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Straßenthür ist Tag und Nacht nur zugeklinkt.«

      Und zu den Gendarmen gewendet, sagte er:

      »Meine Herren, ich halte Sie nicht länger auf.«

      Die Gendarmen entfernten sich.

      Jean Valjean stand da wie Einer, der im Begriff ist ohnmächtig zu werden.

      Der Bischof trat nahe an ihn heran und sprach leise: »Vergessen Sie nicht, vergessen Sie niemals, daß Sie mir versprochen haben, Sie wollten das Geld dazu gebrauchen, ein ehrlicher Mann zu werden.«

      Jean Valjean, der sich nicht entsann, irgend ein Versprechen gegeben zu haben, fand kein Wort der Erwiedrung. Der Bischof hatte mit Nachdruck gesprochen. Er fuhr jetzt in feierlichem Tone fort.

      »Lieber Bruder Jean Valjean, Sie gehören nicht mehr dem Geist des Bösen, sondern des Guten. Ich kaufe Ihnen hiermit Ihre Seele ab, entziehe sie den schlimmen Gedanken und weihe sie Gott.«

      XIII. Der kleine Gervais

      Jean Valjean eilte aus der Stadt hinaus, als hätte er Verfolger auf den Fersen, ins Freie, auf den Wegen und Pfaden, die sich ihm gerade darboten, ohne zu merken, daß er jeden Augenblick eine Strecke wieder zurückging. So irrte er den ganzen Vormittag umher, ohne zu essen und Hunger zu fühlen. Eine Menge neuer Empfindungen erhielten ihn in der heftigsten seelischen Aufregung. Er empfand zunächst eine Art Aerger, ohne zu wissen gegen wen. Auch hätte er nicht angeben können, ob er gerührt sei oder sich gedemüthigt fühle. Hin und wieder überkam ihn eine weichere Stimmung, gegen die er indeß ankämpfte mit seiner im Laufe von neunzehn Jahren zur Gewohnheit gewordnen Herzenshärte. Die Festigkeit der Ueberzeugungen, die Unglück und Ungerechtigkeit in ihm gezeitigt hatten, und seine finstre Entschlossenheit zum Bösen war erschüttert, und er fragte sich, wie er sie stützen werde. Manchmal wünschte er, die Gendarmen hätten ihn wieder ins Zuchthaus abgeführt, und daß es anders gekommen wäre; das hätte ihn nicht so erregt. Außerdem quälten ihn noch Erinnerungen an seine Kindheit, die durch den Anblick der Herbstblumen in den Hecken in ihm geweckt wurden. Wie lange war es her, daß er an diese Zeit nicht mehr gedacht hatte!

      So häuften sich in seinem Geiste den ganzen Tag über unsäglich viele, ihm unverständliche Gefühle und Gedanken.

      Als die Sonne zur Rüste ging, und schon die windzigsten Steinchen lange Schatten warfen, saß Jean Valjean hinter einem Strauch auf einer großen, öden Ebene. Am Horizont sah man nur die Alpen. Weit und breit nicht einmal ein Kirchthurm. Jean Valjean mochte ungefähr zwölf Kilometer von Digne entfernt sein. Einige Schritte von dem Strauch, wo er saß, war ein Fußsteig, der die Ebene durchquerte.

      Während er hier sich mit seinen bösen Gedanken herumschlug, hörte er plötzlich fröhlichen Gesang.

      Den Pfad entlang kam ein etwa zehnjähriger Knabe, ein Savoyarde mit dem üblichen Leierkasten und Murmelthier, einer von jenen gutmüthigen und vergnügten Jungen, die in zerlumptem Aufzuge von Land zu Land wandern.

      Während er sang, unterbrach der Kleine von Zeit zu Zeit seinen Marsch und spielte Knöchelchen mit einigen Geldstücken, die wahrscheinlich sein ganzes Vermögen ausmachten. Darunter befand sich auch ein Zweifrankenstück.

      Der Kleine blieb, ohne Jean Valjean zu bemerken, neben dem Strauch stehen und warf die Geldstücke, die er bisher immer sehr geschickt mit dem Rücken der Hand gefangen hatte, wieder in die Höhe.

      Aber dies Mal entwischte ihm das Zweifrankenstück und rollte bis zu der Stelle hin, wo Jean Valjean saß. Dieser setzte den Fuß darauf.

      Indessen war der Kleine dem Geldstück mit dem Blicke gefolgt und hatte ihn bemerkt.

      Er that nicht verwundert und ging gerade auf ihn zu.

