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ein wenig seinen eigenen Stil zu entwickeln. Doch nachdem er das Studium aufgegeben und als Hausmann seine täglichen Pflichten zu erfüllen hatte, ließ er sein Hobby erst schleifen und, seit er mit Nadja in Hanau lebte, ganz einschlafen. Dabei hätte er jede Menge Zeit gehabt, es zu pflegen und seine Fähigkeiten zu perfektionieren.

      Jetzt begann er mit sich zu hadern, dass er das Potenzial, das in ihm schlummerte, nicht schon eher wachgerüttelt hatte. Er ging ins Schlafzimmer und öffnete den Karton, der als einziger seit dem Umzug nach Hanau noch verschlossen in einer Ecke stand, und kramte die vernachlässigten Dinge heraus: ein Tagebuch mit mehr leeren als beschriebenen Seiten, ein altes Fotoalbum, einen Tuschekasten, eine Blechschachtel mit Pinseln, ein paar Spitzerdosen, ein Ledermäppchen mit Bleistiften, Buntstiften und Radierern. Schließlich ein Comic-Zeichenlehrbuch, noch mehr Bleistifte unterschiedlicher Stärke, die von einem Gummiband zusammengehalten wurden, eine weitere Blechschachtel mit Kohlestiften und vom Boden des Kartons einen Zeichenblock und einen Stapel Blätter mit Skizzen.

      Erik huschte ein Lächeln über die Lippen, als er die einzelnen Zeichnungen betrachtete und Erinnerungen an seine Studienzeit in ihm aufstiegen. Er nahm den Zeichenblock und die Bleistifte, setzte sich damit an den Küchentisch und begann, Striche und Bögen zu ziehen. Beglückt stellte er fest, dass er das Zeichnen nicht verlernt hatte. Die Linien kamen zwar noch ungelenk und zuweilen zittrig, aber mit jedem Strich wurde er sicherer.

      Er zeichnete stundenlang, trank dabei einen Kaffee nach dem anderen und vergaß darüber, den Tisch abzuräumen und Nadjas Aufträge in der Stadt zu erledigen. Eine seligmachende Aufgeregtheit hatte ihn ergriffen, als sei er tagelang durch die Wüste geirrt und sei kurz vor dem Verdursten auf die rettende Oase gestoßen.

      Er zeichnete Merkel, Seehofer, Trump, Putin, Macron. Kidman, Schwarzenegger, Clooney. Aber auch Prominente vergangener Zeiten: Adenauer, de Gaulle, Mitterrand, Brandt, Jelzin - Charakterköpfe, die nach wenigen Strichen erkennbar waren. Aber so zeichneten alle, das war also nicht das Gelbe vom Ei. Erik brauchte einen eigenen Stil. Er versuchte es mit dem Hinzufügen von Details und bewusst gesetzten Schattierungen, um seinen Karikaturen mehr Tiefe zu verleihen, jedoch ohne in die Detailverliebtheit seiner Vorbilder Greser & Lenz zu verfallen. Er fand, dass sich das Ergebnis sehen lassen konnte: Die Gesichter wirkten immer noch grotesk, aber trotzdem real, und auf einmal sah Donald Trump nicht mehr aus wie jemand, der mitten in einer Ansprache mit geschürzten Lippen und beleidigtem Gesichtsausdruck eingefroren war, sondern als würden ihm im nächsten Moment weitere markige Sprüche von den Lippen sprudeln.

      Das ist schon mal ein Anfang, dachte Erik zufrieden. Wo aber eine Idee gezündet hat, kommt oft noch eine weitere hinzu: Wie wäre es, ging es ihm spontan durch den Kopf, eine individuelle Figur für einen täglich erscheinenden Comic-Strip, bestehend aus vier bis sechs Bildern, zu konzipieren? Nach einigen Überlegungen und Skizzen hatte Erik seine Figur gefunden: eine kluge Ratte namens Ziska, die sich über die politischen Ansichten des Wohnungsinhabers, bei dem sie sich eingenistet hat, lustig macht, wie auch über die Tatsache, dass dieser sie mit seinen raffiniertesten Versuchen nicht in eine Falle zu locken vermag. Auf diese Weise konnten einer Leserschaft die aktuellen politischen Probleme auf humorvolle Weise dargeboten werden.

