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Schamhaftigkeit wahren sollte. Die Naivität ist manchmal recht pfiffig!

      Ein klares Gesicht, ein feines Profil, tiefblaue Augen, breite Augenlider, kleine stark geschweifte Füße, schön eingefügte Hand- und Fußgelenke, eine sehr weiße, von den blauen Verzweigungen der Adern durchschimmerte Haut, kindlich frische Wangen, ein Hals kräftig, wie der einer äginetischen Juno, ein starker geschmeidiger Nacken, Schultern, die wie von einem Coustou gemodelt schienen, mit einem reizenden, durch den Mousselin sichtbaren Grübchen; dies waren Fantinens statuenhafte Reize, denen ein Gemisch von Fröhlichkeit und Ernst Leben verlieh.

      Ihrer Schönheit war sich Fantine nicht allzu sehr bewußt. Jene wenigen Idealisten, die nur die Vollkommenheit als schön anerkennen, hätten in dieser graziösen Pariserin die heilige Euphonie der Alten vermuthet. Diese Tochter des Volkes hatte Rasse. Ihre Schönheit besaß sowohl Stil wie Rhyrmus, der Form des Ideals und seine Bewegung.

      Wir haben gesagt, Fantine war die personifizirte Freude, aber sie zeichnete sich nicht minder durch Schamhaftigkeit aus.

      Einem aufmerksamen Beobachter wäre es nicht entgangen, daß trotz der Lebens- und Liebeslust, die aus allen ihren Zügen sprach, Sittsamkeit der Hauptzug ihres Wesens war. Es lag auf ihrem Gesichtchen jene Art Verwunderung die eine Psyche von der Venus unterscheidet. Fantinens lange, weiße und feine Finger erinnerten an die der keuschen Befralin, die mit goldner Nadel die Asche des heiligen Feuers durchforscht. Obgleich sie Tholomyés nichts versagt hatte, war ihr Gesicht ein durchaus jungfräuliches geblieben; bisweilen nahm es sogar einen Ausdruck von Ernsthaftigkeit, ja Herbheit an, der oft unvermittelt den des Frohsinns ablöste. Ihre Stirn, ihre Nase und ihr Kinn boten auch jene Harmonie der Linie dar, die mit der Harmonie der Proportion keineswegs zusammenfällt, und aus der sich die ästhetische Wirkung des Gesichts ergiebt; in dem charakteristischen Zwischenraum, der die Basis der Nase von der Oberlippe trennt, lag jene kaum merkliche und reizende Falte, die ein Kennzeichen der Keuschheit ist, und die Barbarossa an einer unter den Trümmer von Ikonium gefundenen Dianastatue so sehr bewunderte.

      Allerdings ist die Liebe ein Vergehen; aber Fantine besaß noch eine Unschuld nach ihrem Fehltritt.

      IV. Tholomyés singt vor Freude ein spanisches Lied

      Der ganze Tag, war von Anfang bis zu Ende fröhlich wie eine schöne Morgenröthe. Die ganze Natur schien ein Festgewand angelegt zu haben. Die Beete in Saint-Cloud athmeten süße Wohlgerüche aus; von der Seine stieg ein kühler Hauch empor; die Zweige gestikulierten im Winde; die Bienen plünderten die Jasminblüthen; das Bummlervölkchen der Schmetterlinge ließ sich auf die Schafgarbe, den Klee und den Taubhafer nieder, und in dem majestätischen Park des Königs von Frankreich trieb sich ein Haufe Vagabunden herum, die Vögel.

      Unsere vier Paare freuten sich mit unermeßlichem Behagen des Sonnenscheins, des lieblichen Anblicks der Felder, Blumen und Bäume.

      Und Angesichts des paradiesischen Kommunismus, den sie überall in der Natur sahen, konnten auch die Schönen nicht so grausam sein, nur das strenge Recht walten zu lassen und zwischen ihren Liebhabern und deren Freunden einen genauen Unterschied zu machen. Sie ließen sich Alle von Allen küssen, ausgenommen Fantine, die wahrhaft liebte und sich spröde verhielt. Ihr sinniges Wesen verdroß Favourite: »Du siehst immer absonderlich aus!« spöttelte sie.

      Nach dem Frühstück sahen sich die vier Paare eine vor kürzer Zeit aus Indien bezogne Pflanze an, die zu jener Zeit ganze Schaaren von Parisern nach Saint-Cloud zog, ein sonderbares und reizendes Bäumchen, dessen unzählige und verworrene, überaus feine blätterlose Aestchen mit tausenden von weißen Röschen bedeckt waren.

      Nach pflichtschuldiger Bewunderung des allerliebsten Gewächses riet Tholomyés: »Wie wär's Kinder, wenn wir uns einen Eselritt genehmigten? Ich poniere.« Sie mietheten also einen Eseltreiber und kehren über Vanves und Issy zurück. In letzterem Ort schaukelten die Herren mit starken Armen ihre Schönen in dem großen Netz, das zwischen den zwei, von dem Abt de Bernis besungenen Kastanienbäumen ausgespannt ist. Während die Kleider malerisch im Winde flogen, sang Tholomyès, der als Toulousaner – Toulouse ist mit Tolosa verwandt – sich spanisch aufgelegt fühlte, ein zur Situation passendes spanisches Lied:

      Soy de Badajoz.

