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helfen, damit wir nicht in der Fülle der Informationen untergehen? Daten sind wertlos, wenn wir sie nicht deuten und einordnen können.

Je besser wir bei komplexen Sachverhalten die zugrundeliegenden Muster erfassen, desto besser gelingt es, deren Bedeutung und Gewichtung zu ermessen: Es geht darum, Zusammenhänge zu erkennen, bzw. herzustellen. Nur so werden Daten zu Informationen mit Erkenntnis- und Praxisrelevanz.

      Ein Buch ist immer linear aufgebaut, ein Kapitel folgt dem vorhergehenden. Das sind prinzipiell ungünstige Voraussetzungen, um die hier thematisierten systemischen, vernetzten Strukturen zu erklären. Aus diesem Grund finden Sie stets viele Querverweise zu themenverwandten Kapiteln. Als Leser sind Sie nicht zwingend an die vorgegebene Reihenfolge gebunden: Alles hängt mit allem zusammen.

      Ein Buch für Patienten und Behandler

      Patienten und Behandler* sind üblicherweise zwei Zielgruppen mit unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten. Beim Thema Erworbene Multisystem-Erkrankungen überschneiden sich die Interessen. Viele Patienten eignen sich medizinisches Fachwissen an, weil sie in den etablierten Strukturen keine angemessene Unterstützung bekommen, während Behandler sich für erweiterte Konzepte interessieren, um bei komplexen Erkrankungen besser helfen zu können. Gemeinsam ist beiden Gruppen, dass sie die zahlreichen Einflussfaktoren besser verstehen wollen und nach Lösungen für erfolgreiche Behandlungen suchen.

Wissenschaftskommunikation ist für das Verständnis komplexer Erkrankungen für alle Beteiligten essenziell.

      Das vorliegende Buch stellt wieder, wie der erste Band, einen Versuch dar, beiden Zielgruppen gerecht zu werden. Die ausschließlich positiven Rückmeldungen zu Band 1: ME/CFS erkennen und verstehen – Was wir wissen und was wir nicht wissen über das Chronische Erschöpfungs-Syndrom zeigten, dass zumindest beim ersten Band beide Lesergruppen von diesem Konzept profitierten.

      * Im Interesse der Lesbarkeit wird im vorliegenden Buch stets von Behandlern die Rede sein, ohne die einzelnen Berufsgruppen aufzuführen.

      Mündige Patienten

      Patientenbeteiligung steht leider auch heute noch nicht an zentraler Stelle in den Curricula für werdende Ärzte. Im klinischen Alltag bilden Behandlungsansätze, die auf einer umfassenden Einbeziehung der Patienten basieren, noch die Ausnahme. Durch das Wissen um medizinische Zusammenhänge könn(t)en Patienten befähigt werden, ihre eigene Erkrankung besser zu verstehen und Autonomie (wieder) zu erlangen. Und nicht zuletzt können informierte Patienten und deren Fürsprecher sich im gesundheitspolitischen Diskurs für verbesserte Behandlungsoptionen und Versorgungs-Strukturen einsetzen, die dringend nötig sind.

Die Behandlung Erworbener multisystemischer Komplex-Erkrankungen ist weder erfolgversprechend noch dauerhaft finanzierbar, wenn Behandler und Patienten nicht optimal, sehr umfassend und unabhängig aufgeklärt und informiert werden.

      In der Gesundheitspolitik spielen viele Interessen eine Rolle, und es werden Milliardenbeträge verhandelt. Die gesundheitspolitischen Rahmenstrukturen sind derzeit nicht angemessen, und Veränderungen hin zu einer personalisierten Diagnostik und Medizin für multisystemisch Erkrankte stoßen auf Widerstände. Es wäre blauäugig, davon auszugehen, dass Lösungen, die primär und ausschließlich das Patientenwohl im Blick haben, die Regel seien.

Die Corona-Pandemie könnte sich als medizinischer Wendepunkt herausstellen. Es ist aber auch nicht unwahrscheinlich, dass sich nach der Pandemie die etablierten Strukturen wieder durchsetzen. Diese Sachlage erfordert mehr denn je Patientenbeteiligung und aktive Mitwirkung an Entscheidungsfindungen. Dieses Buch versteht sich als Beitrag zu dieser Debatte. Erst die Zukunft wird zeigen, ob es gelingen wird, menschenwürdige Versorgungs-Strukturen für multisystemisch Erkrankte zu etablieren, die auf rationalen Erkenntnissen beruhen.
Eine verbesserte Forschungs- und damit Versorgungslage wird Patienten mit Erworbenen multisystemischen Komplex-Erkrankungen nicht auf dem Silbertablett gereicht werden. Patienten, deren Angehörige, Sozial- und umweltmedizinische Verbände müssen sich in weit stärkerem Maß verbünden, als dies bisher der Fall ist.EmKE sind noch lange nicht vollständig verstanden, aber Segmente dieser Erkrankungen sind schon nach heutiger Datenlage ursächlich behandelbar. Die Einforderung verbesserter Rahmenbedingungen und die Abschaffung der derzeitigen strukturellen Diskriminierung lassen sich rational begründen.

