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Der unheimliche "Erste Diener des Staates". Walter Brendel
Читать онлайн.Название Der unheimliche "Erste Diener des Staates"
Год выпуска 0
isbn 9783754935156
Автор произведения Walter Brendel
Жанр Социология
Издательство Bookwire
***
Nun gut, das gibt Dorothea Selle zu, Könige haben ihre Launen. Auch mag es Friedrich als Despoten verdrossen haben, dass ihm Doktor Selle nicht von vornherein mit bedingungsloser Bewunderung entgegengetreten ist und dass er es bald darauf abgelehnt hat, Militärarzt zu werden und in Potsdam zu wohnen. Aber lächerlich ist doch, findet Dorothea, dass der König diesem Doktor Selle übelnimmt, glücklich verheiratet und Vater von drei gesunden Kindern zu sein! Und warum lässt der König seinen Doktor Selle, der ihm so gute ärztliche Dienste leistet, nicht in einer königlichen Kutsche abholen, wie jeden windigen Franzosen, der ihn besuchen will? I bewahre! Doktor Selle muss in der eigenen bescheidenen Kalesche nach Sans Souci fahren und auf diese Weise viele Stunden verlieren, die er sonst seinen anderen Patienten widmen könnte! Ernstlich übel aber nimmt es Dorothea dem König, dass es ihm zuwider ist, wenn ein Bürgerlicher auf wissenschaftlichem Gebiet etwas Besonderes leistet. Das hat nämlich Doktor Selle getan mit seinem „Ärztlichen Handbuch für die medizinische Praxis". Ist das Buch nicht sogar ins Französische übersetzt worden?
Ja, das sind so Dinge, die Dorothea am König auszusetzen hat. Und er selber, Selle, wie steht es mit ihm?
Je mehr sich der Wagen Potsdam nähert, umso nachdenklicher überprüft Selle seine Einschätzung des Königs. Immer ernster werden seine Gedanken, immer weiter wagt er sich mit seinen Überlegungen vor. Abstoßend findet er, dass Prinz Heinrich in seiner süffisanten Manier ihm kürzlich hin geplaudert hat: Seine Majestät der König verstehe von dem, was er unterschreibe, zwei Drittel überhaupt nicht mehr.
Selle ist zu gerecht und klug, um sich nicht zu sagen, dass ein alter, schwerkranker Mann einfach aus Alters- und Krankheitsgründen nicht mehr der Held sein kann, der er einst gewesen ist. Darf man es ihm ohne weiteres anrechnen, wenn er durch persönliches Unglück, Krankheit und übermäßige Arbeit seine Sinnesart und sein Gefühlsleben so verändert hat, dass er ein launischer, kleinlicher Charakter oder, wie Schöning vorsichtiger sagt, ein „ungemein satyrischer Mensch" geworden ist? Aber als junger König hat da Friedrich nicht ganz Hervorragendes geleistet? Hat er nicht gleich nach seiner Thronbesteigung verkündet: „In Meinen Staaten kann jeder nach seiner facon selig werden"?
Aber der König hat als junger Fürst ja auch noch ein anderes verfügt: „Gazetten, wenn sie interessant sein sollen, dürfen nicht genieret werden" und hat damit für Preußen die Pressefreiheit verkündet! Ach, diese scheinbare Pressefreiheit hat in Wahrheit nur ein halbes Jahr gedauert. Seit nunmehr vierzig Jahren besteht längst wieder das strenge Gebot, dass „in publicis nichts ohne höhere Erlaubnis gedruckt werden" darf. Und so scharf versieht der König die Zensur, und als solche Strafe betrachtet er den Dienst in seiner Armee, dass er vor sechs Jahren, Selle besinnt sich, über einen unvorsichtigen Freimütigen Kriegsdienst verhängt hat „wegen unbefugter Schriftstellerei, Aufwiegelung der Untertanen und dabei verwirkter grober Plackereien"!
Es ist bitter, jedoch Selle kommt immer wieder zu dem Schluss, dass des Königs freiheitliche und wohlgesinnte Äußerungen in krassem Widerspruch zu seinem Handeln stehen. War es nicht schon so mit dem „Antimacchiavell", den er als Kronprinz geschrieben und den er als König so bald und so schroff durch seine Taten widerlegt hat?
Der Kronprinz
Am 24. Januar 1712, einem Sonntag, wurde dem Kronprinzen in Preußen, Friedrich Wilhelm, ein Sohn geboren. Als die Nachricht eintraf, saß der Kronprinz gerade mit seinem Vater, dem damals in Brandenburg-Preußen regierenden König, Friedrich I., beim Mittagsmahl. Beide empfanden große Freude. Da die erstgeborenen Söhne Friedrich Wilhelms im Säuglingsalter gestorben waren, schien bis zu diesem Zeitpunkt die Erbfolge in der preußischen Monarchie nicht völlig gesichert. Der sehnlichst erwartete neue Erdenbürger, der einen Sonntag später den Namen seines Großvaters Friedrich erhielt, wurde mit Glockenläuten und Kanonenschüssen gefeiert. Auf diese Weise erfuhr Berlins Bevölkerung von der Geburt des Prinzen.
