie hatten eine Tochter hinterlassen. Wilhelm handelte mit der Niederländischen Westindien-Kompanie einen Vertrag aus, in dem festgelegt war, dass er mit der Zeeland zwischen den Niederländern in der Kolonie und ihrem Mutterland pendeln durfte, um Informationen und Waren auszutauschen. So konnte er mit seiner neun Jahre jüngeren Schwester und seinen dort gewonnenen Freunden Kontakt halten. Als die Niederländische Westindien-Kompanie im Jahr 1674 stark umstrukturiert wurde, segelte Wilhelm fortan unter englischer Flagge.
Wilhelm hatte Sean und Arthur gewarnt, wie gefährlich und strapaziös eine solche Atlantiküberquerung sei, freute sich dennoch insgeheim, dass die beiden mitfuhren. Er empfand für diesen jungen, klugen, ehrgeizigen Mann und seinen treuen Begleiter auf Anhieb Sympathie.
Dreizehn
An den Stallmeister Tevin Burton Amsterdam, 15. März 1697
und seine Familie Republik der Sieben Vereinigten Provinzen
zu Händen
Laird A.A. McCunham
Dunnottar Castle
Schottland
Liebe Eltern.
Ich hoffe inbrünstig, dass Euch dieser Brief erreicht und dass der Laird so großherzig ist, ihn Euch vorzulesen.
Ich lebe.
Die letzten fünf Jahre quälte ich mich damit, ob ich Euch eine Nachricht von mir schicken soll oder nicht. Es hat mir keine Ruhe gelassen.
Mir geht es gut.
Wenn dieser Brief unterwegs sein wird, befinde ich mich doch tatsächlich auf einem Schiff! Und wir segeln in die Neue Welt!
Die letzten fünf Jahre war ich mit Sean - ihm geht es gut - auf Schiffen in ganz Europa unterwegs gewesen. Wir haben viel über das Segeln gelernt, und Sean brachte mir auch das Schreiben bei.
Anfangs hat mir das Segeln gar nicht gefallen, meinem Magen noch viel weniger. Doch ich habe mich daran gewöhnt und nun mag ich es sogar. Nicht so sehr wie Sean, er geht völlig in seiner Tätigkeit als Seemann auf. Ihm habe ich es auch zu verdanken, dass ich jetzt nach Amerika unterwegs bin. Es war sein Traum.
Ich vermisse Euch schrecklich.
Ich hoffe, dass mich mein Weg eines Tages wieder nach Dunnottar Castle führt.
Viele Grüße an meine Geschwister.
Euer Euch liebender Sohn Arthur
Vierzehn
- 1697 -
Keuchend lag Sean am Boden des klitschnassen Decks. Verzweifelt versuchte er, sich an irgendetwas festzuhalten, was nicht lose war. Doch der Boden schaukelte dermaßen, dass es ihm nicht gelang. Er rutschte über die Planken und knallte hart an die Reling. Schmerzen durchzuckten ihn wie Blitze. Automatisch ging seine Hand zur Region unterhalb seiner Brust. Unter größter Anstrengung gelang es ihm, sich aufzurichten, er konnte doch ein Tau fassen und zog sich daran hoch. Seine Rippen brannten.
Da kam eine riesige Welle und überspülte das Deck mit eiskaltem Wasser. Sean flog einen hohen Bogen Richtung Meer und dachte schon, alles wäre zu Ende und er würde über Bord gehen. Doch sein Griff hatte sich nicht gelockert und er fiel wieder auf das Deck. Schmerzen! Er musste irgendwie hochkommen, bevor der nächste Brecher kam. Sean biss die Zähne zusammen. Halb kroch er, halb schlitterte er, bis er aufatmend einen Mast erreichte. Geschafft! Sean umklammerte den Großmast. Und wurde wieder überspült.
Erst jetzt bemerkte er seine Kameraden wieder, die ebenfalls gegen den Sturm ankämpften.
„Noch ein Mann ans Ruder! Kurs halten!“, hörte er den Kapitän brüllen.
Schon seit vielen Stunden peitschte der Regen erbarmungslos und der Wind pfiff unaufhörlich. So einen Sturm hatte Sean noch nicht erlebt. Er war hundemüde. Da alle gebraucht wurden, um das Schiff vor dem Untergehen zu retten, durfte sich niemand ausruhen. Sean hatte Arthur schon länger nicht mehr gesehen und er hoffte inständig, dass es seinem Freund gut ging.
Seans Kleidung