      Lesen Sie kritisch, machen Sie sich Ihr eigenes Bild, Sibylle Reith

      Serviceseiten

      Sie finden in den jeweiligen Kapiteln und auf den Serviceseiten zahlreiche Verweise auf Informationsquellen im Netz und in Publikationen sowie Hinweise auf Fortbildungen und Tagungen zu den Themen der Systemischen Epimedizin. Unter der Überschrift „Die multisystemische Bibliothek“ finden Sie sorgsam zusammengestellte Titel zu den Themen des vorliegenden Buches. Zudem sind die Kontaktdaten mehrerer Labore gelistet, die eine spezialisierte Diagnostik anbieten. Auch deren Internetseiten bieten Informationen und Fortbildungen für Patienten und Mediziner.

      Post scriptum I

      Bei erworbenen multisystemischen Erkrankungen ist, wie oben berichtet, die „Frauenquote“ leider übererfüllt, Männer sind wesentlich seltener betroffen. Umgekehrt verhält es sich mit der deutschen Sprache, sie ist maskulin dominiert: Während Begriffe wie „Patient“ oder „Therapeut“ Frauen und Mädchen miteinschließen, beziehen sich „Patientin“ oder „Therapeutin“ ausschließlich auf das weibliche Geschlecht.

      Gendern und Nicht-gendern, beides ist unbefriedigend. Auch das Gender-Sternchen (Patient*in), das Binnen-I (PatientIn), oder das Gender-Gap (Patient_in) scheinen mir ungeeignet, diese paradoxe Situation gut zu lösen, zumal dann zuweilen akrobatische Begriffe entstehen.

Es ist ausschließlich der Lesbarkeit geschuldet, dass im vorliegenden Buch nicht durchgängig geschlechtergerecht formuliert wird.

      Post scriptum II

      Auch dieser zweite Band ist wieder so konzipiert, dass die Kapitel unabhängig voneinander gelesen werden können. Das aufwändig gestaltete Layout soll z. B. durch das Hervorheben wichtiger Aussagen eine schnelle Übersicht ermöglichen. Das erlaubt, je nach Interessenlage, Schwerpunkte zu setzen und sich z. B. den biochemischen Details mit unterschiedlicher Intensität zu widmen.

      Post scriptum III

      Die in diesem Buch zum Ausdruck vorgelegten Sachverhalte wurden von der Autorin nach bestem Wissen zusammengefasst. Die sich aus Sicht der Autorin daraus ergebenden Schlussfolgerungen und Bewertungen repräsentieren nicht notwendigerweise die geläufigen Ansichten der Gesundheitspolitik, des derzeitigen linearen Medizinverständnisses und der derzeitigen Sozialversorgung in Bezug auf multisystemisch Erkrankte.

      TEIL 1 GRUNDLAGEN

      TEIL 1 führt in das Thema „Erworbene Multisystem-Erkrankungen“ ein. Sie gehören zu den sogenannten Nichtübertragbaren (Zivilisations-) Erkrankungen, die einen engen Zusammenhang mit der Industrialisierung und mit den dadurch gesamtgesellschaftlich veränderten Lebensbedingungen haben. Diese umweltbedingten Einflüsse sind das Grundrauschen, dem wir alle – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – ausgesetzt sind.

      Durch die Vielzahl und Vielfalt moderner Einflussfaktoren sind wir körperlich und seelisch permanent damit beschäftigt, auf Reize angemessen zu reagieren. Um auf allen Ebenen im Gleichgewicht zu bleiben, ringen wir lebenslang mithilfe komplexer, störungsanfälliger biochemischer Regulationskaskaden um ein dynamisches Gleichgewicht. Dieser volatile Balanceakt wird Homöostase genannt. Vor allem das Gehirn und die Regulations-Systeme reagieren sensitiv auf Einflüsse und werden extrem belastet. Im Grunde ist das Immunsystem „gutmütig“ und einsatzfreudig – das Trommelfeuer an Reizen überfordert jedoch die Kapazitäten. Das führt letztendlich zu einer langen Liste unklarer Ganzkörper-Beschwerden wie Schmerzen, Fatigue und geringer Stresstoleranz – und auch die Seele leidet.

      Diese multisystemischen, heterogenen Beschwerdebilder lassen sich aufgrund der diffusen Symptomatik nicht leicht verstehen und widersetzen sich den üblichen Einordnungen. Hier gelangen wir auf mehreren Ebenen in einen Grauzonen-Bereich zwischen gesund und krank, zwischen Psyche und Soma und auch die Frage nach Ursache und Wirkung, bzw. nach Dosis und Wirkung stellt sich.

      Diese

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