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Systemische Epimedizin als Grundidee für ein umfassendes, interdisziplinäres, systemisches Medizinkonzept vorgeschlagen.

      Dieses Konzept wird in TEIL 1 skizziert und in späteren Kapiteln vertieft.

      Kapitel 1 Jedes Zeitalter hat seine Erkrankungen

      Moderne Lebensbedingungen

      Mit Beginn der Industrialisierung hat sich unsere Lebenswelt umfassend verändert. Industrialisierung, Globalisierung und Digitalisierung sind Schlagworte, die uns allerorten begegnen. Noch nie unterschied sich die Art und Weise zu leben innerhalb weniger Generationen so grundsätzlich wie heute. Wir erleben seit etwa 100 Jahren zunehmend an einem einzigen Tag so viele Reize, wie sie ein „vorindustrieller“ Mensch in einer Woche oder gar in einem Monat erlebt hat: Hektik, Mobbing, Lärm, visuelle, auditive und/oder digitale Reizüberflutung. Dazu kommen Umweltschadstoffe und neue Arten elektromagnetischer Strahlung.

Wir leben heute nicht nur grundlegend anders als unsere nahen Vorfahren – unsere Lebensweise unterscheidet sich auch fundamental von allen Lebensformen der bisherigen Menschheitsgeschichte. Wir sind Zeitzeugen eines radikalen Wandels ohne historisches Vorbild. Wir werden sehen, dass gerade dieser Sachverhalt uns blind macht für die Risiken, die damit verbunden sind.

      Unsere Ururgroßeltern wären hoffnungslos überfordert durch Autoverkehr, Medien und durch den allgegenwärtigen Stress. Sie würden staunen:

       Über Regale voller Halbfertig- und Fertigprodukte, die Konservierungsmittel, Geschmackstoffe, künstliche Aromen und/oder Geschmacksverstärker enthalten.

       Unsere Vorfahren würden hilflos einer visuellen, sensorischen und auditiven Informationsflut gegenüberstehen und müssten sich ständig entscheiden: Welches der 30 Shampoos ist das Richtige? Facebook oder Instagram? Elektroauto oder Diesel?

       Nicht wahrnehmen könnten die Ururgroßeltern z. B. den Feinstaub und die Pestizide oder die ca. fünf Gramm Mikroplastik-Partikel, die wir heute pro Woche aufnehmen (WWF-Studie 2019) – das entspricht dem Gewicht einer Kreditkarte. Auch die kannten unsere Vorfahren nicht.

      Diese Liste lässt sich nahezu unendlich verlängern.

      Veränderte Umwelt – veränderte Erkrankungen

      Bei nüchterner Betrachtung muss man konstatieren: Die moderne Lebensweise hat eine Ereignisdichte und Reizintensität erreicht, die eine Zumutung für den Organismus darstellt. Das Gleichgewicht zwischen der Fülle an Reizen und unseren körperlichen und seelischen Antworten ist nachhaltig gestört, wir betreiben tagtäglich Raubbau an unseren Ressourcen. Das Gehirn als das primär stresswahrnehmende Organ wird besonders herausgefordert.

      Nicht nur chronisch-entzündliche Erkrankungen nehmen zu, auch die Zahl psychischer und neuro-degenerativer Erkrankungen steigt bedrohlich an.

Unser Immunsystem ist „gutmütig“ und einsatzfreudig, wird aber überflutet mit einem Trommelfeuer an Reizen. Die übergreifenden Regulations-Systeme – das Immun-, das Hormon- und das Nervensystem – sowie deren Subsysteme reagieren sensitiv auf diese Einflüsse und sind daher vulnerabel.

      Klimawandel und Gesundheit

      Kurz vor Veröffentlichung dieses Buches führte Starkregen zu Hochwasserkatastrophen, nicht nur in mehreren Regionen Deutschlands, sondern auch in weiteren Ländern. In Griechenland und in der Türkei hingegen ist es derzeit so trocken, dass die Feuerwehren die Waldbrände kaum mehr löschen können. Damit wird zunehmend real, wovor Klimaforscher schon so lange warnen.

      Die Erderwärmung entsteht vor allem durch die Verbrennung fossiler Energien wie Braunkohle, Steinkohle und Erdöl, die zu einem CO2 Ausstoß führt. CO2 ist keine neuartige Substanz, aber die Verdoppelung des Anteils in der schützenden Atmosphäre, die die Erde umgibt, trägt zum Treibhauseffekt bei.

