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ins Mark. Und jede Erschütterung sandte ein weiteres schmerzhaftes Hämmern durch ihren Schädel, das jedem Schmied an seinem Amboss ein anerkennendes Nicken entlockt hätte. Und als wäre das noch nicht genug, schlug Ihr Magen im Rhythmus ihrer Schritte Purzelbäume.

      Lange halte ich das nicht mehr durch!

      Doch was sollte, oder besser, was konnte sie dagegen tun? Im Moment konnte sie nur eins tun: weiterlaufen!

      Sie schüttelte den Kopf. Zum wiederholten Male wunderte sie sich, wie sie überhaupt in diese ausweglose Lage geraten war. Dabei hatte am Anfang nichts darauf hingedeutet, dass es so enden würde.

      Sie setzte sich wieder in Bewegung und floh vor ihrem bewaffneten Verfolger. Während sie das tat, dachte sie unweigerlich über die turbulenten Ereignisse der vergangenen drei Tage nach, die sie schlussendlich an diesen Ort und wieder einmal in tödliche Gefahr gebracht hatten.

      Tag 1

      NEMESIS

      In der griechischen Mythologie die Göttin des »gerechten Zorns«, auch: »ausgleichenden Gerechtigkeit«. Sie wurde dadurch ebenfalls zur Rachegottheit.

      (Wikipedia)

      1

      Die vermisste Person hieß Christian Stumpf. Er war zwanzig Jahre alt und studierte im dritten Semester an der Juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität Rechtswissenschaften.

      Kriminalhauptkommissarin Anja Spangenberg von der Vermisstenstelle der Kripo München betrachtete eins der Fotos des Vermissten. Wie ein Dutzend andere auch war es über dem Schreibtisch an die Wand gepinnt worden. Obwohl es nicht nur den vermissten Studenten, sondern auch eine junge Frau zeigte, war es besser als das Foto aus der Vermisstenakte, das etwas zu dunkel und zudem leicht unscharf war. Die beiden jungen Leute posierten lächelnd Wange an Wange für den Fotografen. Das ließ darauf schließen, dass sie miteinander vertraut waren. Entweder handelte es sich um gute Bekannte oder unter Umständen sogar um ein Liebespaar.

      Christian Stumpf war ein gut aussehender junger Mann mit kurz geschnittenen blonden Haaren und markanten, erstaunlich makellosen Gesichtszügen. Auf dem Foto trug er eine Brille mit schwarzem Kunststoffgestell im Wayfarer-Stil der Firma Ray Ban. Er wirkte damit wie ein erblondeter Clark Kent, der sich jeden Moment die Kleidung vom Leib reißen könnte, sodass darunter das Superman-Kostüm zum Vorschein käme.

      Aus der Akte wusste Anja, dass er ein Meter fünfundachtzig groß war und aus einer Kleinstadt südwestlich von München stammte. Obwohl die Ähnlichkeit nicht allzu groß war, erinnerte der vermisste Student Anja dennoch ein wenig an ihren verstorbenen Mann Fabian. Sie seufzte missmutig und unterdrückte jeden weiteren Gedanken, der in diese im Moment unerwünschte Richtung ging. Stattdessen konzentrierte sich wieder voll und ganz auf ihren aktuellsten Vermisstenfall.

      Er war ihr erst an diesem Morgen zugeteilt worden. Als sie ins Büro gekommen war, das sie sich mit ihrem Kollegen, Kriminaloberkommissar Daniel Braun, teilte, war dieser entgegen seinen sonstigen Gepflogenheiten bereits anwesend gewesen.

      »Was machst du denn schon hier?«, fragte Anja irritiert. Sie zog ihre schwarze Lederjacke aus und hängte sie an den Garderobenständer, der neben der Tür stand.

      »Wieso?« Braun tat so, als wäre es eine Selbstverständlichkeit, dass er vor seiner Kollegin im Büro war; dabei war es eher die Ausnahme, weil er nahezu ständig zu spät kam. Er sah aus, als könnte er nur mit viel Mühe ein selbstzufriedenes Grinsen unterdrücken.

      »Ach was, ist nicht wichtig.« Anja winkte ab und schüttelte den Kopf, während sie zu ihrem Schreibtisch ging, der dem des Kollegen unmittelbar gegenüberstand. Diesmal war sie es, die nur mühsam ein Lächeln unterdrückte, als sie die Enttäuschung in Brauns Augen sah, weil sie das Thema nicht weiterverfolgte. Erst dann entdeckte sie die Vermisstenakte, die mitten auf der Schreibtischplatte lag. Sie stöhnte verhalten. »Ein neuer Fall?«, fragte sie und ließ sich auf den Drehstuhl fallen, der vernehmlich ächzte, als wollte er sie nachäffen. Das lag aber nicht daran, dass sie zu viel wog, sondern eher daran, dass der Stuhl bereits so betagt war.

