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konnte, kletterte sie über das Geländer, bis sie auf dem schmalen Absatz balancierte, der die Brüstung vom Abgrund trennte. Anschließend ließ sie das Geländer los, senkte den Kopf und sah in die Tiefe vor ihren Füßen, die ihr finster entgegenblickte. Der Wind zerrte hier, unmittelbar am Rand, noch heftiger an ihr. Es kam ihr beinahe so vor, als griffe er mit gierigen Händen nach ihr, um sie vom Gebäude herunterzureißen und anschließend auf ihrem Weg nach unten zu begleiten. Doch sie hielt dem Zerren stand. Dann schloss sie die Augen, ließ sich nach vorn fallen und …

      Anja schwankte und bekam einen Schreck. Ihr Herz klopfte erschreckend schnell. Eilig riss sie die Augen auf und erkannte mit Erleichterung, dass sie gar nicht über das Geländer geklettert war und vom Dach stürzte, sondern es sich nur besonders lebhaft vorgestellt hatte. Sie stand noch immer auf der sicheren Seite der Brüstung. Und ihre rechte Hand klammerte sich weiterhin daran fest, als hinge ihr Leben davon ab. Außerdem hatte sie weiche Knie.

      Als sie erneut in die Tiefe blickte, wurde ihr umgehend schwindelig. Sie vermeinte noch immer, einen leichten Sog zu verspüren, so als flüsterte ihr die Tiefe zu, es endlich hinter sich zu bringen und zu ihr zu kommen. Doch Anja schüttelte verneinend den Kopf und widerstand der Versuchung.

      Ich muss schleunigst von hier weg!

      Sie löste ihre Finger widerstrebend vom Geländer. Anschließend trat sie rasch ein paar Schritte zurück, bis die endlich wieder das Gefühl hatte, festen Boden unter den Füßen zu haben. Das Schwindelgefühl legte sich allmählich.

      Eilig holte sie ihr Telefon heraus und machte die Aufnahme, die Nemesis verlangt hatte. Normalerweise war sie schwindelfrei und litt auch nicht unter Höhenangst. Sie hatte aber dennoch keine Lust, zehn Minuten lang hier herumzustehen und nach unten zu starren, wie es der Todesengel verlangt hatte, während ihr gleichzeitig ständig das sogenannte Lied der Selbstmörder durch den Kopf ging und der Abgrund sie flüsternd zu sich locken wollte.

      Anja hatte gedacht, sie wäre seit dem Tod des Apokalypse-Killers nicht mehr suizidgefährdet. Aber offenkundig hatte sie sich getäuscht. In manchen Situationen, beispielsweise am Rand eines Hochhausdaches, konnte sie den Lockruf des Todes noch immer vernehmen und seinen Sog deutlich spüren.

      Sie erschauderte erneut und erzitterte dabei.

      Womöglich war es doch keine so brillante Idee, diese Selbstmord-Challenge anzufangen.

      Dennoch wollte sie die Challenge jetzt nicht abbrechen. Außer dem Kontakt zu Nemesis hatte sie momentan nichts in der Hand, um den Hinterleuten des Clubs auf die Spur zu kommen. Schon deshalb musste sie mit der Challenge unbedingt weitermachen.

      Anja gab sich innerlich einen Ruck und drehte sich schließlich um, damit sie nicht länger in die verlockende Tiefe schauen musste. Nachdem sie beim Anblick des Abgrunds soeben das Gefühl gehabt hatte, sie wäre in Trance gefallen, traute sie sich hier oben selbst nicht länger.

      Besser, ich verschwinde so schnell wie möglich!

      Schließlich hatte sie, was sie wollte. Und sobald sie Nemesis das Foto geschickt hatte, wäre damit auch die vierte Aufgabe erledigt.

      Sie ging, noch immer auf wackligen Beinen, zu dem Aufbau in der Mitte des Daches, der neben dem Schachtkopf des Aufzugs eine Tür zum Treppenhaus enthielt. Als sich die Tür hinter ihr schloss und sie sicher im Inneren des Hauses war, atmete sie erleichtert auf. Auch die Melodie von »Gloomy Sunday« in ihrem Kopf wurde augenblicklich leiser. Sie lief die Stufen bis ins oberste Stockwerk hinunter. Anschließend fuhr sie mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoss. Nachdem sie dem Hausmeister den Schlüssel zurückgebracht und sich noch einmal bedankt hatte, verließ sie das Gebäude, setzte sich in ihren Wagen und fuhr nach Hause.

      Anjas 3-Zimmer-Wohnung lag in der Hansapark-Wohnsiedlung nördlich des Westparks. Von ihrem verstorbenen Mann Fabian hatte sie ein Haus geerbt. Es lag in der Nähe des Waldfriedhofs, auf dem sowohl ihr Mann als auch ihr Vater begraben waren. Dennoch hatte sie sich bislang nicht dazu durchringen können, die Wohnung aufzugeben und in das Haus zu ziehen. Dabei wäre das vom rein wirtschaftlichen Gesichtspunkt her viel sinnvoller gewesen. Doch abgesehen davon, dass sie in Fabians Haus zu viel an ihn erinnerte und die Trauer und der Schmerz über seinen Tod dort allgegenwärtig waren, lag die Wohnung erheblich näher an ihrer Dienststelle. Wenn sie ihr Auto nicht benötigte, konnte sie innerhalb weniger Minuten zu Fuß zur Arbeit gehen. Außerdem lag der Westpark, in dem sie bevorzugt ihre Runden drehte, unmittelbar vor der Haustür.

