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Der unheimliche "Erste Diener des Staates". Walter Brendel
Читать онлайн.Название Der unheimliche "Erste Diener des Staates"
Год выпуска 0
isbn 9783754935156
Автор произведения Walter Brendel
Жанр Социология
Издательство Bookwire
Warum also versuchte der König, Doris Ritter für etwas zu bestrafen, was er bei anderen guthieß? Weil sie dem Bürgertum entstammte und die Liebe gefälligst keine Standesgrenzen zu überschreiten hatte?
Niemand unter den Zeitgenossen hat Doris ernsthaft als Friedrichs Mätresse bezeichnet, auch Wilhelmine von Bayreuth nicht. In ihren Memoiren zitiert sie lediglich eine Hofdame namens Ramen, die als gehässig bekannt war und, um sich an Wilhelmines Unglück zu weiden, die Folgen aufzählte, die Friedrichs Flucht nach sich zog, unter anderem: „... eine Mätresse des Kronprinzen soll zu Potsdam vom Henker ausgepeitscht werden ...“ - Karl Ludwig Freiherr von Pöllnitz, Kammerherr Friedrichs II., schrieb in seinen Memoiren: „Man glaubte von ihr, sie habe genaueren Umgang mit ihm [= Friedrich] gehabt“.
Im Verhör berichtete Doris Ritter, wie sich die Bekanntschaft mit dem Kronprinzen entwickelt hatte, wobei sie sich auffällig darum bemühte, ihren Vater möglichst aus der Sache heraus zu halten. Sie fürchtete wohl nicht zu Unrecht, er würde ihretwegen seine Stelle verlieren. Außerdem zählte sie gewissenhaft auf, welche Geschenke Friedrich ihr gemacht hatte und gab an, nichts, was ihm gehöre, in ihrer Wohnung aufzubewahren.
Ihre Behauptungen erwiesen sich bei einer sofort danach durchgeführten Hausdurchsuchung als wahr. Falls Doris verdächtigt worden war, kompromittierende Briefe zu besitzen oder bei den Vorbereitungen zu Friedrichs Flucht geholfen zu haben, so wurde ihre Unschuld klar bewiesen.
Auspeitschung einer Frau (hier: einer ledigen Mutter). Kupferstich von Daniel Chodowiecki (1726 — 1801)
Die Eltern beteuerten, dass der Umgang des Prinzen mit ihrer Tochter „nichts Ungeziehmendes“ an sich gehabt habe und baten darum, dass Doris nun freigelassen oder wenigstens in der eigenen Wohnung unter Arrest gestellt werde.
Auch nach den Maßstäben der Zeit hatte Doris Ritter nichts Unrechtes getan. Umso unbegreiflicher erschien das Urteil, das der König - ohne jegliches Gerichtsverfahren - höchstselbst fällte:
„S.K.M. befehlen dem Hof-Rat Klinte, daß er morgen die in Arrest allhier sitzende Kantors Tochter soll auspeitschen laßen, und soll dieselbe alsdenn ewig nach Spandow in das Spinn-Haus gebracht werden. Erstlich soll dieselbe vor dem Rat-Hause gepeitschet werden, hernach vor des Vaters Hause, und denn auf allen Ecken der Stadt.“ (Kabinetts-Order vom 6.9. 1730)
Matthias Ritter setzte alle Hebel in Bewegung, um seiner Tochter zu helfen. Sein Vorgesetzter Schultze, Prediger von Sl. Nikolai, hatte Verbindungen zum Hof, die sofort genutzt wurden. Der Potsdamer Amtshauptmann Hans Christoph Friedrich Graf von Ha(a)cke, der Kronprinz Friedrich später noch öfter Geld leihen sollte, wurde eingeschaltet, doch alles war umsonst. Der König blieb hart.
So wurde denn Dorothea Elisabeth Ritter, 16 Jahre alt, am Morgen des 7. September 1730 aus ihrer Zelle geholt und vor dem Rathaus ausgepeitscht, anschließend vor der elterlichen Wohnung auf der anderen Seite des Marktplatzes. Noch vier weitere Male wurde das Mädchen dieser Tortur unterworfen („alle Ecken der Stadt“), bis sie halb tot ins Spinnhaus nach Spandau eingeliefert wurde.
Es wäre zu einfach, in König Friedrich Wilhelm lediglich einen prügelfreudigen Psychopathen zu sehen. Er bemühte selbst schriftlich die „Gerechtigkeit“, die nicht aus der Welt kommen dürfe, als er nach dem Katte-Prozess das Urteil des Militärgerichts („lebenslange Festungshaft“) in ein Todesurteil verschärfte. Wir können also Vermutungen anstellen, was ihn zu seiner Handlungsweise bewog.
1) Die Tatsache, dass eine Angehörige des Bürgerstandes vertraulichen Umgang mit dem Erben Preußens pflegte.
2) Der Musikunterricht bzw. das gemeinsame Konzertieren, das der König als „weibisch und verweichlichend“ ansah und wodurch seine Anweisungen hintergangen wurden.
3) Friedrich Wilhelm, ohnehin kein Freund der Intellektuellen, verachtete besonders gebildete Frauen, zu denen Doris ja zählte. Schon mit seiner Mutter Sophie Charlotte, die mit Leibniz diskutierte, hatte ihn eine Art Hassliebe verbunden.