      An den folgenden Tagen zeichnete Erik Muster-Comics, fertigte Scans davon an und schickte sie zusammen mit einem Bewerbungsschreiben und seiner Kurzbiografie per E‑Mail an mehrere Verlage namhafter Tageszeitungen. Als Nadja ihn fragte, weshalb er neuerdings den Haushalt vernachlässige und ihre Aufträge nicht mehr erledige, gab er als Begründung an, sich nicht wohlgefühlt zu haben, was sie mit einem skeptischen Blick auf den Stapel seiner Zeichnungen quittierte, sich aber jeglichen Kommentars enthielt.

      Zu Eriks Überraschung dauerte es nur zwei Tage, bis sich der Redakteur eines Kölner Zeitungsverlags telefonisch bei ihm meldete. „Ihre Arbeiten gefallen mir. Haben Sie noch mehr davon?“ Weitere drei Tage später saß Erik in Benno Salzmanns Büro. „Um es kurz zu machen, Herr Durante: Unser bisheriger Karikaturist fällt wegen einer Erkrankung für lange Zeit aus. Natürlich hatte er einen anderen Stil als Sie, aber unsere Leser werden sich an Ihre Zeichnungen gewöhnen.“

      „Heißt das, ich bin engagiert?“

      Salzmann nickte. „Sofern wir uns über die Konditionen einig werden können. Bekanntlich geht der Absatz bei den Tageszeitungen seit einiger Zeit dramatisch zurück. Deshalb verfügen die Verlage nur über schmale Budgets. Es kommt also darauf an, welche Vorstellungen Sie über Ihr Honorar haben und wie schnell Sie arbeiten können.“

      Erik hatte sich in kluger Voraussicht im Internet über die Durchschnittshonorare für Comiczeichner informiert, hielt es aber für angebracht, nicht mit der Tür ins Haus zu fallen. „Wieviel kann der Verlag mir bezahlen, und was muss ich dafür liefern?“

      „Zwei Bilderserien in Farbe für die Freitags- und Samstagsausgabe, also zwölf Zeichnungen pro Woche. Unser Verlag zahlt Ihnen ein Stundenhonorar von 40 Euro. Die Exklusivrechte an Ihren Bildern treten Sie an den Verlag ab.“

      Erik überschlug im Kopf das Angebot. Er brauchte für eine Farbzeichnung, wie sie ihm vorschwebte, höchstens eine Stunde, eher weniger, für detaillierte Bilder zwanzig bis dreißig Minuten länger. Sein monatliches Einkommen läge demnach zwischen 2.000 und 2.800 Euro brutto – zu wenig, um als Single über die Runden zu kommen. „Ich hatte an 50 Euro gedacht.“

      „43 und keinen Cent mehr.“

      Erik hielt sich einen Moment in gespieltem Nachdenken zurück, ehe er einlenkte. „Ihr letztes Wort?“

      „Die Höchstgrenze. Mehr ist nicht drin.“

      „Dann nehme ich das Angebot an.“

      „Gut. Ich lasse einen Vertrag vorbereiten, den wir auf ein Jahr befristen. Sie liefern erstmals nächste Woche. Das Thema und den Abgabetermin wird der zuständige Redakteur mit Ihnen abstimmen.“

      Erik hätte jubeln können vor Glück: Alles war besser gelaufen, als er zu hoffen gewagt hatte. Nachdem Salzmann ihn durch den Verlag geführt und ihn mit dem Redakteur bekannt gemacht hatte, der künftig sein Ansprechpartner sein würde, hatte er vor der Heimfahrt noch genügend Zeit, einen kurzen Besuch im Kölner Dom zu machen. Dort setzte er sich auf eine Bank in der Nähe des Hochaltars, schloss die Augen und genoss die erhabene Atmosphäre des gewaltigen Bauwerks, bis ihn eine tiefe Ruhe durchströmte. Er hatte den Fuß auf die Schwelle zu einem eigenständigen Leben gesetzt, und nichts konnte ihn jetzt noch aufhalten, diesen Weg weiterzugehen. Wäre er ein religiöser Mensch gewesen, hätte er Gott oder der Jungfrau Maria ein Dankgebet gen Himmel geschickt. Stattdessen warf er eine Zwei-Euro-Münze in die Kollekte, bevor er dem Dom verließ und sich auf den Weg zum Bahnhof begab.

      Noch in derselben Woche stellte ihm die Post den Honorarvertrag zu, auf den er sich mit Salzmann geeinigt hatte, und nachdem kurz darauf sein Erstauftrag und die Deadline mit seinem Redakteur geklärt waren, stürzte er sich in die Arbeit.

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