      Amor me blama

      Coda mi alma

      Es en mis ojos

      Ovequé ensennas

      A' tus piernos

      Nur Fantine wollte sich nicht schaukeln lassen, und wieder zankte Favourite: »Was das für eine Ziererei ist!«

      Nach dem Ritt abermals ein großartiges Amüsement: Eine Kahnfahrt auf der Seine. Dann ging es zu Fuß von Passy nach der Barriere de l'Etoile. Trotzdem sie seit fünf Uhr Morgens auf den Beinen waren, begann hier das Vergnügen noch einmal. »Sonntag giebt's keine Müdigkeit!« predigte Favourite, und um drei Uhr saßen die vier Paare in einem Wagen der Rutschbahn, die damals auf dem Hügel Beaujon stand, und deren Schlangenlinie die Bäume der Champs-Elysées überragte.

      Trotz alledem fand Favourite, daß man nie glücklich genug sein kann. »Wie steht's mit der Ueberraschung?« forschte sie von Zeit zu Zeit. »Geduld!« antwortete Tholomyès.

      V. Bei Bombarda

      Nachdem sie die Rutschbahn gründlich ausgekostet, stellte sich endlich Müdigkeit und Hunger ein und so fielen sie bei Bombarda hinein, dem berühmten Restaurateur in den Champs-Elysées, der auch in der Rue de Rivoli ein Lokal hatte.

      Ein großes, aber häßliches Zimmer mit Alkoven und Bett im Hintergrunde (denn da das Restaurant überfüllt war, stand kein anderer Raum zur Verfügung); zwei Fenster, von denen aus man durch die Ulmen eine Aussicht auf den Fluß und das Ufer hatte; eine herrliche Augustsonne, deren Strahlen das Zimmer überflutheten; zwei Tische, auf dem einen ein stolzer Berg von Blumensträußen, Mannes- und Frauenhüten, auf dem andern ein lustiger Wirrwarr von Schüsseln, Tellern, Gläsern und Flaschen; wenig Ordnung auf diesem Tisch und einige Unordnung darunter: Dies war das Stadium, wo gegen halb fünf des Nachmittags unsere um fünf Uhr Morgens begonnene Idylle angelangt war. – Die Sonne neigte sich allmählig ihrem Untergange zu, und ebenso endlich auch der Appetit unserer jungen Freunde.

      Die Champs-Elysées, vom Sonnenschein und von Menschenmengen durchwogt, waren voller Licht und Staub, der beiden Elemente des Ruhmes. Die marmornen Pferdestatuen von Marly, die zu wiehern scheinen, prangten in goldigem Glanze. Equipagen fuhren hin und her. Eine Schwadron prächtiger Gardes du Corps, mit den Hornisten voran ritt die Avenue de Neuilly herunter; auf der Kuppel der Tuilerien wehte, von der niedergehenden Sonne rosig gefärbt, die weiße Fahne. Die Place de la Concorde, die damals ihren alten Namen die Place Louis XV. wieder angenommen hatte, war mit frohen Spaziergängern überfüllt. Viele von ihnen trugen die silberne Lilie an dem moirierten weißen Bande, das 1817 noch nicht ganz aus den Knopflöchern verschwunden war. Mitten unter dem Publikum, das ihnen fleißig applaudirte, sah man kleine Mädchen, welche, die Hände zum Reigen verschlungen, ein damals beliebtes, zur Niederschmetterung der Anhänger Napoleons bestimmtes Lied sangen. »Gebt uns unsern Vater wieder!« lautete der Refrain.

      Leute aus den Arbeitervierteln, von denen manche nach dem Beispiel des feineren Publikums das Abzeichen der Bourbonen, die Lilien, trugen, hatten sich gleichfalls hier eingefunden; sie ritten Karussel und stachen nach den Ringen; andere saßen vor den Schänken und zechten; manche – es waren Druckerlehrlinge – stolzierten mit Papiermützen auf dem Kopfe einher und waren seelensvergnügt. Alles athmete Frohsinn. Es war eine friedfertige Zeit, wo die Bourbonen sich in Sicherheit wiegen konnten, wo ein spezieller Bericht des Polizeipräfekten Anglès an den König über die Bevölkerung der Vorstädte mit folgenden Zeilen schl0ß: »Alles wohl erwogen, Majestät, ist von diesen Leuten nichts zu befürchten. Sie sind sorglos und indolent wie Katzen. Das gemeine Volk in den Provinzen ist unruhig, die Pariser nicht. Es sind alles Leute von kleiner Statur. Zwei von ihnen, auf einander gestellt, gehören dazu, um die Länge eines Grenadiers zu erreichen. Denn merkwürdiger Weise hat die Natur des pariser Volks seit einem halben Jahrhundert abgenommen. Kurz, die Pariser der

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