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für das Rezept meiner Mutter, wenn auch ohne Schnellkochtopf, ihm traute ich wegen der Explosionsgefahr nicht. Ihr Zettel lehnte am Küchenfenster, während ich die Zunge zunächst wusch und mit klein geschnittenem Suppengemüse in einem großen Topf aufkochte. Es schäumte anfangs unangenehm, lecker sah das ganz und gar nicht aus. Diesen graubraunen Schaum musste ich immer wieder abseihen, denn er sah furchtbar eklig aus. Den Küchenwecker stellte ich anschließend auf zwei Stunden, solange brauchte die Zunge in jedem Fall.

      Mittags machte sich meine Familie auf den Weg außer Haus, darauf hatte ich bestanden. Ich bemühte mich, mir von ihren Blicken und dem Rümpfen der Nasen nicht meine Laune verderben zu lassen. Endlich schloss ich die Tür hinter ihnen. Ein herrlich langer Nachmittag zum gemütlichen Kochen und der Abend mit meiner Genussgruppe lagen vor mir.

      Die Zunge köchelte leise vor sich hin, und ich ließ mich auf dem Sofa nieder, legte die Füße hoch und schaltete den Fernseher an. Sturm der Rosen, auch diese Seniorenserie gehörte zu meinen Geheimnissen. Leider nickte ich dabei ein, erst das Klingeln des Küchenweckers holte mich in die Realität zurück. Die Zunge!

      Zwei ganze Stunden hatte ich geschlafen. Ich sprang auf, es roch zum Glück nicht angebrannt. Den Deckel riss ich hoch und war überrascht. Sie lag noch gut bedeckt in der siedenden Brühe.

      Mein Blick auf den Zettel fand diesen Satz:

      »Die Zunge ist gar, wenn sich die Spitze weich ansticht.«

      Erwartungsvoll stach ich mit dem Küchenmesserchen hinein, die Spitze war weich. Also stellte ich den Herd ab, hob das Fleisch mit zwei Gabeln aus dem Topf und spülte es mit kaltem Wasser ab.

      Weiter las ich:

      »Die Haut abziehen, so lange sie noch heiß ist.«

      Beherzt schnitt ich längs durch die inzwischen weiß gekochte Haut, mitten durch die dicken Papillen. Diese Haut sah wirklich nicht sehr appetitanregend aus, das konnte ich gut nachvollziehen. Sie war die Kontaktstelle zwischen der Kuh und ihrer Nase, zwischen der Kuh und allem Möglichen, woran sie geleckt hatte. Darüber wollte ich nicht weiter nachdenken. Nein, diese Haut musste ab.

      Überrascht stellte ich fest, dass es nicht so schwierig war. Es war jedoch eine ziemlich heiße Angelegenheit, ich verbrannte mir immer wieder die Finger dabei. Ich konnte die Haut links und rechts vom Schnitt anheben und sie der Zunge einfach wie eine Jacke ausziehen. Meine Mutter hatte oft lange daran herum geschnippelt. Ich hatte wohl einfach Glück.

      Es lockte mich, die zarte kleine Zungenspitze zu kosten. Ich schnitt sie ab und war begeistert, wie zart dieses Fleisch geraten war. Fast wie bei Mutter. Noch eines? Jetzt musste ich aber aufhören, sonst hätte ich vielleicht kein Ende mehr gefunden. Deshalb brachte ich die Zunge in den Keller zum Abkühlen. Am Abend musste ich sie nur noch aufschneiden und in der Soße wärmen. Ganz klassisch wollte ich Salat, Salzkartoffeln und Meerrettichsoße dazu reichen.

      Der Nachmittag war noch nicht vorbei. Es war ein schönes Gefühl, Zeit genug zu haben und nicht gehetzt kochen zu müssen. Erst konnte ich einmal gemütlich unter die Dusche gehen und mich für den Abend ein bisschen schön machen.

      Ich war noch nicht richtig abgetrocknet, als es an der Tür ungeduldig schellte. Mein Blick aus dem Fenster ließ mich aufseufzen. Meine Schwester Hille stand vor der Tür. Sie hatte die Gabe, stets unpassend aufzutauchen. Ich zog rasch den Bademantel über und ging zur Haustür.

      »Gut, dass du zu Hause bist.«

      Mit diesen Worten ging sie an mir vorbei ins Haus, hängte ihre Jacke an die Garderobe und meinte: »Hast du einen Kaffee für mich? Bist du alleine?«

      Mehr will ich nicht weiter von ihr erzählen. Nur dass sie sich auf dem Sofa nieder ließ und nicht mehr aufhörte zu reden. Meine Einwände, ich hätte noch zu tun, ich bekäme Besuch und müsste mich auch noch anziehen, überhörte sie elegant. Das war schon immer so bei ihr, sie kam, sah und siegte. Egal, was ich vorhatte, meine Pläne interessierten sie nicht. Sie war die große Schwester, hatte das Sagen, und sie sagte viel. Meine Meinung wollte sie nie hören, nur mein Ohr sollte ich ihr hinhalten, damit sie ihren Wortmüll dort hinterlassen konnte.