      „Der Klimawandel ist die größte globale Gesundheitsbedrohung des 21. Jahrhunderts.“

      fasste Richard Horton, Chefredakteur des renommierten Wissenschaftsmagazins The Lancet schon 2009 in einem Kommentar die zentrale Aussage eines Berichts zusammen, den das University College London/UCL in Kooperation mit dem Lancet herausgebracht hatte und der sich mit den gesundheitlichen Folgen der Erderwärmung befasste. 1/1 The Lancet

      Der Weltärztebund rief im Oktober 2017 in seiner Declaration On Health and Climate Change die nationalen Ärzteverbände dazu auf, Klimawandel und Gesundheit als prioritäre Aufgabe auf ihre Agenda zu setzen. 1/2 Weltärztebund

      Die Hitzeperioden dauern auch in Deutschland mittlerweile länger an und sind intensiver, das stellt eine zusätzliche Belastung insbesondere für vorerkrankte Menschen dar und kann zu hitzebedingter Sterblichkeit führen. The 2020 report of The Lancet Countdown on health and climate change: responding to converging crises lautete der Titel einer Lancet-Berichtes, der rund 20.200 Todesfälle bei über 65-Jährigen im Jahr 2018 in Deutschland errechnet hatte, die im Zusammenhang mit Hitze standen. 1/3 Watts et al. Ist die Haut wiederholt ultravioletten Strahlen/UV-Licht ausgesetzt, erhöht sich zudem auch das Risiko für weißen und schwarzen Hautkrebs.

      Das Bundesumweltamt informiert über weitere klimabedingte Auswirkungen auf unsere Gesundheit:

      „Der Klimawandel kann zukünftig zu einer Zunahme weiterer Extremwettererscheinungen mit direkter, potentieller Gesundheitsbedeutung führen, worunter z. B. vor allem die Auswirkungen von Stürmen und Orkanen, sowie Hochwasser/Überschwemmungen bedingt durch Stark- oder Dauerregen zählen. Die hierdurch ausgelösten gesundheitlichen Auswirkungen können nicht nur physischer Art sein, wie z. B. Infektionen, Verletzungen oder im Extremfall auch Todesfälle, sondern auch psychische Belastungen wie Stress, Angstzustände, Traumata und Depressionen verursachen.

      Indirekte gesundheitliche Auswirkungen und Risiken treten durch nachteilig veränderte Umweltbedingungen als Folge der Klimaänderungen auf. Hierzu gehören u.a. die Beeinträchtigung der Qualität und Quantität von Trinkwasser und Lebensmitteln, das veränderte bzw. verlängerte Auftreten biologischer Allergene (zum Beispiel Pollen) sowie von tierischen Krankheitsüberträgern, sogenannten Vektoren, wie Zecken oder Stechmücken. 1/4 Umweltbundesamt

      Der Arzt und Kabarettist Eckart von Hirschhausen engagiert sich seit 2018 für eine medizinisch und wissenschaftlich fundierte Klimapolitik. Er ist Mitbegründer von Scientists for Future und Unterstützer der Deutschen Allianz Klimawandel und Gesundheit/KLUG. Er fasst treffend zusammen:

      „Wir müssen nicht ,das Klima‘ retten – sondern uns.“

⇒ Weitere InformationenDeutsche Allianz Klimawandel und Gesundheit e.V./KLUG„Die Deutsche Allianz Klimawandel und Gesundheit e.V. /KLUG ist ein Netzwerk von Einzelpersonen, Organisationen und Verbänden aus dem gesamten Gesundheitsbereich, deren Ziel es ist, deutlich zu machen, welche weitreichenden Folgen die Klimakrise auf die Gesundheit hat. 1/5 KLUG

      1.1 Nichtübertragbare (Zivilisations-)Erkrankungen/NCDs

      Typhus, Diphtherie und Tuberkulose – die Erkrankungen unserer Vorfahren traten akut und virulent auf. Das Krankheitsspektrum hat sich verändert, heute überwiegen Chronische (Zivilisations-)Erkrankungen. Im Gegensatz zu den Infektions-Erkrankungen gelten diese Erkrankungen als nicht übertragbar. Diese im Laufe des Lebens erworbenen, nicht durch „Ansteckung“ übertragbaren Erkrankungen mit langer Krankheitsphase werden als Nichtübertragbare Krankheiten/Noncommunicable diseases/NCDs bezeichnet. Sie haben oft keinen klar bestimmbaren Ausgangspunkt und entwickeln sich allmählich über eine lange Zeitdauer – das können Monate, Jahre oder gar Jahrzehnte sein. NCDs bedürfen einer Dauertherapie.

      Eine globale Herausforderung

      Die Weltgesundheits-Organisation WHO fasste am 13. April 2021 die wichtigsten Fakten zu Nichtübertragbaren Krankheiten/Noncommunicable diseases/NCDs zusammen:

       „Nichtübertragbare Krankheiten (NCDs) töten jedes Jahr 41 Millionen Menschen, das entspricht 71 % aller Todesfälle weltweit.

       Jedes Jahr sterben mehr als 15 Millionen Menschen im Alter zwischen 30 und 69 Jahren an einer NCD; 85 % dieser „vorzeitigen“ Todesfälle

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