      Sobald sie die Wohnung betreten hatte, sah sie sich Yin gegenüber. Er saß im Flur und sah sie erwartungsvoll an. Sofort bekam sie ein schlechtes Gewissen, denn der Kater hatte bis vor einem halben Jahr auf einem Bauernhof gelebt und dort jede Menge Auslauf und Freiraum gehabt. Ermittlungen im Fall einer verschwunden Psychologiestudentin, an die Anja an diesem Tag schon einmal erinnert worden war, hatten sie damals dorthin geführt und in eine lebensgefährliche Situation gebracht. Yin hatte ihr gleich zweimal das Leben gerettet. Zum Dank hatte Anja ihn bei sich aufgenommen, denn nachdem die beiden Bewohner des Bauernhofs gestorben waren, hatte es niemanden gegeben, der sich um ihn gekümmert hätte. Seitdem lebte Yin bei Anja und war eine reine Wohnungskatze. Er beklagte sich zwar nie darüber, dass er nicht mehr wie früher nach Belieben in der Gegend herumstreunen und auf Mäusejagd gehen konnte, wie es Katzen ihrer räuberischen Natur gemäß eigentlich tun sollten. Dennoch war Anja davon überzeugt, dass er es insgeheim vermisste. Vor allem, da sie einen Großteil des Tages nicht da und er in dieser Zeit sich selbst überlassen war. Anja stellte sich dann immer vor, dass er auf dem Fensterbrett saß, nach draußen sah und seiner verlorenen Freiheit nachtrauerte. Das war natürlich Blödsinn, und wie viele Tierbesitzer vermenschlichte sie das Tier damit allzu sehr. Dennoch beschloss Anja in diesem Moment spontan, sich schon um des Katers willen endlich darum zu kümmern, dass sie diese Wohnung trotz ihrer unbestreitbaren Vorteile aufgab und in das leerstehende Haus neben dem Waldfriedhof zog.

      »Gute Neuigkeiten, Yin«, sagte Anja daher zur Begrüßung. »Wir beide ziehen bald in ein Haus mit einem großen Garten.«

      Yin ließ sich nicht anmerken, ob er sie verstanden hatte und, wenn ja, was er darüber dachte. Er wartete geduldig, bis sie endlich Schuhe und Jacke ausgezogen hatte, bevor er zu ihr kam, sich an ihren Beinen rieb und leise miaute.

      »Hunger?«, fragte Anja.

      Dieses Wort schien der Kater hingegen sehr wohl verstanden zu haben. Er löste sich augenblicklich von ihr und lief leichtfüßig in die Küche.

      Anja folgte ihm.

      Als sie die Küche betrat, saß er bereits auf der Arbeitsplatte neben dem Kühlschrank. Sein Schwanz peitschte ungeduldig hin und her.

      »Ich mach ja schon«, sagte Anja und schüttelte den Kopf. Am Anfang ihres Zusammenlebens hatte sie ihm noch beibringen wollen, nicht auf die Tische und die Arbeitsplatten in der Küche zu springen. Doch da er ihre dementsprechenden Anweisungen schlichtweg ignoriert hatte, hatte sie es irgendwann aufgeben, ihn erziehen zu wollen. Stattdessen hatte sie immer öfter das unbestimmte Gefühl, die Katze würde sie dressieren und wäre damit sogar ausnehmend erfolgreich.

      »Und? Wie war dein Nachmittag?« Sie öffnete den Oberschrank, unter dem Yin saß, und holte eine Dose Katzenfutter mit Kaninchen- und Entenfleisch heraus. Sie glaubte, dass es sich dabei um Yins Lieblingssorte handelte, denn keine andere Geschmacksrichtung aß er rascher auf. Während sie einen frischen Futternapf füllte und die Katze gleichzeitig mit dem Ellenbogen davon abhielt, sich schon jetzt darüber herzumachen, redete sie weiter, als hätte Yin ihr geantwortet. »Bei mir war’s überhaupt nicht langweilig. Ich hab mich bei einer Suicide-Challenge angemeldet und musste jede Menge dämlicher Aufgaben erledigen.« Sie stellte den Napf auf den Boden. Yin sprang herunter und stürzte sich darauf, als hätte er Angst, jemand könnte es ihm vor der Nase wegschnappen. »Guten Appetit«, wünschte Anja. Anschließend leerte sie den Wassernapf, spülte ihn kurz aus, füllte ihn dann erneut und stellte ihn neben den dritten Napf, der Trockenfutter enthielt, auf das Yin jedoch nur im äußersten Notfall zurückgriff.

      Erst als sie den Kater versorgt hatte, kam sie dazu, an sich selbst zu denken und die Kaffeemaschine in Gang zu setzen. Dank der Suicide-Challenge würde es vermutlich eine lange Nacht ohne

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