      Die Uhr tickte und die Zeit verstrich. Allmählich wurde ich unruhig. Wie sollte ich sie bloß loswerden? Wenn ich ihr von der Zunge erzählen würde, würde sie meine Vorfreude endgültig zunichtemachen. Sie machte schon als Kind ein großes Theater darum.

      »Igitt, Zunge – wie widerlich. Ich esse doch nicht, was andere schon im Mund hatten!« Dieser Witz hatte schon damals einen langen Bart. Nein, dieses Thema musste ich vermeiden. Außerdem musste ich sie wirklich dringend loswerden.

      Es wurde halb sieben, in einer Stunde erwartete ich meine Gäste. Es musste etwas passieren.

      »Ich sollte mich endlich einmal anziehen«, sagte ich und stand auf.

      »Ja, mach das. Ich würde längst frieren an deiner Stelle«, erwiderte meine Schwester.

      Im Schlafzimmer überlegte ich fieberhaft, womit ich ihren Besuch beenden konnte. Leise schlich ich hinunter in den Keller und hob das Tuch, um nach dem Zustand der Zunge zu sehen. Mit meinem Finger strich ich liebevoll über die unter der weißen Haut übrig gebliebenen, ganz zarten Papillchen. Das weckte in mir eine gierige Vorfreude. In dem Moment kam die Idee.

      »Hille!« rief ich nach oben, »Komm bitte mal runter!«

      Ich hörte ihre Schritte auf der Treppe und legte das Tuch schnell wieder über das Fleisch.

      Als sie durch die Tür trat, meinte ich mit meinem süßesten Lächeln zu ihr:

      »Ich habe eine Überraschung für dich. Mach mal die Augen zu und strecke die Zunge raus.«

      Hille will immer haben, haben, haben. Sie ist groß im Nehmen. Also zögerte sie nicht, schloss erwartungsvoll die Augen und streckte ihre Zunge heraus. Ich sah nur diese eine Möglichkeit und fackelte deshalb nicht lange, nahm das Fleisch in beide Hände, drehte die Papillen nach unten und strich damit über ihre Zunge.

      Sie riss ihre Augen auf. In ihnen konnte ich den Ablauf ihres auf Hochtouren arbeitenden Gehirns erkennen: ratloses Nachspüren – plötzliches Verstehen – grenzenloses Entsetzen.

      Ihr Schrei war beeindruckend und ihre Flucht aus dem Haus prompt.

      Endlich hatte ich Zeit für meine Gäste.

       Ein Abend zu zweit

      Andreas Berg

      Tiefrot schien das Licht durchs Glas. Brigitte drehte es langsam am Stil und der Farbton glitt durch die Schattierungen. Sie schwenkte den Wein und sog den Geruch ein. Brombeere. Und ja, der schwere Duft humusreicher Erde nach einem Sommerregen. Der Wein floss über ihre Lippen. Eindeutig Brombeere, Kirsche, kaum Säure, wie sie es mochte. Im Abgang kam etwas Johannisbeere hinzu. Schwer und erfrischend zu gleich. Ein großartiger Rotwein für einen Sommerabend. Sie stellte das Glas ab und wand ihre Aufmerksamkeit dem Teller zu.

      In der Mitte, mit geschmorten Zwiebeln und Apfelscheiben bedeckt, gebratene Leber. Im Dreieck darum, wie Rosenblätter dekoriert, Kartoffelstampf. In den Lücken dazwischen gedämpftes Gemüse. Sie schob die Zwiebeln beiseite und schnitt ein Stück der Leber ab. In der Mitte hatte helles Braun das Rosa gerade so verdrängt, außen dunkelbraun mit holzkohle- schwarzen Streifen. Die Kruste fühlte sich auf der Zunge hart an, gleichzeitig war das Stück zart und weich. Der erste Bissen vertrieb das leichte Raucharoma.

      »Mmmh«, entfuhr es ihr, »ist die gut!«

      Sie schnitt direkt ein zweites Stück ab, diesmal mit etwas Apfel, der ebenfalls gegrillt worden war - gerade so lange, dass die Scheibe nicht zerfiel. Im Mund schien sie sich direkt aufzulösen und ihr süßlich-säuerlicher Geschmack verband sich perfekt mit dem herb-trockenen der Leber. Sie schloss die Augen und schmeckte Kindheit. Fast konnte sie ihre Mutter riechen, diese spezielle Mischung aus Gebratenem, frisch gewaschener Wäsche und Cointreau. Die Leber ihrer Jugend hatte den Zähnen mehr Widerstand geboten. Kurz fühlte sie sich wie Gummi an, bevor sie zerfloss. Kein Vergleich zu diesem Genuss hier. Sie öffnete die Augen und

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