Voltaire erwähnt in seinen Memoiren ein interessantes Detail: der Vater habe das Mädchen „unter den Augen seines Sohnes“ auspeitschen lassen; erst danach habe man Friedrich (der zuvor in Mittenwalde arretiert saß) in die Zitadelle von Küstrin überführt. Diese Angabe wird durch keinerlei andere Quellen bestätigt, doch würde es zum sonstigen Verhalten des „Soldatenkönigs“ passen. Schließlich musste der Kronprinz nach Weisung des Vaters bald darauf auch der Hinrichtung seines besten Freundes Kalte zusehen. Möglicherweise hat Friedrich zwischen 1750 und 1753, als Voltaire an seinem Hof lebte, dem Literaten dies wie auch andere Einzelheiten anvertraut, jedenfalls zeigt sich Voltaire erstaunlich gut über Doris Ritters Person informiert.
Leutnant von Ingersleben wurde mit drei Monaten Festungshaft bestraft, weil er den Kronprinzen zur „Unterredung mit des Rectoris Tochter“ noch ermuntert habe und Geschenke Friedrichs überbracht, wo er doch hätte wissen müssen, dass dies dem Willen Seiner Majestät absolut zuwider laufe. Ob Generalauditeur Mylius, der Ingersleben verhörte, daran dachte, dass seine eigene Ehefrau Doris Ritters Taufpatin war?
Die Familie Ritter musste Potsdam fluchtartig verlassen. Am 9.9.1730 wurde der Vater aus seinem Amt entlassen und man verlor keine Zeit, in Halle beim Sohn des 1727 verstorbenen A. W. Francke eine Empfehlung für einen Nachfolger einzuholen. Währenddessen verließen die Ritters preußisches Hoheitsgebiet und begaben sich in das Herzogtum Mecklenburg-Strelitz. Dort fanden sie Unterkunft in der Stadt Neubrandenburg. 1735 bekam Vater Matthias endlich eine Stelle als Pastor an der Marienkirche.
Im Jahr 1686 ließ der Große Kurfürst zu Spandau im ehemaligen Stadtpalais des Grafen Rochus Guerini zu Lymar ein Zuchthaus einrichten. Es lag zwischen Kloster- und Jüdenstraße und besaß eine angegliederte Manufaktur samt Spinnerei. In der Gründungsurkunde war deren Zweck genau beschrieben: mit Hilfe billiger Arbeitskräfte sollte die brandenburgisch-preußische Textilindustrie konkurrenzfähig gemacht werden. Prostituierte, begnadigte Mörderinnen, aufsässige Dienstmägde, aufgegriffene Bettlerinnen und Landstreicherinnen - sie alle waren hier eingesperrt und mussten täglich 10 bis 13 Stunden arbeiten. Während die männlichen Insassen bei verschiedenen Tätigkeiten angelernt wurden, durften die weiblichen sich lediglich dem Spinnrad widmen und hatten am Tag eine festgesetzte Menge Wolle zu verarbeiten. So entstanden Uniformen, Fahnen und Tücher für die Armee des „Soldatenkönigs“.
Für die meisten Frauen gab es keine bestimmte Strafdauer. Die Aufseher entschieden, wann „eine bessere Arbeitsmoral erzielt“ worden war, worauf die Freilassung erfolgte. Mit einer solchen Vergünstigung konnte Doris Ritter nicht rechnen, war sie doch „auf ewig“ gefangen. Mit Sicherheit hat sie ihre Namensschwester und Mithäftling Dorothea Steffin kennen gelernt, eine 22jährige geisteskranke Müllertochter, die seit 1728 als Opfer des letzten Berliner Hexenprozesses im Spinnhaus einsaß.
Aufgegriffene Bettlerinnen und Prostituierte waren Doris Ritters Gefährtinnen bei der Zwangsarbeit in Spandauer Spinnhaus. Kupferstich aus der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts
Wie hat Doris Ritter diese Situation bewältigt? Welche Hoffnung konnte sie schöpfen, wie überstand sie die kommenden Jahre?
Zum einen half ihr sicherlich der christliche Glaube, in dem sie aufgewachsen und der in ihrer Familie schon immer praktiziert worden war. Zum anderen wird Doris auf den Tod des - äußerst ungesund lebenden - „Soldatenkönigs“ gehofft haben. Prinz Friedrich würde sie befreien ...
Ob sie erfuhr, was sich außerhalb der Spandauer Mauern tatsächlich abspielte? Der Thronfolger brauchte selbst Hilfe. Ihm und seinem Freund Katte wurde vor einem Militärgericht der Prozess gemacht. Noch ein Jahr hatte er dann in Küstrin zu verbringen und ein Praktikum als Volkswirt zu absolvieren. Die Heirat mit seiner Cousine Amelia wurde ein für alle Mal verworfen und stattdessen eine Verbindung mit dem Hause Braunschweig ins Auge gefasst. Friedrich fügte sich, denn er merkte, dass er sich nur durch äußerliche Unterwerfung und die vom Vater angeordnete Eheschließung eine gewisse Freiheit erkaufen konnte.
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