Die damals schon mit Mutterwitz und Schnoddrigkeit ausgestatteten Berliner hatten indes keinen Grund zu lauter Freude. Den Bürgern und Bauern in brandenburgisch-preußischen Landen ging es denkbar schlecht, und viele ihrer Kinder dürften im Gegensatz zum Prinzen mit großer Sorge auf dieser Welt empfangen worden sein. Die Berliner fürchteten einen erneuten Anlass für Prunk und Protz, die Zurschaustellung königlicher Würde. Auf die Prunksucht des Königs führten sie den Tod der ersten beiden Kinder Friedrich Wilhelms zurück. Die Neugeborenen, so munkelte man in Berlin, hätten das Salutschießen sowie die Last des schweren Seidenmantels und der Krone nicht vertragen. Sicher war das nicht der Grund für den frühen Tod der beiden Brüder Friedrichs. Die hohe Kindersterblichkeit der Zeit machte auch vor Fürstenthronen nicht halt. Trotzdem zeigt das Gerücht, was die Berliner über Friedrich I. dachten. Der jedoch hielt sich diesmal zurück. Am Abend der Geburt gab es kein Feuerwerk, wurde nicht illuminiert. Am preußischen Hof wurde neuerdings „gespart". Brandenburg-Preußen steckte 1712 in einer Krise.
Seit der Jahrhundertwende waren die europäischen Staaten in zwei große kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt. Im Westen und Süden Europas kämpfte Österreich, das mit den bürgerlichen Seemächten England und den Niederlanden verbündet war, mit Frankreich um das spanische Erbe. Im Osten und Norden widersetzten sich Dänemark, Polen-Sachsen und das emporstrebende Russland der schwedischen Vormachtstellung im Ostseeraum. Hinter dem Streit um die spanische Erbfolge, der noch vor dem Tode des letzten spanischen Königs aus dem Hause Habsburg begann, verbargen sich gewichtige Interessen der großen europäischen Mächte. Das absolutistische Frankreich, das nach dem Westfälischen Frieden zur Hegemonialmacht Europas geworden war und auch im Reich nach seinem Willen schaltete und waltete, sah seine Führungsposition gefährdet, sollte es zu einer Vereinigung des spanischen und österreichischen Besitzes der Habsburger kommen. England und die Niederlande aber fürchteten für ihren Kolonialhandel. Spanien war zu diesem Zeitpunkt nur noch nominell die größte Kolonialmacht Europas. Niederländische und englische Handelskapitalisten hatten Zug um Zug den gewinnbringenden Handel mit den überseeischen Kolonien Spaniens an sich gebracht und deren Ausplünderung in großem Stile organisiert. Diesem Handel drohte Gefahr, falls anstelle des schwachen Spanien das starke Frankreich die Kolonien in Besitz nehmen würde. Was wie ein Streit feudaler Herrscher um eine Erbfolge aussah, war in Wirklichkeit das Aufeinanderprallen zweier Welten. In Europa hatte seit dem Beginn des 16. Jh. die Ära des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus begonnen. Die aus den ersten siegreichen bürgerlichen Revolutionen in den Niederlanden und England hervorgegangenen Staatswesen bürgerlichen Typs kämpften mit der stärksten Feudalmacht Frankreich um die Hegemonie auf dem europäischen Kontinent und um die Ausbeutung der unterdrückten kolonialen Länder.
Brandenburg-Preußen war wie andere feudale Staaten in diese Auseinandersetzungen einbezogen. Es suchte als Juniorpartner Österreichs und der Seemächte sein Süppchen am europäischen Feuer zu kochen. Die Teilnahme am Spanischen Erbfolgekrieg und ein mit Polen-Sachsen abgeschlossener Geheimvertrag hatten dem brandenburgischen Kurfürsten 1701 die lang erwartete Königskrone gebracht. Auf Hilfstruppen aus Brandenburg-Preußen angewiesen, widersetzte sich der Kaiser nicht länger und stimmte der Ernennung des brandenburgischen Kurfürsten zum König in Preußen zu.
Dasselbe tat August II., Kurfürst von Sachsen und König von Polen, nachdem sich der Brandenburger verpflichtet hatte, in den zu erwartenden Auseinandersetzungen im Norden Europas nicht die Partei Schwedens zu ergreifen.
Friedrich I., der Großvater des jungen Friedrich, war eine schillernde Erscheinung. Körperlich klein und verwachsen, ein leicht reizbarer und schwacher Charakter, wollte er Macht vor allem durch äußere Repräsentation dokumentieren. Wenn Ludwig XIV., Frankreichs