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dass er nicht wusste, wie er handeln sollte. Er blieb einfach stehen und beobachtete sie weiter. Sie ließ sich ein belegtes Brötchen einpacken, das sie in ihrer Umhängetasche verstaute, bevor sie bezahlte und ihr Wechselgeld empfing. Sie hatte Gepäck dabei, einen mittelgroßen, rollbaren Schalenkoffer, der mit den Sehenswürdigkeiten europäischer Metropolen bedruckt war. Obenauf befand sich eine Fototasche, die sie mit einem Vorhängeschloss am Ausziehgriff des Rollkoffers befestigt hatte.

      Sie schaute auf ihre Armbanduhr und setzte sich in Richtung Ostseite des Marktes in Bewegung. Erik ging ihr nach, als stünde er unter einem Zauber und hätte keine andere Wahl, als die Anweisung seines Meistermagiers zu befolgen.

      In der Lotto-Verkaufsstelle am Parkhaus deckte sich die Frau mit einer Tageszeitung und zwei Zeitschriften ein. Dann rollte sie ihren Koffer die Fahrstraße entlang in Richtung Freiheitsplatz. An der Bushaltestelle der Linie 1, die zum Hauptbahnhof fuhr, stellte sie sich zu den Wartenden. Erik hielt genügend Abstand, um nicht in ihr Blickfeld zu geraten. Als der Bus kam und anhielt, stieg er nach ihr ein und achtete beim Hinsetzen darauf, von anderen Fahrgästen abgeschirmt zu sein und sein Gesicht so wenig wie möglich zu zeigen.

      Nach etwa zehn Minuten Fahrt erreichten sie den Hanauer Hauptbahnhof, und die Frau stieg aus. Erik folgte ihr in das Gebäude. Sie ging die Treppe zum Gleis 7 hinauf, setzte sich auf eine der Bänke und begann, in den Zeitschriften zu blättern. Offensichtlich war sie auf eine längere Wartezeit eingestellt.

      Erik hielt sich abseits und behielt den Bahnsteig im Blick. Die Frau interessierte sich weder für das Display, noch für die einlaufenden Züge. Erst als gegen 15:30 Uhr der Zug nach Berlin einrollte, blickte sie auf, packte ihre Zeitschriften und die Tageszeitung zusammen und schob sie in ihre Umhängetasche. Dann erhob sie sich und zog ihren Rollkoffer die Waggons entlang, bis sie die richtige Nummer fand, wartete, bis alle Fahrgäste ausgestiegen waren, und kletterte hinauf.

      Als sie verschwunden war, stieg Erik ebenfalls ein. Er sah, dass sie nach ihrem reservierten Sitz suchte und sich an einen Fensterplatz in der Mitte des Waggons niederließ. Erik blieb im Türbereich stehen, bis alle Fahrgäste eingestiegen waren und ihre Plätze eingenommen hatten. So verharrte er, bis die Türen geschlossen waren und der Zug sich behäbig wie ein sattes Tier in Bewegung setzte.

      Einen Moment lang wunderte sich Erik über sich selbst. Auf was ließ er sich gerade ein? Warum war er nicht rechtzeitig ausgestiegen? Hatte er völlig den Verstand verloren?

      Da er keine Antworten fand, schüttelte er die Fragen von sich ab und betrat entschlossen den Großraum des Waggons. Der Zug hatte das Bahnhofsgebäude hinter sich gelassen und Fahrt aufgenommen, so dass der Boden unter Eriks Füßen schwankte und er sich beim Vorwärtspendeln an den Sitzlehnen festhalten musste, bis er den Platz der Frau erreichte.

      „Ich wusste es: Das Kleid steht Ihnen ausgezeichnet.“

      Sie wandte ihren Blick vom Fenster ab und sah überrascht an Erik hoch. „Sie? Was machen Sie denn hier?“

      „Ich wollte Sie wiedersehen. Einfach war’s nicht. Hat mich ziemlich viel Geduld gekostet und wäre auch beinahe schief gegangen.“

      „Sie haben gar kein Gepäck dabei. Und für jemand, der auf Reisen geht, sind Sie ziemlich leicht bekleidet.“

      Erik sah auf seine hellblaue Leinenhose und die braunen Sandalen hinunter und zuckte die Schultern. „Vor zwei Stunden hatte ich noch keine Ahnung, dass ich in diesen Zug steigen würde.“

      Die Frau runzelte die Stirn. In ihren Augen stand Argwohn. „Sie sind nicht etwa auf Drogen … oder? Und Sie wissen hoffentlich, wo Sie wohnen. Was Sie tun, scheinen Sie jedenfalls nicht immer zu wissen.“

      „Jahnstraße in Hanau, Altbau, zweiter Stock, Fenster zur Straße. Keine Drogen. Ihre dritte Vermutung stimmt allerdings, sonst hätten Sie ein anders Kleid an, und ich wäre jetzt nicht hier.“

      Sie lächelte amüsiert. „Sie müssen völlig verrückt sein.“

      „Ganz im Gegenteil, ich habe mich schon lange nicht mehr bei so klarem Verstand gefühlt wie gerade jetzt. Sie fahren bis Berlin?“

      Sie nickte. „Prenzlauer Berg. Dort bin ich zu Hause.“

      Er deutete auf den leeren Sitz neben ihr. „Darf ich?“

      Ohne ihre Antwort abzuwarten, setzte er sich zu ihr.