      Die Kriminalbeamtin hatte vor anderthalb Monaten ihren fünfunddreißigsten Geburtstag gefeiert. Sie maß vom Scheitel bis zu den Fußsohlen exakt einhundertzweiundsiebzig Zentimeter. Allerdings hatte sie keinen Scheitel, denn ihr kurzes dunkelblondes Haar war zu ihrem Verdruss auch an diesem Morgen wie immer arg zerzaust. Dadurch sah sie aus, als wäre sie auf dem Weg ins Büro durch einen schweren Sturm marschiert. Sie hatte ein herzförmiges Gesicht und hohe markante Wangenknochen; dazu grüne Augen, eine schmale Nase und einen ihrer Ansicht nach etwas zu breiten Mund mit dünnen Lippen.

      »Die Akte lag da schon, als ich kam«, erklärte Braun.

      Anja vermutete, dass er erst wenige Minuten oder allenfalls Sekunden vor ihr das Büro betreten hatte und jetzt so tat, als handelte es sich um Stunden. »Hast du auch einen neuen Fall zugeteilt bekommen?«

      Er schüttelte den Kopf, schürzte die Lippen und zuckte gleichzeitig mit den Schultern, als würde er diesen Umstand bedauern, was er allerdings mit Sicherheit nicht tat.

      »Und wieso dann ich?« Es war eine rhetorische Frage, daher erwartete und erhielt sie auch keine Antwort von ihm. »Ich habe momentan schon so viele offene Fälle, dass ich einen weiteren ungefähr ebenso dringend gebrauchen kann wie einen Pickel am Hintern.«

      Ihr Kollege lachte. Im Grunde kamen Anja und er gut miteinander aus. Allerdings vermisste Anja ihre ehemalige Zimmerkollegin Rebecca Oberweger, mit der sie sich ausgezeichnet verstanden hatte. Doch Rebecca, mit der Anja einmal im Monat telefonierte, befand sich in Elternzeit, seitdem sie eine Tochter zur Welt gebracht hatte.

      Braun war achtundzwanzig Jahre alt und ein Meter zweiundachtzig groß. Er hatte kurzes dunkelbraunes Haar, einen dichten Vollbart und eine Hakennase.

      »Vermutlich habe ich keinen neuen Vermisstenfall zugeteilt bekommen, weil ich ab übermorgen im Urlaub bin«, sagte er nun. »Schon vergessen?«

      »Ach ja, richtig.« Anja schlug mit den ausgestreckten Fingern der rechten Hand leicht gegen ihre Stirn, als müsste sie die Zahnräder ihres Gehirns erst mit einem Klaps mechanisch in Gang setzen. »Wo geht es denn diesmal hin? Endlich nach Kalifornien zum Badwater Ultramarathon? Oder dieses Mal in die Atacama-Wüste in Chile, die Wüste Gobi in China, die Sahara in Ägypten und schließlich die Eiswüste der Antarktis zum legendären Vier-Wüsten-Rennen

      Braun lief in seiner Freizeit am liebsten sogenannte Ultramarathons, deren Laufstrecken länger waren als die normale Marathondistanz. Das sah man ihm auch an, denn er war extrem schlank, ja geradezu hager und knochig. Bei einem Ultramarathon liefen die teilnehmenden Sportler hundert oder mehr Kilometer am Stück oder in Tagesetappen. Oder sie unterzogen sich Stundenläufen, die 72 Stunden oder noch länger dauern konnten.

      Anja kannte die Namen der Marathons und die Orte, an denen sie stattfanden, mittlerweile in- und auswendig. Braun erzählte ihr ständig mit funkelnden Augen und kaum zu zügelnder Begeisterung von den Ultramarathons, die er in den letzten Jahren erfolgreich absolviert hatte. Oder er schwärmte ihr von den Läufen vor, die er noch machen wollte. Sowohl der Badwater Ultramarathon als auch das Vier-Wüsten-Rennen fehlte noch in der Sammlung ihres Kollegen.

      »Weder noch«, sagte er und lächelte verträumt. »An diese beiden legendären Rennen wage ich mich im Moment noch nicht heran. Stattdessen geht es diesmal zur Transvulcania auf der Kanarischen Insel La Palma. Der Ultramarathon beginnt um 6 Uhr morgens im Süden La Palmas am Leuchtturm von Fuencaliente mit dem Aufstieg zur Vulkanroute. Da es um diese Uhrzeit noch dunkel ist, muss man sich den Weg selbst mit einer Taschen- oder Stirnlampe ausleuchten. Ziel ist nach 74,34 Kilometern Los Llanos de Aridane. Da während des Laufs ein Höhenunterschied von insgesamt 8.525 Metern – 4.415 Meter bergauf und 4.110 Meter bergab – überwunden werden muss, braucht man eine ausgezeichnete Kondition. Jeder Läufer muss daher erst einmal nachweisen, dass er in den letzten 18 Monaten bei einem mehr als 40 Kilometer langen Rennen ins Ziel gekommen ist. Der Ultramarathon der Transvulcania bringt außerdem

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