      Es war eine vollständig menschenleere Gegend. So weit die Blicke reichten, weder in der Ebene noch auf dem Pfade war Jemand zu sehen. Man hörte nur das schwache Geschrei einer Schaar Zugvögel, die hoch oben am Himmel vorüberzogen. Der Kleine stand da, den Rücken der Sonne zugewendet, die sein Haar goldig durchflutete und Jean Valjeans grimmiges Gesicht blutroth bestrahlte.

      Mit der aus Unkenntnis der Menschen und Unschuld zusammengesetzten Vertrauensseligkeit der Kindheit bat der Savoyarde: »Bitte um mein Zweifrankenstück.«

      »Wie heißt Du?« fragte Jean Valjean.

      »Der kleine Gervais.«

      »Mach, daß Du fortkommst!«

      »Geben Sie mir mein Zweifrankenstück wieder.«

      Jean Valjean senkte den Kopf und antwortete nicht.

      Der Kleine fing wieder an:

      »Mein Zweifrankenstückl«

      Jean Valjeans Augen blieben zur Erde gesenkt.

      »Mein Zweifrankenstückl Mein Geld! Mein Geld!« schrie der Junge wieder.

      Es war, als hörte Jean Valjean nicht. Der Kleine packte ihn am Kragen, schüttelte ihn und quälte sich, den groben, eisenbeschlagnen Schuh, der auf sein Geldstück drückte, wegzuschieben.

      »Ich will mein Geld wiederhaben!«

      Der Kleine weinte. Da hob Jean Valjean den Kopf wieder empor, blieb aber sitzen. Seine Augen waren trübe. Er betrachtete den Knaben mit einer Art Verwundrung, griff nach seinem Stock und schrie mit fürchterlicher Stimme: »Wer ist da?«

      »Ich!« antwortete der Kleine. »Ich, der kleine Gervais. Ich! Ich! Bitte, geben Sie mir mein Zweifrankenstück wieder! Bitte, nehmen Sie Ihren Fuß weg!«

      Jetzt gerieth der kleine Kerl in Wuth und drohte beinahe:

      »Werden Sie bald Ihren Fuß wegnehmen? Vorwärts! Den Fuß weg!«

      »Was! schrie jetzt Jean Valjean und stand plötzlich auf. Bist Du immer noch da? Willst Du wohl machen, daß Du fortkommst?«

      Erschrocken sah der Knabe ihn an, fing an am ganzen Leibe zu zittern und rannte dann, nachdem er einige Sekunden wie angedonnert da gestanden, aus Leibeskräften davon, ohne sich umzuwenden oder einen Schrei auszustoßen.

      Als er aber eine Strecke gelaufen war, zwang ihn die Ermüdung langsamer zu gehen, und Jean Valjean, obschon wieder in Grübeleien versunken, hörte ihn schluchzen.

      Nach einigen Minuten war der Kleine verschwunden.

      Unterdessen war die Sonne untergegangen, und es dunkelte. Jean Valjean hatte den ganzen Tag nichts gegessen; wahrscheinlich hatte er das Fieber.

      Er hatte sich, seitdem der Knabe davon gerannt war, nicht vom Flecke gerührt. Sein Athem ging langsam und ungleich. Seine Augen waren tiefsinnig auf eine blaue Scherbe gerichtet, die zehn bis zwölf Schritte von ihm, im Grase lag. Plötzlich schauerte er zusammen; die Abendkälte hatte sich ihm bemerklich gemacht.

      Er drückte die Mütze wieder auf seine Stirn, machte eine mechanische Bewegung, um seinen Kittel zuzuknöpfen, trat einen Schritt vor und bückte sich, um seinen Stock von der Erde aufzuheben.

      In diesem Augenblick gewahrte er das Zweifrankenstück, das sein Fuß halb in die Erde hineingetreten, und das unter den Kieseln hervorglänzte.

      Der Anblick wirkte auf ihn wie ein elektrischer Schlag. – »Was ist denn das?« stieß er zwischen den Zähnen hervor, fuhr drei Schritte zurück, blieb dann stehen und konnte seinen Blick nicht losmachen von jenem Punkte, auf dem sein Fuß so eben geruht hatte, als wenn das Ding, das da in der Dunkelheit glänzte, ein auf ihn geheftetes Auge gewesen wäre.

      Nach einigen Minuten stürzte er sich konvulsivisch auf das Geldstück, raffte es auf, richtete sich rasch empor und schaute sich nach allen Seiten in der Ebene um, mit wilden Blicken, wie ein geängstigtes Reh, das einen Zufluchtsort sucht.

      Aber er sah nichts. Die Nacht rückte näher, und auf der kalten, wüsten Ebene stiegen im fahlen Dämmerlicht violette Dünste empor.

      »Ach!« rief er, eilte auf und davon, in der Richtung, wo der kleine Savoyarde seinen Blicken entschwunden war. Nach

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