      Ein Schaffner betrat den Waggon, um die Fahrscheine der Reisenden zu kontrollieren. Erik löste bei ihm ein Ticket nach Berlin, was ihn beinahe seine gesamte Barschaft kostete und ihm beim Schließen seines Portemonnaies einen Seufzer entlockte. Die Frau konnte ihr Lachen nicht zurückhalten. „Sie sind wirklich ein total übergeschnappter Kerl. Hoffentlich haben Sie eine Kreditkarte dabei, sonst werden Sie in Berlin nicht weit kommen. Warum tun sie das alles überhaupt, Mr. Crazy?“

      Erik blickte einen kurzen Moment zum Fenster hinaus, um über seine Antwort nachzudenken. Draußen schien die Landschaft an ihm vorbeizufliegen. „Mag sein, dass ich einen reichlich schrägen Eindruck auf Sie mache“, gab er schließlich zu, „aber die Wahrheit ist, dass ich Sie nicht noch einmal aus den Augen verlieren will, nachdem ich Sie wiedergefunden habe.“

      „Was meinen Sie mit ‚wiedergefunden‘? Sie kennen mich doch gar nicht.“

      Statt auf die Frage einzugehen, zog Erik es vor, das Thema zu wechseln. „Verraten Sie mir, wie Sie heißen?“

      Sie zögerte kurz, ehe sie antwortete. „Romina Bonero. Meine Freunde nennen mich Romy.“

      „Hübscher Name. Gefällt mir.“

      „Eigentlich heiße ich Rosa-Maria Müller. Banal und scheußlich altmodisch, finden Sie nicht? Romina Bonero ist mein Künstlername.“

      „Oh, und was machen Sie?“

      „Was ich mache? Ich sitze in einem Zug und lasse mich auf eine Unterhaltung mit einem durchgeknallten Waggonhopper ohne Gepäck ein, der versucht, mich anzubaggern.“

      Erik musste über ihre Schlagfertigkeit lachen. „Der Punkt geht an Sie, Romy Bonero. Also nochmal meine Frage: Was machen Sie künstlerisch, um Ihre Brötchen zu verdienen?“

      „Verschiedene Dinge. Modell stehen für Versandhaus-Mode, fotografieren für Zeitschriften. Manchmal bekomme ich auch Aufträge, für Reportagen zu recherchieren. Ich mache alles Mögliche, sozusagen querbeet, solange es sich für mich spannend anhört.“

      „Eine ‚Hanna-Dampf in allen Gassen‘ also, die für den Job eines Vorzimmerdrachen nicht zu begeistern wäre.“

      „Ich bin gerne unabhängig. Routine und Bürostaub würden mich umbringen.“

       „Was haben Sie in Hanau gemacht? Das ist nicht gerade eine der interessantesten Städte in Deutschland. Nicht einmal in Hessen.“

      „Sagen Sie das nicht, Mr. Crazy. Wie heißen Sie eigentlich?“

      „Erik. Erik Durante. Ich bin siebenundzwanzig Jahre alt, ein verkrachter Student der Soziologie, ohne Berufsausbildung und arbeitslos. Was möchten Sie noch wissen?“

      „Das genügt, den Rest sehe ich selbst“, antwortete Romy mit wohlwollendem Blick, der Erik nicht entging. Obwohl er nicht die Jugendausgabe eines Harrison Ford war, fanden ihn die meisten Frauen attraktiv, besonders wegen des Kontrasts seines breiten Kinns und der kräftigen, etwas zu langen Nase mit seinen ansonsten weichen Gesichtszügen. Dazu war er groß und gut gebaut, ein Jogging-Typ.

      „Also, Mr. Crazy“, schickte sich Romy an, seine Frage zu beantworten, „ich war hier, um für eine Reportage über die demokratischen Bewegungen in Hanau von 1830 bis zur Revolution von 1848 zu recherchieren. Auch über die damals entstandene erste Eisenbahnstrecke von Hanau nach Frankfurt.“

      „Klingt ziemlich anspruchsvoll. Für wen machen Sie das?“

      „Für die Berliner Morgenpost. Von Hanau gingen wichtige revolutionäre Impulse aus.“

      „Wieso interessiert man sich in Berlin dafür, was vor beinahe zweihundert Jahren in Hanau passierte?“

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